Mit Bach nach Portugal

Der Kaktus auf dem Fensterbrett und der bedrohte Regenwald, Haustiere, die uns zu Kühlschrankbutlern erziehen, Wildtiere, die ihre Lebensräume verlieren, Reisen in die Einsamkeit und Erkundungen von Städten.
Lykurg
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Mi 21. Mär 2007, 17:13 - Beitrag #1

Mit Bach nach Portugal

Letzte Woche begab ich mich im Rahmen einer Chorreise mit gut 30 gleichgesinnten ungefähr in meinem Alter (im Schnitt leicht darüber befindlichen) sympathischen Menschen ins sonnige Nordportugal, um dort eine besondere Art der Mission durchzuführen: Wir hatten die Gelegenheit, in der altehrwürdigen Kathedrale von Braga J.S. Bachs Johannespassion aufzuführen, vermutlich die Erstaufführung in Stadt und Region, jedenfalls aber ein besonderes Erlebnis für alle Beteiligten. Die Reise kam zustande dank des unablässigen Engagements einer portugiesischstämmigen Choristinnenmutter, deren Cousin zufällig Erzbischof des Städtchens war und dementsprechend die Möglichkeit hatte, das Konzert gegen alle Schwierigkeiten durchzusetzen. Dazu gehörte auch die absolute Seltenheit eines Konzerts in dortigen Kirchen (mW seit geraumer Zeit, in der Kathedrale etwa seit 30 Jahren nur noch im Gottesdienst gebräuchlich, wofür sich die Johannespassion qua Länge nicht eignet), finanzielle Vorleistungen (Orchester, Solisten, Unterbringung, Verköstigung, Führungen...) und der Rahmen, der einer solchen Anstrengung überhaupt den Sinn gab; in diesem Fall ein kleines Festival geistlicher Musik, dessen Höhepunkt wir bilden durften.

Eine gewisse Dauerspannung auf unserer Seite blieb nicht aus, angefangen mit der Abreise am hiesigen Flughafen, dessen technische Gerätschaften offensichtlich für Gruppenreisen nicht ausgelegt waren - die Tickets ratterten weitaus langsamer hindurch, als wenn alle einzeln gebucht hätten, so daß trotz großzügigster Planung die Abflugszeit knapp wurde; und zu allem Überfluß stürzte der Computer nach der Hälfte der Tickets äußerst mysteriös ab ("no signal"), so daß wir auch noch den Nachbarschalter verstopften. Zum Glück kann man sich ja bei Lufthansa auf großzügige Verspätungen verlassen :rolleyes: - anders als bei sämtlichen Billigfliegern aber nicht darauf, daß man, wenn man darum bittet (was ich wegen meiner Beinlänge regelmäßig tue), Notausgangsplätze auch tatsächlich bekommt - argh! Die Weiterreise verlief unspektakulär - bis auf den ultramodernen und sehr schicken Flughafen von Porto, der offensichtlich zum Kulturhauptstadtjahr 2001 gebaut wurde und dessen Dachkonstruktion einfach faszinierend wirkt.

In die entzückende Kleinstadt Braga gelangten wir erst im Lauf des Spätnachmittags, suchten nach dem gerade erst vor anderthalb Jahren in altem Gemäuer eröffneten, sehr angenehmen Hotel die auf einem nahen, stadtbeherrschenden Hügel gelegene Kirche Bom Jesús auf, die weniger um ihrer selbst willen als vielmehr wegen ihrer prächtigen Treppenanlage besuchenswert ist. Aufgrund der überraschenderweise aufgekommenen Dunkelheit boten sich die sechshundert Stufen aber nicht zur weiteren Begutachtung an, reizvoll immerhin war der Blick über das erleuchtete Braga, das wir nun zwecks abendlicher Verköstigung und Schlafes aufsuchten. Der nächste Tag brachte die Besichtigung der alten Königsstadt Guimarães mit den dazugehörigen unter der Salazar-Diktatur glanzvoll rekonstruierten nationalen Weihestätten. Ich stellte zu meiner Überraschung an den geländerlosen Wehrgängen der Burgruine meine bislang verdrängte Höhenangst fest und kroch beinahe mehr als ich ging. Versuche, in der Schloßkapelle auswendig zu singen, waren von eher mäßigem Erfolg gekrönt, dafür war die abendliche Probe für das Konzert am darauffolgenden Tage unsererseits erfolgreicher.

Unsere größte Sorge, der für eine Passionsaufführung entscheidende Evangelist (ein portugiesischer Tenor) genüge möglicherweise seiner Aufgabe nicht, stellte sich als unbegründet heraus; der Solist war einfach fantastisch (sehr schöne, kräftige Stimme; gute Aussprache, viel Ausdauer, durchdachte Interpretation, Engagement). Weniger gut funktionierte die Zusammenarbeit mit dem einheimischen Orchester, das möglicherweise aufgrund lokaler Eifersüchteleien die Noten erst eine Woche zuvor erhalten hatte und zu den Proben großenteils zu spät kam. Immerhin waren auch die sehr motiviert und lernfähig, die zu beobachtende Steigerung immens.

Ohnehin waren portugiesische Zeitvorstellungen für uns gewöhnungsbedürftig, auch das zweistündige Konzert selbst fing erst gegen halb zehn an (für E-Musik in Deutschland sehr unüblich^^). Dementsprechend rechneten wir auch damit, daß ein großer Teil des Publikums nicht durchhalten würde, fremde Musik, dazu noch in einer fremden Sprache und (wie wir zu unserem Schrecken feststellten) ohne den Text im Programmheft in dieser Länge für viele eine Überforderung darstellen würde. Aber wie wir überrascht wurden! Die Kathedrale war sehr gut besetzt, das große Mittelschiff rappelvoll; viele kleine Kinder dazwischen, die mucksmäuschenstill blieben und uns mit weit geöffneten Augen und teilweise offenen Mündern folgten; ein begeistertes Publikum, von dem kaum jemand den Raum auf den eigenen Beinen verließ. Der Applaus am Schluß nötigte uns - was ich bei einer Passion jedenfalls noch nicht erlebt habe^^ - zu einer Zugabe, bevor wir uns zurückziehen durften, um den Abend mit einem guten Essen ausklingen zu lassen.

Am nächsten Tag fand eine Stadtbesichtigung von Porto statt, angefangen mit dem Haus der Musik, einem zum Kulturhauptstadtjahr gebauten auf der Spitze stehenden Würfel des holländischen Stararchitekten Rem Kolhaas mit im Innenraum schräg durcheinandergehenden Treppen und Konzertsälen mit aufwendig gestalteter Akustik. Die baulichen Mängel des Hauses (insbesondere die Unübersichtlichkeit) stachen ins Auge; die Stadt müht sich darum, die öffentliche Anerkennung durch Führungen und Schnupperangebote sowie sehr moderate Kartenpreise zu steigern. Die größte Fehlleistung des Hauses sind die Orgeln - aus Kostengründen verzichtete man auf ihre Ausführung und erstellte im (modernistischen) Großen Saal zwei kitschig-barock-romantische Orgelattrappen. :boah: Porto selbst ist eine merkwürdige Mischung aus weltoffener Hafenstadt mit eleganten Einkaufsstraßen und einem heruntergekommenen Provinznest - in der Altstadt stehen unheimlich viele verfallende Häuser fast oder ganz leer, es könnte ein Großbrand ausbrechen, ohne daß jemand etwas davon bemerkt oder zu Schaden kommt. In der Nähe prächtiger goldüberladener Kirchen ist ein offener Straßenstrich, und der die Sehenswürdigkeiten bestaunende Tourist wird von den Einwohnern seinerseits schräg angestarrt. Immerhin fühlten wir uns tagsüber sehr sicher, auch da wir mehrfach Polizeistreifen begegneten. Der Niedergang ganzer Stadtteile war erschreckend greifbar.

Die Rückreise war unspektakulär, der fast fünfstündige Aufenthalt in Frankfurt leider eher unergiebig, ich hätte lieber in Schirn oder Städel gehen sollen, statt mit anderen vergeblich nach einem passenden Kinofilm zu suchen - da beide Flüge wetterbedingt Verspätung hatten, war unser Terminplan schlecht kalkulierbar und der zur Verfügung stehende Zeitrahmen eingeschränkt. Die Ankunft in Hamburg war erst kurz vor Mitternacht - drei LH-Maschinen aus Frankfurt trafen fast gleichzeitig ein. Der Temperaturwechsel von portugiesischem Sonnenschein und 'Maiwetter' zum Frankfurter Regen und hiesigen Graupel war das am wenigsten erfreuliche Erlebnis der Reise.^^

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