RosalieAdvanced Member
Beiträge: 335Registriert: 23.10.2003
|
Gehen drei auf einen Berg ...
Der Japaner an sich ...ist achtzig Jahre alt und lebt in einer Hütte auf dem Berg. In diesem Sonderbeitrag ,wurde dies unter Einsatz unserer Leben unter Beweis gestellt.
Kukotori-San, der Wolkenbezwinger! Langsam muss mit diesem ganzen Tourismus-Quatsch hier Schluss sein, eine echte Aufgabe muss herbei. Etwas, das nur... Extreme Touristen wagen! Das Okutoma-Naturschutzgebiet, 200 km östlich von Tokyo, klingt verlockend und irrsinnig genug, um (Anfang November!) als Projekt zu dienen. Projekt heißt natürlich nur, dass wir mit viel zu wenig Plan und Peil an die Sache gehen, in diesem Fall: Den zweitägigen Kumotori-San Track, der das Chichibu-Gebiet mit dem Oku-Tama Gebiet über den Gipfel des Kumitori-San verbindet, der höchste Berg der Region Tokyo.
Als wir Samstag Morgens um acht (früh!!!) schlaftrunken Geld abheben wollen, hat der ATM-Geldautomat natürlich erst ab 9 geöffnet, dabei ist das buchstäblich nur ein einzelner Raum mit automatischen Türen auf der Gasse, der eigentlich gar nicht geschlossen haben kann. Noch länger warten kommt nicht in Frage, also legen wir unser letztes Bargeld zusammen und kaufen ein Ticket Richtung Chichibu. Zwischendurch muss man zwei Mal die Bahn-Netze wechseln, was gut ist, in unserem Fall: Wir brauchen dringend irgendwo einen Geldautomaten der unsere Karten akzeptiert. Doch die Häuser werden kleiner und kleiner, Vorstadt, Provinz... Weniger und weniger Chancen hier ne Bank zu finden. Und wir haben nicht mal genug Geld für die Rückfahrt, sehen uns schon in der Kleinstadt sterben! In einem erbärmlichen Nest namens Higashi-Han'Nô, das sich erstaunlich nach Urlaub anfühlt, spuckt schließlich ein Postamt Geld aus. "Und, wieviel hast Du abgehoben?" "Ach, 30.000, falls das bei Euch nicht geht!" "Oh! Ich auch. Bischof?" Plötzlich hat sich die Situation in ihre Gegen-Karrikatur verdreht, wir haben dank unseres kurzen Panikanfalls jetzt auf ner Bergtour 90.000 Yen in der Tasche, ein echtes Projekt! Soviel auch zu dem genau ausgerechneten Plan, wieviel Essen aus dem Supermarkt wir mitnehmen um mit dem Mindestbudget zu überleben. Wir haben Hunger und gehen erst mal in ein Soba-Restaurant. Projektarbeit.
In Chichibu angekommen stellt man fest, es gibt natürlich keine Seilbahn, oder nur im Sommer, und der "Dreistundenweg" für heute dauert wohl Sechs, und überhaupt ist der nette ältere Beamte ganz durcheinander weil wir das unmöglich tun können. Mit dem nächsten Bus wären wir nach 1,5 stündiger Fahrt um kurz vor 14 Uhr am Startpunkt (statt um 11), und stockdunkel wird's hier um 17 Uhr. Ach ja, wir hanben auch nur zwei Schlafsäcke. Irgendwie ist es unmöglich, dass wir das alle drei überleben, aber umkehren ist jetzt halt ganz und gar keine Option mehr, also einfach noch etwas Alkohol gekauft, für Notfälle. Freiheit oder Tod, wir sind Ausländer, wir dürfen alles, und Bischof wiederholt immer nur "Gebt mir keine Verantwortung!"
Die Busfahrt ist die Hölle, Millionen von Japanern die alle diesen Schrein am Startpunkt besuchen wollen, als wir ankommen sind wir völlig am Ende. Und vor uns ein Weg ohne Wiederkehr. Andererseits: Es fühlt sich höher an als jeder Ort an dem ich je war (das ist Quatsch), die Herbstfärbung ist der Wahnsinn, und überhaupt ist das alles viel zu toll, und auch noch blauer Himmel. Wieder Andererseits: Wir haben nicht mal Zeit, den weltberühmten wunderschönen Schrein auf 1200 Metern im Berg auch nur eines Blickes zu würdigen, zu dem hier alle pilgern (Touristen!) wir haben einfach keine Zeit. Und so viel Herbstfärbung hat es dieses Jahr noch gar nicht, außerdem ist dieses Wort im deutschen einfach nix halbes und nix ganzes, das heißt ab sofort: Buntlaub. Bischof: "Ah, ich hab noch Bücher von der Japanologie zuhause, der Ackermann wird so traurig sein die nicht mehr zu bekommen!!!" Zur Zeit des Buntlaubes also gingen wir in den Tod, durch ein Tor ohne Wiederkehr.
Das sollte ich dem Herrn Dr. Ludolph vom Kronberg Gymnasium zu Weihnachten schicken.
"Shigo no yô ni yama noborimashô"
"Lass uns den Berg erklimmen gleich einer toten Sprache."
Der Aufstieg geht los. Wunderschön. Natur: Traumhaft! Und die hohen Gräser, so was kennt der Deutsche gar nicht in den Bergen, toll! Aber ist schon recht steil, hm... Nach einer Stunde gehen uns die Witze aus, und nach Eineinhalb Stunden wird es kalt. Richtig kalt. Wir sind auf 1500 Meter, auf einem Plateau namens Kirimo-ga-mine, und fertig. Bald wird es dunkel, und Passanten warnen uns bereits, ohne Lampen nicht weiter zu gehen. Bischof hat Teelichter dabei, immerhin.
Zu unserem Glück finden wir eine Art Gartenhaus, das wohl eine Bergütte darstellt, in dem ein alter Mann lebt. Verkauft normalerweise Kaffee an Vorbeikommende. Wir schildern ihm unsere Lage, und er fordert uns auf bei ihm auf dem Boden zu schlafen. Er rückt ein paar Holzbänke von draußen herein und wirft Feuerholz nach. Die Hütte hat zwei Räume, keinen Strom, und der heiße Kaffee ist mal das Beste was es je gab. Die Übernachtung wird quasi umsonst sein, Mathias bekommt einen Schlafsack geliehen. Wir können uns grad keinen besseren Platz auf der Welt vorstellen. Um 17 Uhr ist es dunkel, der alte Mann kocht sich ein unglaublich leckeres Eintopf-Süppchen dass er mit uns teilt (dabei ständig betont wie schlecht es schmecken würde). Kurz vor Stockfinster taucht noch ein zweiter 80jähriger Senior auf Gebirgstour auf, der draußen sein Zelt aufschlägt. Irgendwann holen wir jeweils unseren Shôju heraus. Man trinkt.
Nun ist dazu zu sagen, dass das sogenannte "Japanisch" im Grunde eine Kolonie verschiedener Sprachen darstellt, die je nach Alter, Geschlecht und Status der Sprecher nur über zahlreiche Ecken miteinander verwandt sind. Man lernt so eine Art höflichen Standart, versucht dann jahrelang ihn wieder loszuwerden, und die völlig verschiedene Umgangssprache unter Jugendlichen zu erlernen. Wir haben grad einen Kurs "Höflichkeitssprache" an der Uni. Aber niemand hat uns je Bergbauern-Grammatik, Bergbauern-Vokabeln oder -Syntax gelehrt. San'nô-Go sollte das heißen. Trotzdem wird man mit Einhergehen des Flaschenleerens redselig, Herr Bischof ist sogar der Ansicht er werde immer 'charmanter'.
Die Nacht ist eine Erinnerungswolke von verschiedenen Kälte-Empfindungen. Kalt. Schweinekalt. Kalt. Überraschend kalt. Erkenntnis: Hier stirbt es sich recht leicht. Dieser Samstag war der einzige Tag der Woche, in dem der alte Mann in seiner Hütte war. Wir müssen um sechs Uhr los marschieren, da wir viel Weg gutzumachen haben, und die völlig unmögliche Strecke von 8 bis 11 Stunden zurück legen müssen. Zum Frühstück bekommen wir noch mal Brot geschenkt, die Wanderung kann beginnen.
Tatsächlich erreichen wir den Gipfel des Kumotori-Sans gegen halb 11. Der Fuji-San überragt die Wolken im Osten, dominiert die Aussicht. Irgendwie tut uns der Kumotori etwas leid, der arme Tropf, dass ihm viele Japaner nur wegen Fotos von einem anderen Berg einen Besuch abstatten. Mit Fotos haben wir aber eh ein Problem. Während der gemeine Japanische Bergsteiger technisch tiptop unterwegs ist, jeder greisenhafte Mann Ipdod-Kopfhörer an den Tag legt und wir selbst auf dem Gipfel einen Laptop erspähen, haben wir die Grundregeln vernachlässigt und nur Mathias' kleine Kamera, deren Speicherkarte auch noch auf halber Wegstrecke voll ist. Der restliche Weg ist bestimmt von der Schreckensdrohung "Oh, das muss ich knippsen, ich lösch' mal Bilder!"
Dafür hat der Japaner zum Ausgleich auch völlig nutzlose Glöckchen um den Hals hängen, die zur Abschreckung irgendwelcher Bären dienen sollen, aber wenigstens eine nette Bergziegen-Illusion erschaffen. Wenn ich ein Bär wäre würde ich als erstes jedes nervende Glöcklein vernichten, und die Statistik, hier von einem gefressen zu werden ist auch nicht viel höher, als in Tokyo von einem Solchen überfahren zu werden.
Auf dem langen, langen Rückmarsch über zahlreiche teuflische Hoch-Runter-Gipfel gibt es nirgendwo mehr eine Hütte, wo wir auch nur einen Kaffee bekommen, obwohl wir - als reiche Männer - Unsummen für Instant-Nudeln ausgeben würden. Die bewirtschaftete Riesenhütte, die sehr empfehlenswert sein soll weil selbst die Tochter des Tennô zweimal im Jahr zu einem geheimen Datum inkognito hierhin wandert, hat gerade ausnahmseweise an diesem Tag keinen Betrieb, weil sie von nem Helikoter beliefert wird - was ist denn das für ein Grund? Dafür gibt es frisches Quellwasser, das angeblich bei Genuss 10 Jahre jünger macht, hervorragend. "Oh ja, mit 14 wurd man so richtig schnell besoffen, das war noch was!"
Wir beginnen die Berge zu verfluchen, überlegen, sie später, wenn wir viel Geld haben (NOCH mehr Geld) aufzukaufen und Plattzumachen, stattdessen nützliche Atomkraftwerke drauf zu bauen, denn das Berge schleifen braucht viel Energie. Immerhin ist der hohe Pass vom Kumotori-San über Nanatsu-ishi-san und Takanosu-san ein optisches Gedicht.
Höhe durchschnittlich 1700 Meter, überall Waldschluchten, und unser Weg auf dem Kamm stammt mindestens aus einem Kurusowa-Film, mit Samurai-Hinterhalten zu Shamisen-Klängen und großen Taiko-Trommeln. Witzig, an so einer Stelle mal keinen Herr der Ringe-Soundtrack im Ohr zu haben, dann schon eher Street Fighter II-Midi-Gedudel, denn hier könnte auch die 2D-Stage irgendeines Zen-kämpfers sein. Wenn man springt fährt die Kamera raus und man sieht die schönen Berge, der Hintergrund ist immer sauber durch Bambusgras abgegrenzt. Jedes Bild ein Postkartenmotiv, darum löscht unser Foto-Hitler auch ständig weiter alte Aufnahmen.
Der Abstieg ist lang und ereignislos, Gesprächsthemen wechseln sich zu Dutzenden, bleiben immer wieder bei fassungsloser Verwunderung über die japanische Sprache hängen. Wolken ziehen auf, doch gegen 15 Uhr erreichen wir die Straße. Wir wollen einen Autofahrer, der auch gerade vom Berg kam und zu seinem geparkten Mobil geht, nach dem Weg fragen, natürlich bietet er uns gleich eine Rückfahrt an. Nicht nur nach Okutama, sondern gleich nach Tokyo, Kodaira, Kokubunji, denn durch eine unerklärliche Anhäufung von Zufällen ist der 50jährige Wandersmann hier, hunderte Kilometer von der Hauptstadt entfernt, mein Nachbar. Bei so viel verquerer Statistik war der Bär wohl doch eine Gefahr...
Noch mal ein paar Stunden im Auto Japanische Konversation betrieben während das Hirn sich langsam selbst zu Muß verarbeitet. Wieder viel Geld und Zeit gespart, wir gleichen das ein wenig durch ein sehr leckeres Essen aus, Bischof fährt nach Utsunomiya zurück - fast drei Stunden Fahrt, ich will ncht tauschen. In meiner Klause angekommen will ich nur noch eine Dusche, ein Bier, mein Bett.
Stattdessen ruft Sara an, ich müsse nach Kokubunji in eine Izakaya mitkommen, Monika und sie haben viele Japaner zum Trinken klar gemacht. Das ist so unmöglich grad, dass es nach einem neuen Projekt klingt. Natürlich bin ich dabei. Schönes Wochenende.
Japan ist nicht Tokyo
|