Gemeinsam-Lesen-Projekt, die Erste: Stefan Zweigs "Schachnovelle"

Die Faszination des geschriebenen Wortes - Romane, Stories, Gedichte und Dramatisches. Auch mit Platz für Selbstverfasstes.
Seeker
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Mi 20. Nov 2002, 11:44 - Beitrag #1

Gemeinsam-Lesen-Projekt, die Erste: Stefan Zweig, "Die Schachnovelle"

Moin Zusammen!

Ich nehme Fargos Bitte auf und habe dieses neue Thema erstellt.

Ich habe gestern abend die ersten 20 Seiten der Schachnovelle gelesen (Seite 7 bis 27). Ich fand, es liess sich leicht lesen, auch wenn einige Fremdwörter eingeworfen wurden, die ich bis jetzt noch nicht nachgeschlagen habe. (zum Glück war ein großteil aus dem Kontext deutlich herauszulesen, wie ich finde)
Interessant gemacht finde ich den Übergang von der Erzählung zu der Charakterisierung des Schachweltmeisters Mirko Czentovic. Seitenlang wird dieser interessante Mensch beschrieben und man hat ein ziemlich genaues Bild von ihm im Kopf. Danach fädelt Zweig den Erzählfaden gekonnt wieder ein.

Was mich wundert: die eigentliche Hauptfigur tauchte noch nicht einmal erwähnungsmäßig auf ...

Also, auf ein freudiges "Disskutieren"!

Gruss,
Seeker

Wortgaukler
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Mi 20. Nov 2002, 20:08 - Beitrag #2

Die Idee aus den Anekdoten des Freundes eine Überleitung herzustellen, von der Erzählperspektive der gegenwärtigen Situation zur Beschreibung des Czentovic, finde ich an sich sehr schön und fließend.
Allerdings wirkt es etwas gekünstelt und unstimmig, wenn aus den spärlichen Informationen, die der Freund aus den Zeitungen hat, eine detaillierte Darstellung einzelner Geschehnisse im Leben des Czentovic von Kindheit an folgen soll.
In der Ausgangssituation wird Czentovic immer mit seinem Nachnamen erwähnt, wohingegen in der Erzählperpektive von Mirko gesprochen wird, womit Zweig wieder eine gelungene Distanz herstellt.

Bei der der Charakterisierung Mirkos ist mir aufgefallen, dass Zweig sehr daran gelegen ist, immer wieder aufs Neue, die einfache intellektuelle Beschränktheit Czentovics herauszustreichen. In so gut wie jeder der bisher zwanzig Seiten weist er auf dessen einfache Beschaffenheit hin. Und er benutzt dafür eine ausschließlich abfällige Wortwahl (dumpf, schwerfällig, maulfaul). Die Leistungen des Czentovic werden im Gegensatz dazu eher nüchtern und sachlich aufgezählt.
Ich hatte sogar den Eindruck, eine Abneigung das Autors gegenüber Czentovic zu verspüren; gleichzeitig aber eine Faszination über das Verstehen wollen, wie es möglich ist, mit so begrenztem Verstand solche Spitzenleistungen zu vollbringen.
Vielleicht sogar eine Faszination über das eigene Unverständnis oder über die eigene Ablehnung.
Eine Faszination und ein Unverständnis, die in Zweigs Ausführungen über das Schachspiel generell noch einmal zum Tragen kommen, indem einmal dessen Schönheit aber auch dessen Begrenztheit beschreibt.

Ganz anders die Schilderung des McConnor. Dessen äusseres Erscheinungsbild und seine verschiedenen Wesensmerkmale werden ausführlich beschrieben, wodurch Czentovics Wesen noch einmal mehr als aussagelos wirkt.

Fargo
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Mi 20. Nov 2002, 22:51 - Beitrag #3

Liebe Leserunde,

mir ist dieses Zutrauen Zweigs aufgefallen, dass wir wirklich etwas erzählt bekommen wollen. Neuere Autoren scheinen ja oft verzweifelt um unsere Aufmerksamkeit zu kämpfen, scheinen überzeugt, dass sie schnell, am besten im ersten Satz, den Text an uns verkaufen müssen. Dass sie rasch ein Interesse binden müssen, das sich eigentlich auf anders richten will.

Zweig dagegen beginnt ganz ruhig, im Kino würde man sagen, mit einem klassischen establishing shot, der uns erst mal den Schauplatz vorstellt. Wobei er dann doch raffinierten Spannungsaufbau betreibt - schön, wie im ersten Satz "der letzten Stunde"am Ende steht, ein Glockenschlag, der uns darauf aufmerksam macht, dass Umbruch und Änderung bevorstehen. Und wie er dann die täuschend behäbige Formulierung "die übliche Geschäftigkeit" im Folgenden doch noch mit aufgeregter Wuseligkeit und Abfahrtshektik ausmalt, ist auch ein netter Kniff.

Ich finde, anders als Wortgaukler, keinen Unterschied in der Beschreibung zwischen Czentovic und McConnor. Der Erzähler gibt beiden eine unangenehme Grobschlächtigkeit mit, eine sture Egozentrik, einen eklatanten Mangel an Charme.

Die breite Stirn des Schachmeisters - des Kerls, der in der Versenkung, in der Gedankenkonzentration auf etwas Abstraktes, seine Rolle in der Welt findet - spiegelt sich in den breiten Schultern des Ingenieurs, - des Typen, der der realen Außenwelt seinen Willen mit physischer Gewalt aufzwingt.

In der polemisch-pragmatischen Beschreibung – „das maulfaule, dumpfe, breitstirnige Kind“ – zeigt Zweig das meiste Sprachgefühl. Es geht ihm sichtlich darum, das freundliche Klischee zu vertreiben, Talent habe immer etwas Umfassendes, die schöne Gabe veredle den ganzen Menschen, der scheinbar Stumpfe sei nur ein Missverstandener, aus dem gleich ein anderer hervorblühen wird. Er hämmert uns ein, dass dieser Czentovic wirklich ein Tropf ist, mit Ausnahme eben dieser einen Sonderbegabung.

Das partielle Genie, der Kerl mit einer faszinierend ungewöhnlichen Gabe, der aber sonst hinter allen anderen zurückbleibt: das ist wohl auch ein Zug Hitlers, den Zweig hier beschreibt. Der war ja auch ein sozial und emotional verwahrloster Stammtischdepp, raffgierig, stur und wahnideebesessen, aber mit einer enormen Gabe versehen, Massen und Individuen zu hypnotisieren, ein Weltmeister der Verführung.

Heute erschließt sich der Text wieder ganz anders. Czentovic und McConnor erscheinen uns eher als die selbstbewussten Unternehmertypen, die von einem Sektor der Welt was verstehen, von einem begrenzten Ausschnitt – dem Kohlescheffeln – des Daseins was verstehen, aber nun überzeugt sind, sie seien die Krone der Schöpfung. Weil sie in ihrer stumfpsinnigen Unbildung von Herz und Intellekt gar nicht zur Kenntnis nehmen, dass es noch anderes gibt. Das Schachspiel könnte das Immobilengeschäft sein, die Börsenzockerei oder sonst irgendein Teil des Wirtschaftsgetriebes. Oder es könnte eine Sportdisziplin sein – Spitzenfussballer, Tennisstars, Rennfahrer leiden genau an dieser Art Blickverengung aufs eigene Spezialtalent.

So, das waren mal ein paar der Sachen, die mir bei den ersten Seiten durch den Kopf gegangen sind.

Ein jetzt leider etwas tastaturmüder Fargo

Traitor
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Do 21. Nov 2002, 17:12 - Beitrag #4

Der Rückblick auf Czentovics Vorleben hat mich ziemlich überrascht, in so einem dünnen Büchlein hätte ich eine direkt einsetzende Handlung erwartet. Aber gut gemacht ist es und sorgt für Spannung, wie immer, wenn Rückblicke verwendet werden - man will wissen, wie diese Person sich in der Gegenwart verhält. Dass er bei der Rückkehr der Handlung dorthin dann erstmal eine Art Phantom ist, verstärkt dies noch.
Die Charakterisierung des Czentovic finde ich zu klar. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es in der realen Welt einen so krassen Spezialisierungsfall gibt - das Phänomen ist bekannt, aber bei weitem nicht in dieser Stärke. Zugunsten der Dramaturgie ist dies aber akzeptabel.

syco23
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Fr 22. Nov 2002, 13:50 - Beitrag #5

Ich kann hier leider nicht besonders viel mitreden, weil ich das Buch schon vor einiger Zeit während einem Flug gelesen habe und ich mir nicht allzuviel gemerkt habe.

Aber schon allein die Tatsache, dass eine kleine Geschichte mit so einem unscheinbaren Inhalt - v.a. hat mich Schach zu diesem Zeitpunkt absolut nicht interessiert - so sehr fesseln kann, zeigt, dass diese Erzählung ein kleines Meisterwerk ist - als das es ja auch in der Welt der Litarturfachleute gesehen wird.

Soweit mal mein Senf zum Topic.

Gruß,
Syco

Seeker
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Fr 22. Nov 2002, 14:46 - Beitrag #6

Original geschrieben von syco23
Aber schon allein die Tatsache, dass eine kleine Geschichte mit so einem unscheinbaren Inhalt - v.a. hat mich Schach zu diesem Zeitpunkt absolut nicht interessiert - so sehr fesseln kann, zeigt, dass diese Erzählung ein kleines Meisterwerk ist - als das es ja auch in der Welt der Litarturfachleute gesehen wird.


Unscheinbar würde ich den Inhalt dieses Buches nicht nennen! "Krass" triffts eher ... um es "modern" auszudrücken!
Schön, dass Du zu uns gefunden hast, Syco23

Ich hab gestern Seite 27-47 gelesen. Die Schachpartie zwischen Meister und Passagieren. Einfach, aber fesselnd. Und ich gebe Fargo Recht. McConnor wird nicht besser, wenn auch weniger ausschweifend, dargestellt, als Czentovic.
Dr. B. (der unscheinbare Retter in der Not) ist, wie ich finde ein sehr interessanter Charakter.
Die Arroganz, die Czentovic an den Tag legt, ist gut dargestellt. Aber auf der anderen Seite auch wieder nachvollziehbar. Ich fühle mich hin- und hergerissen!
Czentovics Innehalten und Grübeln ob des plötzlichen Widerstandes kam auch gut rüber.

Gruss,
Seeker

Nathan - the wise
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Sa 23. Nov 2002, 16:19 - Beitrag #7

ich habe die Schachnovelle auch schon vor längerer Zeit gelesen, daher weiß ich auch nimmer so viele Details... aber ich finde den Erzählstil recht einfach und klar, aber zugleich fesselnd. Der Inhalt ist schon ziemlich.... wie soll man das bezeichnen... ka...
jedenfalls zeigt er deutlich auch zeitliche Bezüge und man kann sehen wie sehr einen ein Thema, wenn es einen fesselt, am Leben halten kann...

ich glaube ich sollte das Ding doch nochmal lesen... ;)
aber ich quäle mich gerade durch Effi Briest...

Traitor
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Sa 23. Nov 2002, 16:26 - Beitrag #8

So, ebenfalls bis Seite 47. Ich kann mich Seeker genau anschließen, das Buch eignet sich wohl nicht so sehr zum Diskutieren, auch wenn es sehr interessant ist...
Was mir auffällt, sind die vielen englischen Begriffe ("Smoking Room", "Match" etc). Eigentlich ungewöhnlich, dass sowas in einem Buch aus den Vierzigern vorkommt.

Fargo
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Sa 23. Nov 2002, 17:43 - Beitrag #9

@Traitor

Was mir auffällt, sind die vielen englischen Begriffe ("Smoking Room", "Match" etc).


Da sieht man mal, wie der weltoffene, moderne Teil des Bürgertums auch damals schon seine Sprache mit Leihbegriffen aus jenen Sphären, in denen die Sprecher sich selbst gerne bewegten, aufpeppte (um mal ein nicht ganz teutonenstramm urdeutsches Wort zu benutzen).

Vielleicht setzt Zweig dies englischen Vokabeln aber auch sehr bewusst gehäuft ein, um das Kosmopolitische seiner Erzählwelt noch deutlicher gegen den (Sprach-)Reinheitswahn der Nazis abzugrenzen.

Die Charakterisierung des Czentovic finde ich zu klar. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es in der realen Welt einen so krassen Spezialisierungsfall gibt -



Traitor, ich habe vor vielen Jahren mal eine Fernsehreportage über ein geistig schwer gestörtes Kind gesehen. Der Junge war überfordert, Lesen und Schreiben zu lernen, er konnte kaum mit den eigenen Eltern kommunizieren, er versagte bei den simpelsten Intelligenztests. Aber er hatte eine ganz besondere musikalische Begabung: er war nicht kreativ schöpferisch, sondern tonbandgleich aufnahme- und wiedergabefähig.

Das Klavierspielen hatte er sich selbst beigebracht, im Herumprobieren am Flügel der Eltern. Man konnte ihm ziemlich komplexe klassische Stücke vorspielen, und er setzte
sich sofort hin und spielte die weitgehend Note für Note nach. Das war nicht bewundernswert, das war absolut gespenstisch. Seitdem halte ich jede Sonderbegabung für möglich, jede Mischung aus Genie und Stumpfsinn. Czentovic ist dagegen noch ein harmloser Fall.



@Seeker

Die Arroganz, die Czentovic an den Tag legt, ist gut dargestellt. Aber auf der anderen Seite auch wieder nachvollziehbar. Ich fühle mich hin- und hergerissen!


Das finde ich auch ziemlich widersprüchlich und faszinierend. Dass dieser Czentovic alles andere als ein sympathischer Kerl ist. Dass der Erzähler ihn nicht mag, Zweig wahrscheinlich auch nicht. Dass man, s.o., bei seiner grotesken Sonderbegabung eventuell sogar an Hitler denken kann.

Aber dass er dann doch nicht als Widerling karikiert wird. Czentovic wirkt ja auch ziemlich einsam und verloren. Er handelt ein wenig in Notwehr. Wie will und soll er denn anders sein als so: er kann und weiß ja nichts anderes. Er ist ein sozialer, emotionaler, intellektueller Krüppel. Wenn er andere an sich heran lässt, dann kann das nur eine Blamage geben - schon normale Konversation, leichter Smalltalk, wie Zweigs Erzähler das durchaus nennen könnte, sind zu hoch für ihn. Arroganz ist nicht der Ursprung seiner barschen Art. Arroganz kommt erst hinterher dazu, als Verkleidung, damit der Ursprung dieser Brüskheit, das Verbergenwollen der eigenen Nichtigkeit, selbst wieder verborgen werden kann.

Und noch mal @Traitor

Ich kann mich Seeker genau anschließen, das Buch eignet sich wohl nicht so sehr zum Diskutieren, auch wenn es sehr interessant ist...


Es gibt keine völlig gegensätzlichen Positionen, das ist richtig. Aber unterschiedliche Gewichtungen, und die sind ja auch sehr interessant. Es gibt zwar Bücher, die ihre Leserschaften in unversöhnliche Lager spalten – aber ich finde das auch ganz angenehm, wenn ein Buch bei unterschiedlichen Menschen auf ähnliche Reaktionen trifft. Vielleicht ändert sich das auch noch im Fortgang der Lektüre. Weitergelesen habe ich schon – aber das Posting ist schon lang genug, ich mache jetzt mal Pause.

Ein wie immer sehr tippfauler Fargo

Tar-Minyatur
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Sa 23. Nov 2002, 17:48 - Beitrag #10

Heydiho!

Wir mussten vor längerer Zeit die Schachnovelle mal für die Schule lesen. Damals fand ich das Buch eigentlich ziemlich kewl, weil es endlich mal etwas war, womit ich was anfangen konnte. ;o)

(Zum Vergleich: Lese momentan "Irrungen, Wirrungen" von Theodor Fontane und werde daraus absolut nicht schlau, bin froh, dass ich es durch habe und somit das Elend langsam ein Ende nimmt *G*)

Traitor
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Sa 23. Nov 2002, 18:25 - Beitrag #11

Das mit den Fremdwörtern klingt pausibel, Fargo.
Zur Spezialbegabung: solche reine musikalische Reproduktio ist aber eben nur Reproduktion, das kann ich mir, wenn auch schwerlich, gerade noch vorstellen. Aber Schachspielen ist ja eine absolute Intelligenzleistung. Emotionale "Verkrüppelung" bei hoher Intelligenz ist bekannt, aber auch in anderen Gebieten niedrige Intelligenz...

Padreic
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Sa 23. Nov 2002, 19:17 - Beitrag #12

Ich halte in diesem Falle die Spezialbegabung auch nicht für realistisch. Es gibt auch geistig behinderte Leute, die einem in einem Augenblick den Wochentag jedes beliebigen Datums sagen können oder ähnliches. Aber bei Schach ist das etwas anderes. Schach erfordert Merkfähigkeit, Logik, Vorstellungskraft und Kreativität. Natürlich kann es auch hier Spezialbegabungen geben, nicht jeder gute Schachspieler ist auch sonst intelligent, doch den Gegensatz von Weltmeister und großer Dummheit in den sonstigen Bereichen sehe ich als zu groß an.
Aber darauf kommt es ja auch gar nicht so an. Ich sehe Czentovics Fall eher als eine Art Experiment Zweigs an. Was passiert, wenn es eine solche Person gibt? Das Experiment wird noch durch die anderen gegensätzlichen Personen verschärft.

Und wenn ich mich recht erinnere, wurde Czentovic auch als recht geldgierig beschrieben. Das geht ja schon ein wenig in Richtung Widerling.

Padreic

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Sa 23. Nov 2002, 19:19 - Beitrag #13

Ja, er spielt nur gegen Honorar, versucht immer, den größtmöglichen Profit aus allem herauszuholen. Aber auch das wird eher als Folge seiner Beschränktheit dargestellt - er sieht nur das Materielle am Schach, die geistige Faszination entgeht ihm völlig.

Padreic
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Sa 23. Nov 2002, 19:54 - Beitrag #14

Natürlich kann man jede Widerlichkeit auf irgendeine Beschränktheit zurückführen, bei jedem Menschen.
Und ob ihm das Schachspielen wirklich keinen Spaß macht, ist die Frage. Meinst du, er hat damals nur angefangen, um nachher damit Geld verdienen zu können? Ich weiß nicht, ob das nicht etwas zu weit hergeholt ist. Vielleicht hat er sich auch später durch sein aus jedem den materiellen Vorteil Rausschlagen-Wollen (was wieder ein Zeichen von Beschränktheit ist) den Spaß am Spiel kaputt gemacht. Vielleicht hat er ihn immer noch, spielt aber nicht zum Spaß, weil er sich dann vielleicht auf eine Unterhaltung einlasen müsste. Wer weiß?

Padreic

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Mo 25. Nov 2002, 22:27 - Beitrag #15

@Traitor

Zur Spezialbegabung: solche reine musikalische Reproduktion ist aber eben nur Reproduktion, das kann ich mir, wenn auch schwerlich, gerade noch vorstellen. Aber Schachspielen ist ja eine absolute Intelligenzleistung.


und @Padreic

Schach erfordert Merkfähigkeit, Logik, Vorstellungskraft und Kreativität.


Auf's erste Hören ein Musikstück zu memorieren und dann nachzuspielen, hat ganz gewiss mit Merkfähigkeit und Logik zu tun. Die Umsetzung des Klangs in eine innere Notenshrift ist schon atemberaubend genug, aber die muss umgehend wieder in Fingersätze und Spieltechnik überführt werden - Vorstellungskraft kommt auch da ins Spiel.

Eigene Kreativität, das Schaffen von etwas Neuem, ist das vielleicht noch nicht. Aber ist das normale Schachspielen kreativ? Für jemanden, der sich die Taktiken und Strategien gerade selbst erarbeitet, mag ich Kreativität gern gelten lassen. Aber kann man das Ganze nicht auch anders sehen?

Nachdem die Regeln des Schach einmal festgelegt sind (der ursprüngliche kreative Schöpfungsakt dieses Spiels), ist das Spiel eigentlich abgeschlossen: dadurch sind alle möglichen Züge und Spielfolgen bereits definiert. Der Akt des Spiels ist weniger einer der Erfindung als der Enthüllung: wer sich am meisten dieser Züge vorstellen und merken kann, wer im Kopf am saubersten die Maurerarbeit durchführen kann, das eine Was-wäre-wenn-Modell sauber vom anderen zu trennen, ist theoretisch im Vorteil.

Theoretisch deshalb, weil ja nicht nur die Figuren und Regeln eine Rolle spielen, sondern auch die Psyche des Gegners. Gut spielt, wer die Wirkung eines Zugs nicht auf die Konstellation auf dem Brett, sondern auf die Verfassung des Gegenübers richtig einzuschätzen weiß. Das Gestalterische und Kreative am Schach ist nicht das Austüfteln neuer Kombinationen, sondern die Suche nach der optimalen Zerrüttung des Spielpartners (=Feindes). Darum empfinden wir ja auch Spiele gegen einen Schachcomputer als etwas ganz und gar Fremdes und Eigenes, als etwas deutlich anderes als 'richtiges' Schach.

Interessanterweise hebt der Künstler Zweig hier auch gar nicht auf das Kreative am Schach ab - das hätte er ja leicht als eine der durchgeistigten Gegenwelten zur Nazibarbarei gestalten können. Nein, er zeigt uns das Kämpferische daran. Czentovic mag ein Schachroboter sein, ein extrem einseitig begabter Kerl ohne Sinn für die Ästhetik des Spiels, einfach ein leerer Kopf mit viel Platz für Spielzüge. Aber auch seine Gegenseite glänzt ja nicht durch Feinsinn. Es geht ums Gewinnenwollen, es geht darum, dem anderen etwas nicht zu gönnen, es geht um soziale Revierabgrenzung - nicht um die Teilnahme an einem schöpferischen Akt.

Dieses Prosaische der ersten Partienfolge auf dem Ozeanriesen finde ich sehr interessant - da wird diese alte Zivilgesellschaft, die buchstäblich den Nazis davonfährt, gekonnt ins Zwielicht gesetzt.

Will eigentlich noch jemand was zu dieser Partie an Bord sagen? Oder sollen wir zur Erinnerung an die Gestapo-Haft voranschreiten?

Fargo

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Mo 25. Nov 2002, 22:49 - Beitrag #16

@Fargo
Merkfähigkeit erfodert diese Begabung sicherlich, Logik weniger. Man braucht ein absolutes Gehör und eine gewisse Fähigkeit, die Töne aufs Klavier zu übertragen. Ich sehe da wenig, das mit Logik zu tun hat.

Kein Mensch kann alle Möglichkeiten des Schaches durchprobieren, noch weniger als eine Maschine. Da kommt es auf Kreativität und Intuition an, die richtigen Züge, die man dann durchrechnen kann, zu sehen und Stellungen zu sehen. Auch ein Computer braucht so etwas wie Intuition, die er aber auf Grund von Statistik und der Erfahrung von Menschen simulieren kann.
Deine Argumentation mit dem Vorgegebensein kann man aber auch auf Dichtung übertragen. Mit den Wörtern und der Grammatik ist alles vorgegeben. Man muss also die Wörter nur noch nach diesen grammatischen Spielregeln zusammensetzen und dann das Produkt bewerten. Sehr ähnlich, wie beim Schach, was?

Bei Czentovic ist wahrscheinlich so ziemlich das Minimum der menschlichen Kreativität beim Schachspielen gegeben, wahrscheinlich ist seine Stärke das stumpsinnige Variantenrechnen, doch auch er wird nicht ohne Kreativität auskommen, wenn er nicht eine Rechenstärke hat, die Computern gleichkommt.
Der besondere Fall in dieser Partie ist, dass der Gegner Schach eigentlich gar nicht mag. Er hätte das Schachbuch damals fast aus dem Fenster geworfen. Das Schachspielen ist nur für seine Psyche, damals zur Bewältigung von quälender Langeweile, heute, um seinen damaligen Geisteszustand besser begreifen zu können. Er sieht deshalb Schach nicht in seiner Schönheit. Nur Czentovic geht es wirklich ums Gewinnen, seinem Gegner ist das Schachspielen eigentlich nur Mittel zum Zweck.

Padreic

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Mo 25. Nov 2002, 23:47 - Beitrag #17

@Padreic

Merkfähigkeit erfordert diese Begabung sicherlich, Logik weniger. Man braucht ein absolutes Gehör und eine gewisse Fähigkeit, die Töne aufs Klavier zu übertragen. Ich sehe da wenig, das mit Logik zu tun hat.


Wenn Du Dir den betreffenden Menschen als reine Aufnahmemaschine vorstellst, als organisches Tonband, dann kommt er eventuell ohne Logik aus. Wenn Du aber glaubst, dass da nicht einfach ein Abspeichern stattfindet, sondern eine Analyse und Verknüpfung des Gehörten, dann ist da ein logischer Prozess im Gange: es ist viel leichter, eine Musik zu behalten, die man begriffen hat, als eine, deren Töne man sich als Einzelzeichen merken muss, ohne Einsicht in ihren Zusammenhang.

Deine Argumentation mit dem Vorgegebensein kann man aber auch auf Dichtung übertragen.


Manche Menschen tun das auch. Sie argumentieren, dass mit dem Enstehen der Worte auch alle ihre möglichen Kombinationen in die Welt treten. Es gibt als Illustration für die Wahrscheinlichkeitstheorie das verwegene Beispiel, wenn man eine endlose Menge Affen endlos lange auf endlos vielen Schreibmaschinen herumtippen lasse, komme 'am Ende' (das es ja nicht gibt) neben jeder Menge Müll auch jedes große Werk der Weltliteratur aufs Komma genau heraus.

Trotzdem scheint mir der kreative Prozess beim Schreiben ein genz anderer als beim Schachspielen. Es gibt zwei Dinge zu bedenken beim Schach: Wirkung auf die Figuren und Wirkung auf den Gegner. Bei der Wirkung auf die Figuren geht es nicht um sehr viele verschiedene Wirkungsebenen, es gibt keine vertikale Denkachse, nur um die Wirkung unter den Regeln des Schach. Die Komplexität ergibt sich aus der Kombinationssteigerung mit jedem weiteren Zug. Das Denken geht in die Breite. Es gibt eine horizontale Achse. Immer dasselbe Problem, nur aufs Schwierigste mit sich selbst multipliziert.

Bei Literatur kommt aber zu den Regeln der Sprachlogik, zur Frage des Satzbaus, (meist) noch eine vielfach gestaffelte Sinnfrage hinzu. Die Wörter und Sätze sind nie eindeutig, ihnen haften immer mehrere Bedeutungen an, da hat es zum Beispiel sexuelle oder politische Untertöne. und diese Bedeutungen wechseln mit dem Leser. Die Auswahl der Worte erfolgt nach sehr viel mehr Kriterien als die Zugauswahl beim Schach.

Ein normaler Autor hat (bewusst) oft nur ein Auswahlkriterium - wie bringt der nächste Satz meine Geschichte voran. Ein guter Autor arbeitet mit mehreren Kriterien. Bei einem Genie greifen die verschiedenen Bedeutungsebenen auch noch eng verzahnt ineinander. Aber wie gesagt, man kann auch die größten literarischen Werke als körperliche Nachgeburt einer längst vorhandenen Idee sehen.

Die endlos tippenden Affen müssten irgendwann auch dieses Forum hinbekommen, Posting um Posting. Wer weiß, vielleicht gibt es uns gar nicht. Vielleicht werden wir gerade von einer Meerkatze oder einem Schimpansen getippt?

Fiktion Fargo

Traitor
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Di 26. Nov 2002, 15:19 - Beitrag #18

Dass man für Schach auch Logik und eine gewisse Kreativität braucht, streitest du ja anscheinend nicht ab. Und selbst wenn man die Kreativität weglässt und nur die Logik sieht, müsste die doch auch auf anderen Gebieten zum Tragen kommen. Ein Mensch ist nicht wie ein Computer fest programmiert, Czentovic hat ja kein "Schachorgan" im Kopf. Diese Logik müsste also auch auf anderen, verwandten Bereichen einigermaßen zum Tragen kommen, was sie anscheinend absolut nicht tut.
In der Story können wir zu B.'s Haft übergehen, denke ich. Ach ja: Was bezweckt Zweig wohl mit der Abkürzung des Namens?
Die Haft ist literarisch extrem eindringlich dargestellt. Man bekommt richtig ein Gefühl für B.'s Verzweiflung, und dann für seine Euphorie über das Buch.

Fargo
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Di 26. Nov 2002, 18:23 - Beitrag #19

Logik braucht man ganz gewiss, Traitor. Kreativität dagegen ist ein sehr dehnbarer und relativer Begriff.

Kreativ sein, das heißt, simpel definiert, schöpferisch sein, etwas Neues schaffen. Nun kann man aber jede Menge klassischer Schachpartien und Standardzugfolgen auswendig lernen und damit ziemlich weit kommen.

Ein anderer Spieler kennt dagegen vielleicht nicht viel mehr als die Grundregeln und muss sich jeden möglichen nächsten Zug und dessen potentielle Folgen erst ergrübeln. Dieser anfangs von einem Formelanwender vermutlich leicht zu besiegende Gegner spielt gewiss 'kreativer' als sein Gegenüber - er denkt sich ja alles frisch aus.

Die Frage, siehe oben, ist die, ob er auf der Ebene der Spielzüge wirklich schöpferisch tätig ist. Oder ob er auf die gleiche Weise arbeitsam ist wie jemand, der eine fertige, wenn auch hochkomplexe mathematische Formel mit immer neuen Werten füllt und wieder frisch durchrechnet.

Czentovic scheint mir solch ein Rechenmaschinchen zu sein. Dein Einwand, sein spezielles Logiktalent müsste auch auf anderen Gebieten zum Tragen kommen, lässt sich vielleicht mit dem Hinweis auf das Krankheitsbild des Autismus zerstreuen. Autistische Menschen können alle möglichen Talente und Begabungen haben. Aber sie sind, vermutet man heute, in so hohem Maße ordnungsfixiert, dass ihnen die normale soziale Interaktion, die sie bereits als strukturloses Chaos empfinden, unmöglich wird.

Ich kann mir (auch wenn Zweig von dieser Krankheit gar nichts gewusst haben wird) Czentovic sehr gut als einen Grenzfall von Autismus vorstellen. Auf das streng geregelte Quadrat des Schachbretts gerichtet, funktioniert sein Geist: auf andere Bereiche des Lebens angewandt, beginnt er zu blockieren. Normales Lernen - auch das von Umgangsformen - ist ihm nicht mehr möglich.

Ein Gedanke übrigens, auf den ich gar nicht gekommen wäre, wenn Du mir nicht widersprochen hättest. Gemeinsames Lesen finde ich wirklich eine sehr nützliche Sache.

Was die Namensabkürzung angeht: die soll wohl ein Gefühl des Halbdokumentarischen erzeugen, als erzähle Zweig hier von einem authentischen Fall, dessen Personen er unkenntlich machen muss.

Wie bewusst er diesen Trick anwendet, ist schwer zu sagen. Denn das ist auch eine deutsche literarische Tradition: denk mal an Kleists Marquise von O.

Mag sein, dass das damals schon dieses prickelnde oder gruslige Gefühl von Wirklichkeitsnähe erzeugen sollte. Eventuell war's aber auch umgekehrt. Als die 'moderne' deutsche Literatur im 18. Jahrhundert entstand, war Deutschland ja ein Klumpatsch tyrannischer, rückständiger Kleinstaaten, deren Fürsten, Beamte und Polizeispitzel gerne Gedankenkontrolle betrieben hätten und missliebige Leute manchmal ihrer bloßen Ansichten wegen als lästige Aufrührer wegsperren ließen. In dieser Zeit mag es Literaten als reale Gefahr erschienen sein, dass irgendwelche Poilzei- und Zensuridioten erfundene Namen und Handlungen mit realen verwechseln könnten. Also anonymisierten sie ihre Figuren lieber gleich, bevor irgendein armes Schwein ins Zwielicht geriet.

Was die Verzweiflung des Inhaftierten angeht: ja, die finde ich auch sehr glaubhaft. Konkrete Bilder sind sehr viel eindringlicher als Gefühlsbeteuerungen. Die Momente, wenn er das Buch aus der Manteltasche stiehlt und wenn er es dann später erst mal nicht öffnet, um die Vorfreude genießen zu können, bleiben haften.

Interessant finde ich auch, dass diese ganze Rückblende in einer extremen Kunstsprache geschrieben ist. Würde einer so erzählen? Auch wenn man berücksichtigt, dass die gebildeten Stände damals eine höhere Sprachgewandtheit besaßen als die Mittelklassewagenkäufer von heute, würde ich 'nein' sagen. Diesen Dialog könnte man von einem Schauspieler so nicht sprechen lassen. Aber diese leicht erhabene Sprache war eben lange noch ein Ideal in der deutschen Literatur: die amerikanische Literatur bemühte sich um die Zeit schon viel stärker, den realen Tonfall von Menschen wiederzugeben.

Aber Zweig zeigt ja, dass es klappen kann, wenn man's richtig macht. Das hier ist eine mustergültige suspension of disbelief.

Fargo

Thod
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Di 26. Nov 2002, 20:14 - Beitrag #20

Ich kann mir (auch wenn Zweig von dieser Krankheit gar nichts gewusst haben wird) Czentovic sehr gut als einen Grenzfall von Autismus vorstellen. Auf das streng geregelte Quadrat des Schachbretts gerichtet, funktioniert sein Geist: auf andere Bereiche des Lebens angewandt, beginnt er zu blockieren. Normales Lernen - auch das von Umgangsformen - ist ihm nicht mehr möglich.

Warum sollte Zweig den Authismus nicht kennen? Nebenbei: Er hat im Hause seines Pfarrers alle möglichen Aufgaben zur Zufriedenheit gelöst.

Gruss,
Thod

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