Kommen wir zurück zum Glasperlenspiel, das zuletzt im "Welches Buch lest ihr gerade?" (ab
hier) diskutiert wurde. Ich hatte es nach sehr gefallendem Hauptteil und 2 als etwas redundant empfundenen "Lebensläufen" erstmal längere Zeit zur Seite gelegt, da ich auf nochmal 70 Seiten Meister-Schüler-Romanze keine Lust hatte. Dann stellte sich aber zum Glück heraus, dass der dritte (indische) Lebenslauf selbst sehr viel kürzer ist und die letzten Seiten nur noch Suhrkamp-Essay-Kram waren.
Im ersten ca. Drittel fand ich das Glasperlenspiel insbesondere als Abhandlung und Denkanregung zur Natur der Wissenschafen faszinierend. Die Idee zur Verbindung aller Künste ist natürlich sehr naiv, aber trotzdem hübsch.
Den fragwürdigsten Aspekt der kastalischen Ideologie sehe ich dabei im Verzicht auf Neuschaffung. Ja, man blickt verachtend auf die Feuilletonisten zurück, aber warum die Werke der Prä-Feuielletonisten inhärent wertvoller seien als potentiell Neuzuschaffendes, erschließt sich nicht so recht.
Auch das Konstrukt Kastalien ist natürlich sehr interessant, wobei sich mir bis zuletzt seine Rolle in der Welt nicht ganz erschlossen hat - ist Kastalien die Schweiz? Ist es ein Teil davon? Gibt es andere Kastaliens in der Welt, oder ist es einzigartig? Der "Bundesrat" und ein paar andere Elemente deuten darauf hin, dass es nur ein Teil der Schweiz ist, aber die Geographie ist irgendwie zu groß, und es reisen weltweite Würdenträger an und die Einzigartikeit wird oft betont, obwohl auch mal von "anderen Provinzen" geredet wird. Aber das ist nur nebensächliche Spekulation eines Fantasy-Freundes mit Weltenkonstruktions-Interesse, Hesse selbst wird darauf nicht viel Wert gelegt haben, und für die Werkanalyse ist es völlig egal.
Die Lebensläufe scheinen dann als wichtigste Botschaft des Werkes die Meister-Schüler-Geschichte zu betonen, und das sagte mir nicht mehr sonderlich zu. Dass Hesse auf Yogis stand, gut, geschenkt. Aber das mit dem "Werben" des Jungen um einen Meister (im "Regenmacher") ging völlig an mir vorbei. Und das Verachten der "Nurbegabten", also fachlicher Talente mit Mangel an "geistiger Reinheit", finde ich eine sehr bedenkliche Einstellung, da ist Hesse selbst kastalischer als Kastalien. Es sei denn, man stellt hier tatsächlich den Autor Hesse hinter den Autor (junger) Knecht zurück und nimmt an, dies seien nicht die Meinungen des Echtautors. Dafür wirken sie aber zu leidenschaftlich vorgetragen.
Sehr nett fand ich dagegen die Gedichtsammlung zwischen Hauptteil und Lebensläufen, insbesondere der gekonnte Wechsel zwischen Stilimitationen, mal Sturm und Drang, mal Expressionismus.
Zitat von Maglor:seine Utopie oder Dystopie des Glasperlen-Ordensstaates Kastalien weicht den großen Fragen des 20. Jahrhunderts aus, behandelt Probleme, die den größten Teil der Menschheit nicht im geringsten Betreffen
Andererseits sind das eben große Fragen, die ansonsten vernachlässigt werden, und somit ist ihre ausführliche Behandlung auch schon eine Stellungsnahme. Nicht nur als bewusste Flucht, wie Lykurg anmerkt, sondern auch als versuchte Fokusverschiebung.
Zitat von Ipsissimus:Sein Lebenslauf lief nicht wirklich auf die Stelle als Direktor einer Schule hinaus, er war vielmehr von Anfang an erpicht auf das Glasperlenspiel (sonst wäre er bei der Musik viel besser aufgehoben gewesen), dessen höchsten Rang er schließlich erreichte und transzendierte. Wo sollte er noch hin?
Ganz zu Anfang schien ihm ja noch lange nicht klar zu sein, worauf er aus war, nur, dass er
etwas suchte. Dann war das Glasperlenspiel der Fokus, ja, aber schon in Marienfels schien er darüber hinaus zu sein, und das persönliche "Erwachen" scheint mir Hauptziel geworden zu sein, das Spiel nur noch Mittel dazu. Gegen Ende würde ich dann die Lehre als seine endlich entdeckte wahre Leidenschaft sehen, verstärkt durch das Hintenanstellen der Lebensläufe, die dieses Motiv wieder betonen.
Zitat von Padreic:Ich hatte beim Lesen ein bisschen das Gefühl, dass sich Hesse aus dem weiteren Erzählen der Geschichte rausgemogelt hat. Vielleicht hat er das auch
Ein Mogeln hatte ich beim "ab hier ist alles Legende" auch erwartet, die viel einfachere und saubere Variante dafür wäre aber ein "und er ging ins Gebirge und ward nie mehr gesehen" gewesen, also bezweifle ich, dass er wirklich mogeln wollte.
Sinnlosigkeit und Lächerlichkeit drängten sich mir aber auch stark auf, die Seeszene wirkte auf mich fast wie etwas von Frisch statt von Hesse. Für eine Deutung als Entrückung, Transzendierung, neuer Anfang schien mir der Schreibstil hier unpassend, Knechts Empfinden nicht als bejahend genug dargestellt. Andererseits ist es immer noch ein erhabener, reduktionistischer Bergsee, kein tiefweltliches Sterben. Man muss sich wohl mit der Feststellung gewollter Widersprüchlichkeit und Offenheit zufrieden geben.
Zitat von Maglor:Auf der anderen Seite halte ich es für offensichtlich, dass Josef Knecht als Glasperlenspielmeister sich durchaus dem geschmähten Feuilletonismus annähert
Das erschien mir durchaus anders. Insbesondere durch seine Benediktiner- und Chinesen-Schulungen denke ich, dass Knecht als Positivbeispiel hingestellt wird, wie durchaus dem Feuilletonismus ähnliches Individualitätsbestreben durch Geisteszucht und Reflektion eben nicht dessen Sünden erliegt.
Zitat von Maglor:Zuguterletzt bleibt die Frage der Nachwirkung, inwieweit die Legende um Josef Knecht ihre eigene Wirkung auf Kastalien und den Orden hatte. Nach Aussage des Autors existierte beides noch zu der Zeit, als die Erzählung aufgeschrieben wurde.
Aber die Zeit Knechts scheint dem Schreiber noch viel näher zu sein als die des anderen legendären Meisters, der öfters erwähnt wird (Name schon wieder entfallen), also denke ich, dass die Niederschrift durchaus noch innerhalb der Zeitspanne (2-3 Generationen?) stattfand, für die Knecht noch keinen unmittelbaren Untergang voraus sah, aus der reinen Fortdauer also noch keine Nachwirkung geschlossen werden kann. Da er noch ein heißes Thema ist, darf sie aber durchaus als wahrscheinlich gelten.