Für Torror schien es, als friere die Zeit ein. Er war so sehr von dieser seltsamen Situation gefesselt, dass er keine Ahnung hatte, wie lange sie sich schon in die Augen starrten - der Jäger und das Opfer.
Der Berglöwe lag erstarrt vor ihm, seine Schnurrhaare zitterten vor Anspannung und Torror überlegte immer noch, wie er es schaffen konnte, lebend aus diesem Verlies zu gelangen. Von links kam ein schwacher, flackernder Lichtschein. Von dort war der Löwe gekommen. Torror erinnerte sich an das Gitter, dass klirrend hochgezogen worden war, als er sich im Verlies wiedergefunden hatte. War es noch offen? Er traute sich nicht, nachzusehen. Er wußte, an das Schwert würde er nicht mehr lebend gelangen können. Mit dieser Gewissheit fasste er einen verzweifelten Entschluss: er wollte auf den Ausgang des Verlieses zusprinten; versuchen der um vieles schnelleren Katze zu entkommen und hoffen, eine Waffe zur Verteidigung zu finden. Er konzentrierte sich.
Er lauerte. Dieser Mensch starrte ihn schon eine ganze Weile in die Augen. Er fühlte sich herausgefordert. Zwar drängte ihn das stetig größer werdende Hungergefühl dazu, seine Fänge in den Menschen zu schlagen, aber er wollte zuerst dieses kleine Spiel um die Herrschaft gewinnen. Direkter Augenkontakt mit einem Opfer war neu für ihn! Seltsam, dieser Mensch schien keine Angst zu habenn. Er wußte natürlich, dass dem nicht so war - er konnte die Furcht riechen. Dennoch beeindruckte ihn dieser willensstarke Ausdruck in den Augen des Gegenübers.
Er fühlte die Anspannung in seinen Muskeln langsam weichen, blieb aber dennoch sprungbereit. Weit weglaufen konnte der Mensch ohnehin nicht. Wie lange starrten sie sich schon an? Gerade, als er einen knurrenden Laut ausstoßen wollte, geschah es: der Mensch sprang auf und rannte vor ihm davon! Er war so überrascht, dass es seinem Opfer tatsächlich gelungen war, bis zum Eingang in diesen Raum vorzudringen, bevor er sich überhaupt gerührt hatte! Dann überkam ihn der Hunger! Er hatte das kleine Spiel um die Macht gewonnen, jetzt wollte er seinen Lohn: Menschenfleisch!
Torror rannte um sein Leben! Ja, das Tor war offen, er konnte hindurch. Etwas verwundert nahm er den immer noch liegenden Löwen hinter sich war, dann aber hörte er die scharrenden Geräusche der Krallen über den Steinboden und erhöhte sein Tempo, so gut es ging. Der Gang nach dem Gitter war schmal, vor ihm befand sich eine Biegung und in regelmäßigen Abständen hingen brennende Fackeln an der Wand. Torror sah eine geschlossene Tür und ein zweites Gitter, als er um die Kurve kam. Hinter ihm knurrte der hungrige Berglöwe. Er wußte, er würde es nicht bis zur Tür schaffen. In letzter Verzweiflung riß er die nächstbeste Fackel aus der Halterung und drehte sich um. Er sah die Katze zum Sprung ansetzen, duckte sich unter ihr weg und schlug mit der Fackel nach ihr. Geruch verbrannten Fells stieg ihm in die Nase. Er rannte den Gang zurück, griff sich eine zweite Fackel und wartete auf den Löwen. Dieser kam wenig später mit aufmerksamen Blick und angesenktem Fell auf ihn zu. Torror spürte wieder Hoffnung in sich aufsteigen. Mit den Fackeln hatte er eine gewisse Chance.
Sie umtanzten sich wie zwei Milos im Milwaa und versuchten dem anderen ein Schnippchen zu schlagen. Torror konnte nicht an das Schwert gelangen, ohne die Fackeln abzulegen. Also beschloss er die Tür genauer zu überprüfen. Langsam schoben sie sich zurück durch den Gang. Die verdammte Tür war abgeschlossen! Torror spuckte aus. Er wollte so nicht sterben. Abwarten, bis er müde wurde und dann gefressen werden? Nein. Er ging zum Angriff über. Er scheuchte den Löwen vor sich her, sammelte alle Fackeln und drängte ihn in eine Mulde im Verlies. Dann legte er die Fackeln in kurzem Abstand so aus, dass der Löwe verängstigt am Boden kauerte und keinen Ausweg sah. Torror erhob sich mit einer einzigen Fackeln und ging langsam rückwärts zur schiefen Säule. Er beobachtete den Löwen und der Löwe beobachtete ihn. Er legte die letzte Fackel auf den Boden und sammelte sich. Der Löwe stand auf. Torror setzte alles auf eine Karte und sprang die Säule empor, griff nach dem Schwert und riss er herunter. Im Fallen sah er einen riesigen Schatten, der von einem Körper zwischen ihm und den Fackeln geworfen wurde, der auf ihn zukam. Erschrocken drehte er sich um, riß das Schwert nach oben und der Berglöwe stürzte in die Klinge. Seine Pranken trafen Torror an der linken Schulter und der schwere Körper riss ihn zu Boden. Die Katze fauchte, zuckte und biss ihm in den rechten Unterarm, bevor sie langsamer wurde und schließlich erstarb. Torror wälzte den toten Körper von sich, rutschte an eine Wand und weinte.