@Traitor
Was mir auffällt, sind die vielen englischen Begriffe ("Smoking Room", "Match" etc).
Da sieht man mal, wie der weltoffene, moderne Teil des Bürgertums auch damals schon seine Sprache mit Leihbegriffen aus jenen Sphären, in denen die Sprecher sich selbst gerne bewegten, aufpeppte (um mal ein nicht ganz teutonenstramm urdeutsches Wort zu benutzen).
Vielleicht setzt Zweig dies englischen Vokabeln aber auch sehr bewusst gehäuft ein, um das Kosmopolitische seiner Erzählwelt noch deutlicher gegen den (Sprach-)Reinheitswahn der Nazis abzugrenzen.
Die Charakterisierung des Czentovic finde ich zu klar. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es in der realen Welt einen so krassen Spezialisierungsfall gibt -
Traitor, ich habe vor vielen Jahren mal eine Fernsehreportage über ein geistig schwer gestörtes Kind gesehen. Der Junge war überfordert, Lesen und Schreiben zu lernen, er konnte kaum mit den eigenen Eltern kommunizieren, er versagte bei den simpelsten Intelligenztests. Aber er hatte eine ganz besondere musikalische Begabung: er war nicht kreativ schöpferisch, sondern tonbandgleich aufnahme- und wiedergabefähig.
Das Klavierspielen hatte er sich selbst beigebracht, im Herumprobieren am Flügel der Eltern. Man konnte ihm ziemlich komplexe klassische Stücke vorspielen, und er setzte
sich sofort hin und spielte die weitgehend Note für Note nach. Das war nicht bewundernswert, das war absolut gespenstisch. Seitdem halte ich jede Sonderbegabung für möglich, jede Mischung aus Genie und Stumpfsinn. Czentovic ist dagegen noch ein harmloser Fall.
@Seeker
Die Arroganz, die Czentovic an den Tag legt, ist gut dargestellt. Aber auf der anderen Seite auch wieder nachvollziehbar. Ich fühle mich hin- und hergerissen!
Das finde ich auch ziemlich widersprüchlich und faszinierend. Dass dieser Czentovic alles andere als ein sympathischer Kerl ist. Dass der Erzähler ihn nicht mag, Zweig wahrscheinlich auch nicht. Dass man, s.o., bei seiner grotesken Sonderbegabung eventuell sogar an Hitler denken kann.
Aber dass er dann doch nicht als Widerling karikiert wird. Czentovic wirkt ja auch ziemlich einsam und verloren. Er handelt ein wenig in Notwehr. Wie will und soll er denn anders sein als so: er kann und weiß ja
nichts anderes. Er ist ein sozialer, emotionaler, intellektueller Krüppel. Wenn er andere an sich heran lässt, dann kann das nur eine Blamage geben - schon normale Konversation, leichter Smalltalk, wie Zweigs Erzähler das durchaus nennen könnte, sind zu hoch für ihn. Arroganz ist nicht der Ursprung seiner barschen Art. Arroganz kommt erst hinterher dazu, als Verkleidung, damit der Ursprung dieser Brüskheit, das Verbergenwollen der eigenen Nichtigkeit, selbst wieder verborgen werden kann.
Und noch mal @Traitor
Ich kann mich Seeker genau anschließen, das Buch eignet sich wohl nicht so sehr zum Diskutieren, auch wenn es sehr interessant ist...
Es gibt keine völlig gegensätzlichen Positionen, das ist richtig. Aber unterschiedliche Gewichtungen, und die sind ja auch sehr interessant. Es gibt zwar Bücher, die ihre Leserschaften in unversöhnliche Lager spalten – aber ich finde das auch ganz angenehm, wenn ein Buch bei unterschiedlichen Menschen auf ähnliche Reaktionen trifft. Vielleicht ändert sich das auch noch im Fortgang der Lektüre. Weitergelesen habe ich schon – aber das Posting ist schon lang genug, ich mache jetzt mal Pause.
Ein wie immer sehr tippfauler Fargo