Identität im Wandel der Persönlichkeit

Auf der Suche nach dem Sinn des Lebens und der Wahrheit.
Maurice
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Sa 5. Jun 2004, 21:26 - Beitrag #1

Identität im Wandel der Persöhnlichkeit

Hatte diese Woche eine kurze Diskussion mit jemanden über das Thema "Person". Es ging um die Frage des "Selbst" und ob man immer noch der selbe Mensch ist wie vor z.B. 10 Jahren.
Meine Antwort war: Man ist der selbe aber nicht der gleiche.
Was ich damit sagen will ist, dass es sich bei der Person XY selbst nach vielen Jahren immer noch um die Person XY handelt, diese eben nur andere Eigenschaften besitzt.
Darauf antwortete mein Gegenüber, dass es sich eben nicht um die selbe Person handele, weil sie sich so verändert hätte, dass man das nicht sagen könnte. Er brauchte den Vergleich mit einem Blatt Papier das mit der Zeit vegilbt und dann nicht mehr das selbe sei. Ich dagegen, dass es immer noch das selbe sei, aber nicht gleich in seinen Eigenschaften.
Ich glaube er hat einfach nur nicht verstanden wie ich die Begriffe benutzt habe. Dabei ist mir auch aufgefallen, wie leicht wir die beiden Begriffe durcheinander werfen. MAcht ihr euch dem Unterschied der beiden Begriffe normalerweise bewusst? Ich versuche es zwar, aber manchmal erwische ich mich auch dabei, dass ich die vertausche ^^*...

Die Antwort auf die Frage schien mir sehr deutlich, ich habe sie dann aber nochmal durch den Kopf gehen lassen und bin auf ein Problem gestoßen:
Wenn nun ein Mensch sich im Laufe seinen Lebens sehr verändert hat er nicht mehr die selbe Persöhnlichkeit wie zuvor. Es ist doch die Persöhnlichkeit, die eine Person ausmacht, oder? Und bestimmt nicht die Person eines Menschen seine Identität? Die Identität sagt aus, wer der Mensch ist, ändert sich also die Persöhnlichkeit maßgebend, ändert sich auch die Identität... inwiefern ist es noch der selbe Mensch?

Ich habe zwar schon einen Lösungsversuch, aber ganz zufrieden macht er mich auch nicht: Ein Mensch ist ein Objekt, dass sich zwar im Laufe der Zeit verändert, aber immer deutlich bleibt, dass es sich immer um das selbe Objekt handelt. Um zu sagen, der Mensch bleibt der selbe dürfen wir ihn icht über seine Eigenschaften definieren, sondern ihn einen fiktiven "Stempel" aufdrücken oder eine nummer zuweisen. Der Mensch hat durch diese Klassifizierung etwas an sich, dass auf jeden Fall gleich bleibt, egal wie sehr er sich auch verändern mag.
Im grunde ist dies ja auch die typische Ansicht unserer Gesellschaft. Beispiel: Wenn ein Schwerverbrecher sich total ändet könnte man meinen er sei ein anderer Mensch geworden. Ok er ist anders, aber immer noch der selbe. Nur weil jemand sozialisiert wurde streichen wir ja auch nicht seine Straftaten aus seinem Führungszeugnis.

Die Frage die ich mir aber immer noch stelle ist, ob der Mensch etwas besitzt, was unveränderlich seine Person definiert, das sein ganzes Leben lang gleich bleibt?
Ok die Theisten hier werden wohl gleich Seele rufen, aber das beantwortet meien Frage natürlich nicht in eienr Weise, die mich zufriedenstellen würde. Fällt euch also sonst noch irgendwas ein? ;)

Ecthelion
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Sa 5. Jun 2004, 23:10 - Beitrag #2

Die entscheidende Frage ist halt was das "Selbst" des Menschen ist.

Zuerst einmal würde man den Menschen vielleicht für seinen Körper, was ja auch unserer Alltagsvorstellung nahekommt. Wenn ich an Karl denke, so stelle ich mir sein Gesicht vor, und mache mir kein Bild seiner Psyche und seines Charackters. Hier gibt es sicher nichts konstantes, wir verlieren konstant Hautzellen, etc. nach einem halben Jahr hat der Körper praktisch keine gleichen Moleküle mehr.

Als nächstes könnte man den Menschen für seine Gedanken und Gefühle halten. Aber auch diese sind immer nur endlich und begrentzt. Ich habe heute Gedanken und Gefühle und ich habe morgen welche. Es gibt Zusammenhänge zwischen diesen, aber sie sind nicht die gleichen.

Ich glaube einfach nicht, dass es etwas gibt, das den einzelnen Menschen ausmacht, das konstant ist. Ich habe ich mich nie in meiner Ganzheit erfahren, allein schon, da ich mir meines Unterbewusstseins ja per definitionem nie bewusst werden kann. Und je länger je mehr glaubt man an die Rolle die das Unterbewusstsein für den Menschen spielt. Da es mir zeitlebens unmöglich ist, mein Ich zu erfahren, wie kann ich da davon ausgehen, dass es überhaupt ein konstantes solches gibt?

Ob es in meinem Unterbewusstsein etwas konstantes gibt, kann ich weder beweisen noch widerlegen, es ist für mich somit irrelevant.

Bin ich mein Bewusstsein? Wenn ja ist die Frage nach etwas konstantem erledigt. Bin ich auch mein Unterbewusstsein? Dann ist die Frage unbeantwortbar.

Man könnte vielleicht folgende etwas an den Haaren herbeigezogende Metapher verwenden: In einem Chatt können alle Personen anonym schreiben. Es wird immer nur diskutiert, die Personen schreiben nie über sich selbst. Wie das halt so ist, das Gespräch wird sich um dies und um jenes drehen, das momentane Thema wird zwar mit dem nächsten etwas zu tun haben, mit dem in zwei Stunden aber wohl nicht mehr so viel (wohl aber wird man sich hie und da etwas schon gesprochenen erinnern). Die ganze Zeit verlassen Gesprächsteilnehmer die Runde und neue kommen hinzu. Von einem Beobachter wird aber nur das geschriebene gelesen. Das aktuelle Gesprächsthema ist das Bewusstsein, die Personen das Unterbewusstsein. Das Gespräch ist in erster Linie eine Folge der Gesprächsteilnehmer, wirkt aber auch auf diese zurück, indem es die Basis für ihre nächsten Beiträge liefert. Nun kann man Fragen: Ist die Diskussion nach zwei Tagen noch die gleiche wie am Anfang? Das Gesprächsthema wird mit dem anfänglichen icht mehr viel zu tun haben. Auch von den Teilnehmern werden die meisten durch neue ersetzt worden sein. Ob es einen harten Kern von dauerdiskutierenden gibt kann ich nicht wissen. Aber was interessiert ist ja in erster Linie das gesprochene.

Agnitio-Opes
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So 6. Jun 2004, 07:11 - Beitrag #3

Ecthelion's Beispiel mit dem Chatt finde ausserordentlich gut, hilft es mir doch bei meiner Argumentation, denn - aufgemerkt - der Chatt, in dem das alles stattfindet, bleibt unveraendert.
Der Mensch mag in seinem Sein von Beschreibungen wie "immer der selbe, aber niemals der Gleiche" oder dick, duenn, etc. erklaert werden, aber dies sind Begriffe, die niemals absolut sein koennen.
Doch an einem koennen wir festhalten und das ist die Selbsteinschaetzung und die Hauptunterschiede zum Tier, die Gesellschaftsfaehigkeit und ein gewisser Zukunftssinn.
Wenn es also einen zweifachen Moerder gibt, der aber seit dreizig Jahren Schafshirte ist und niemandem oder irgendetwas mehr etwas zu Leide tat, dann sage ich nicht, er sei nicht mehr der gleiche oder der selbe, sondern er habe sich veraendert bzw. frage ihn selbst, warum er das tat, was er tat und ob er es wieder taete.
Verneint er dies, dann hat er sich veraendert.
Gleich und derselbe sind zu statisch, "veraendert" sagt mehr aus, ist als Begriff mehr wert.
Idententitaet und Persoenlichkeit sind unzureichende Begriffe.
Ich wuede daher von einem Wandel im Sein eines Menschen reden, aber der Mensch bleibt bestimmt, daher bekannt, daher auch in gleich bzw. der selbe.
Tja, Sprache und das Verstaendnis von Begriffen scheinen hier das Hauptproblem zu sein.

Padreic
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So 6. Jun 2004, 13:05 - Beitrag #4

Ich denke, die in diesem Thread aufgeworfene Problematik liegt sehr tief. Im Grunde ist es nämlich ein Spezialfall des heraklitischen Satzes "Alles fließt." zu sagen, dass der Mensch nach einem Augenblick schon nicht mehr derselbe ist (ob es nun 10 Jahre oder Augenblicke sind, ist letztendlich ohne Bewandtnis, da die Veränderung weitesgehend stetig vorangehend und nur das Faktum der Veränderung selbst und nicht ihr Ausmaß eine Rolle spielt).
Ich denke, der Materialist muss im Wesentlichen diese Position einnehmen. Sie können in der Welt höchstens vom Menschen hineininterpretierte, aber keine tatsächlich vorhandenen Ganzheiten hineininterpretieren. Und wo man den Menschen nicht als Ganzheit betrachtet, so kann man ihn nur als Summe seiner Teile sehen und diese verändern sich in der Tat beständig. Mit dem vergilbenden Papier ist es, denke ich, ähnlich: Ich kann als Materialist eigentlich gar nicht von einem Papier sprechen, da es da nur eine Ansammlung von Molekülen gibt, die sich dazu noch verändern mögen, wenn das Papier beispielsweise vergilbt. Der Name 'Papier' ist nur eine von Menschen erfundene Klassifizierung. Und unter bestimmten Grenzbedingungen der Konstanz bzw. Einschränkungen des Wandelns nennen wir es noch das selbe Papier. Das ist aber bloß eine Benennung für die Praxis, die kein fundamentum in re hat. D.h. das Papier ist nicht das selbe, wir nennen es nur so.
So kommt man aber IMHO nicht weiter, erlebe ich mich doch als die selbe Person, die ich vor einigen Minuten oder auch Monaten oder gar Jahren war, unabhängig davon, ob ich mich als Ganzheit überhaupt erfahren kann. Und das konkrete Erleben des Menschen kann man nicht schlicht ausblenden, ist es doch (zusammen mit dem es in Form bringenden analytischen Verstand) unsere stärkste Aussagemöglichkeit über die Natur des Menschen. Oder auch bezogen auf Agnitio-Opes Beispiel des Schafe hütenden ehemaligen Schwerverbrechers: Um zu prüfen, ob er noch der selbe ist, darf man nicht fragen, ob er es wieder täte, sondern ob er es getan hat. Damit dieses Er überhaupt länger als einen Augenblick existiert, müssen wir davon ausgehen, dass der Mensch in irgendeiner Form der selbe bleibt, damit es überhaupt auch nur in einem Augenblick existiert, dass der Mensch in irgendeiner Form eine Ganzheit ist. Es gehört schon einiges dazu, damit ich gleich noch wirklich sagen kann, dass ich diese Zeilen getippt habe...

Was ist nun eine Lösung für dieses grundlegende Problem? Ich weiß es nicht.
Ein wichtiger Lösungsansatz ist sicherlich die von Aristoteles aufgeworfene Substanz-Akzidenz-Lehre, für die ich wahrlich kein Spezialist bin, die ich aber kurz darzustellen versuche: Eine Substanz ist etwas Bleibendes, für sich stehendes, das unmittelbar von keinem anderen abhängig ist. Ihr können verschiedene Akzidenzien (Eigenschaften) zugeschrieben werden, die allerdings sich wandeln können, während die Substanz hierbei die selbe bliebe. Der Mensch wäre so eine Substanz. [grundlegende Informationen zum Begriff der Substanz finden sich hier: http://www.phillex.de/substanz.htm ] Einhergehend muss man eigentlich noch die sonstige aristotelische Metaphysik betrachten, insbesondere die Lehre von der Form, aber das würde hier zu weit führen. [Einen ausführlichen Artikel hierzu findet man hier: http://www.science.uva.nl/~seop/entries/aristotle-metaphysics/]

Padreic

BioKom
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Di 8. Jun 2004, 18:31 - Beitrag #5

Mich selbst über Zeit hinweg würde ich an "Erinnerungen" (im weiteren Sinne, alles was ich "intern" oder "extern" gespeichert habe) festmachen, da dies das Einzige ist, was ich aus der "Vergangenheit" habe. Also: Ich bin noch der gleiche wie die Person an die ich mich als ich vor einer Stunde erinnere, weil meine Erinnerungen aussagen das ich der vor einer Stunde war.
Bei "externen" Personen, also Personen die ich nicht bin, nehme ich das gleiche Kriterium auf diese Personen bezogen, also bezogen auf ihre hypothetischen Erinnerungen.

Maurice
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Mi 9. Jun 2004, 11:28 - Beitrag #6

Ich denke wir sollten uns um einen Einheitsgebrauch von "selbe" und "gleiche" bemühen, oder? Ohne hier jemanden zu unterdrücken, würde ich vorschlagen meien Bedeutung zu übernehmen, wenn diese allgemein verständlich war. ;)

@Bio: Ja die Erinnerungen lassen dich an Handlungen und Eigenschaften von dir in der Vergangenheit erinnern, aber geht es um die Frage ob du noch der selbe/gleiche Mensch wie damals bist. Und was wäre, wenn du etwas vergisst, wäre dann etwas von deienm Selbst verloren? :confused:

Ecthelion
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Mi 9. Jun 2004, 15:27 - Beitrag #7

@Biokom: Du definierst dich selbst über Zeit hinweg über Erinnerungen.

Aber Erinnerung können falsch sein. Warst du dann in der Vergangenheit quasi ein anderer, als der, für den du dich hältst? Wenn du an eine längere Zeitspanne keine Erinnerungen hast, bist du dann ein anderer, als die Person, die in dieser Zeit existierte? Erinnerungen verblassen auch, dh. du wirst mit der Zeit immer weniger derselbe wie in der Vergangenheit.

Wenn du deine kompletten Erinnerungen verlierst, bist du ja nicht mehr die selbe Person wie zuvor. Dann müsste man einen Schwerverbrecher, der seine Erinnerungen verliert frei lassen. Oder andersherum, darf man einen Schwerverbrecher der absolut "geheilt" ist noch in Gefangenschaft lassen, da ihn ja nur seine Erinnerungen mit der Person die die Straftat vollzog verbinden? Dann wird er in letzter Konsequenz für seine Erinnerungen bestraft.

Ich habe mir auch schon überlegt, ob es sinnvoll ist, was z.B. der Verräter, wie auch immer der hiess, in Matrix macht, vom ethischen Standpunkt einmal abgesehen. Er will wieder zurück in die Matrix und nichts mehr von der ihr und der "Realität" wissen. Dadurch begeht er ja eigentlich Selbstmord, da er danach nicht mehr dieselbe Person ist, wie zuvor. Sein Bewusstsein ist der einzigen Verbindung zu dem Bewusstsein beraubt, dass es in der Vergangenheit war. Um damit den Bogen zurück zum Anfang zu spannen: Ich habe keine Non-Stop Erinnerung an meine ganze Vergangenheit und war somit höchstens in bestimmten Zeitspanne der selbe wie jetzt, zu den restlichen Zuständen habe ich jegliche bewusste Gemeinsamkeit und Verbindung verloren.

Bowu
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Do 10. Jun 2004, 17:25 - Beitrag #8

Wenn veränderung durch das fortschreiten der Zeit dazu führt das etwas nicht mehr das ist was es vor einem Augenblick war, dann führt das zu dem Schluss das wir nichts wahrnehmen können was ist. Denn alles was wir wahrnehmen, ist da die Übertragung der Daten (Lichtwellen/Nervenreizung usw.) eine gewisse Zeit benötigt, schon vergangen.

Aber das was wir Person nennen ist meiner Meinung nach doch gar kein Begriff der solch eine Tiefe besitzt, das eine Änderung der Haarlänge zum Beispiel eine signifikante Änderung darstellt oder?
Das wäre fast so als wäre es für den Charackter eines Flusses von grosser Wichtigkeit, welcher Tropfen Wasser gerade vor uns vorbeifliesst.

Wenn man die flexiblen Bezeichner von Dingen unserer Welt so starr macht, das sie keinerlei Änderung vertragen ohne sich aufzulösen, der machen wir deren Benutzung unmöglich.

Kann "Alles fließt" nicht auch so gedeutet werden das die Veränderung eben zum Wesen aller Dinge gehört?
Das also ein Gegenstand der sich von einem zum nächsten Moment in nichts geändert hätte dann nicht mehr der selbe sei, weil er seinem Wesen , ja dem Wesen aller Dinge widerspricht?

Traitor
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So 13. Jun 2004, 15:49 - Beitrag #9

@Padreic: Was du beschreibst, wäre die Denkweise eines sehr beschränkten Materialisten... eigentlich gibt der Materialismus sehr viel her. Denn auch wenn sich das Papier in zig Einzelmoleküle zerlegen lässt, so ist es nicht nur der Mensch, der es "Blatt Papier" nennt. Denn es verhält sich ja auch wie ein Blatt Papier, nicht wie ein Haufen Moleküle, etwa wenn man es durch die Luft wirft. In übergeordneten Formen ist auch stets Information, die über die Einzelteile hinausgeht, enthalten.
Beim Menschen ist dies in besonders starker Form der Fall, so dass das Gesamtsystem sogar (auf welchem Wege auch immer) die Möglichkeit gewonnen hat, über sich selbst zu reflektieren. Diese Selbstreflektion ist offensichtlich auch in der Lage, über gewisse Veränderungen hinwegzusehen - hat sozusagen eine eingebaute Fehlerkorrektur. Damit spannt sich der Bogen zu BioKoms Selbstdefinition über die Erinnerungen - man ist stets in der Lage, in alten Erinnerungen über sich selbst soviel von der gegenwärtigen Selbstwahrnehmung wiederzufinden, dass man sich als durchgängiges Ich erkennen kann. Fehlen Erinnerungen (@Maurice&Ecthelion), so ist gerade deren Fehlen dann eben ein Teil des Ichs.
Was aus diesen Überlegungen folgt beziehungsweise worauf ich sie aufbaue, ist eine gegenwartsbezogene Sichtweise: man kann nicht fragen, ob der gegenwärtige Mörder nach 30 Jahren Sozialisierung noch derselbe sein wird, sondern nur, ob der Mörder von vor dreißig Jahren noch im gegenwärtigen Sozialisierten zu finden ist.
Hat er inzwischen sein Gedächtnis verloren, so gehört die damalige Tat nicht mehr zu seinem Selbst, sie gehört nur zu einer Außenwahrnehmung durch andere Menschen. Es gibt also sozusagen zwei Identitäten eines Menschen - das Ich, das ich selber erkenne und über das ich mich definiere, und das Er, das andere von mir wahrnehmen. Ersteres bleibt im Kern dasselbe, da es sich nie völlig verändert, es kann nur Eigenschaften gewinnen, weiterentwickeln oder verlieren. Letzteres ist eine Wahrnehmung wie von anderen, nichtmenschlichen Dingen auch (wenn auch auf einer anderen Qualitätsstufe) und kann sich somit so komplett verändern, dass wir einen Menschen nicht mehr für den Selben halten können. Dies liegt daran, dass wir immer nur kleine Teile von ihm wahrnehmen und uns somit der Blick für das emergierte Unveränderliche an ihm fehlt.

Padreic
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So 13. Jun 2004, 16:29 - Beitrag #10

@Traitor
Nur aufgrund recht stark molekularen Bindungskräften von einer Einheit zu sprechen, finde ich doch recht gewagt. Ich würde übrigens auch nicht von einem Blatt Papier sprechen, wenn ich zwei zusammenklebe, obwohl die dann auch wie eines durch die Luft fliegen (klebt man gut). Oder gehört ein Blatt Papier zum Tisch, wenn ich es darauf festklebe?
Darüber hinaus spricht man ja auch von einem See, obwohl es dort ja noch viel extremer ist: erstens sind die molekularen Bindungskräfte recht gering, zweitens tauscht sich das Wasser ständig durch Verdunstung und Regen oder durch Ab- und Zuläufe aus. Würdest du da auch noch von einer physikalischen Einheit sprechen?

Ich muss sicherlich anerkennen, dass ein Mensch auch im materialistischen Sinne noch eine viel größere Einheit darstellt als ein Blatt Papier, schon allein, weil jede Zelle den im wesentlichen einzigartigen Gen-Code enthält, mit dem man den Menschen identifizieren kann.
Das mit der Definition von Identität über den Gedächtnisinhalt finde ich ein wenig kritisch. Ich muss Ecthelions und Maurices Kritikpunkt des totalen Identitätsverlustes durch Amnesie oder dergleichen zustimmen. Der Satz "Ich kann mich nicht drin erinnern, dass gemacht zu haben." würde dann ausschließen, dass man selbst es gemacht hat. Deine rein gegenwartsbezogene Interpretation des Selbsts ist da natürlich ein Lösungsansatz. Eine Trennung von 'das Gleiche' und 'dasselbe' hast du so nicht. Der Kern des Menschen, der sich nicht verändert, ist nur eine relative Größe, keine, die absolut und eindeutig im Menschen gesetzt ist. Von einem völligen Fehlen von Veränderung darin kann man auch nicht sprechen, nur von einer geringen. Genauso wie wir nicht zweimal in den gleichen Fluss steigen können, sind wir nicht in zwei Augenblicken der gleiche Mensch.

Doch ich finde, du schüttest damit ein wenig das Kind mit dem Bade aus ;). Es widersprich eindeutig meiner Selbstwahrnehmung, wenn ich sagte, jemand der in vielen Punkten gleich, aber in manchen nur ähnlich zu mir war, hat eben ein Müsli gegessen. Nein, ICH habe eben ein Müsli gegessen. Wenn ich das leugnete, würde mein Leben sinnlos. Denn jede Planung verlöre doch auch irgendwo den Sinn, denn ICH kann deren Nutzen nicht mehr genießen, bin ich doch dann schon ein anderer, wenn auch nicht stark, aber ich keinen Moment später mehr derselbe.

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So 13. Jun 2004, 16:52 - Beitrag #11

Den Punkt zum Materialismus habe ich bewusst nicht weiter ausgeführt, da er hier zu sehr offtopic wird und wir uns darüber ja auch schon oft genug unterhalten haben. Nur grob angerissen, wie ich es meine: Auch der See bildet eine Einheit, jenachdem, wie man ihn betrachtet - etwa geographisch oder von seinem Klimaeinfluss her. Objekte können immer nur relativ definiert werden, und wenn genug relative Definitionen deckungsgleich sind, kann man von einer Einheit sprechen.

Zum Menschen: Ja, mag sein, dass ich mir die Sache etwas einfach mache ;) Aber den Widerspruch zur Wahrnehmung sehe ich nicht, gesteht man dem Ich-Begriff eine gewisse Definitionsunschärfe zu. Wie du richtig einwirfst, ist auch der unveränderliche Kern nicht unveränderlich, sondern nur wenig veränderlich. Oder anders ausgedrückt: es verändern sich nur Teile von ihm, ohne dass das daraus entstehende Ganze wesentliche Veränderung erfährt. Also sage ich beim Müsliessen "Jemand, der sich im Wesentlichen nicht von mir unterscheidet, und somit ich ist, hat gerade ein Müsli gegessen."

PS: Es ist übrigens herrlich, sich einen Philosophen vorzustellen, der Selbstmord begeht und in seinen Abschiedsbrief schreibt: "Mein ganzes Leben wurde sinnlos, als ich eine Schüssel Müsli aß." :D

Padreic
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Di 15. Jun 2004, 15:06 - Beitrag #12

@Traitor
Was ist denn 'wesentlich'? Heißt das, dass man den Veränderungen gemäß ihrer Signifikanz (fiktiv) Werte zuordnet, die dann über alle Veränderungen summiert und wenn das eine bestimmte Zahl nicht überschreitet, liegen dann keine wesentlichen Veränderungen vor? Weder Ich noch Mensch haben im Materialismus wirklich ein Wesen; sie haben vielmehr bestimmte Parametergrenzen, die mehr oder weniger willkürlich von Menschen festgelegt werden. Was ein Mensch ist und was nicht, das mag noch Definitionssache sein, aber ob ich noch derselbe bin, der ich war, als ich das Müsli gegessen habe (hab heute übrigens wieder eins gegessen...bin ich dann beim heutigen Müsli-Essen noch wesentlicher derselbe als beim Mal davor, da die Parameterabweichungen wohl nicht ganz so stark sind oder ist das ein plötzlicher Sprung vom derselbe-Sein zum nicht-derselbe-Sein bzw. umgekehrt?), ist keine.

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P. S. "Ich aß Müsli und plötzlich wurde mir alles klar..."

BioKom
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Di 15. Jun 2004, 17:54 - Beitrag #13

@Ecthelion:
"Falsche Erinnerungen" kann man nur dadurch finden das man "richtige Erinnerungen/Wissen" hat. Wie kann ich von der Richtigkeit von etwas ausgehen von dem ich nichts weiß? Ich mach es auch dort wie bei der Quantenphysik: Die Werte sind so wie ich sie messe/habe (ungenau), es exestiert keine "wirkliche/konkrete Welt" dahinter. Damit unterscheidet sich auch die Vergangenheit und die Zukunft bei mir nicht mehr so stark: Über Beide habe ich nur ungenaues Wissen und Beiden kann ich ändern.
Übrigens mit den Rest hast du meiner Meinung nach recht.

Ich definiere mich übrigens nicht über die Handlungen oder Ähnlichem von mir, an das ich mich erinnere, sondern über woran ich mich als ich erinnere. Ich hab von jemanden Erinnerungen von gestern der sich als ich damals angesehen hat und ich heute bin die gleiche Person. Ich habe keine Erinnerungen von Gestern von dir, dass du dich als ich gesehen hast, also bin ich nicht du von gestern. ^_^*
Ich bin nicht der "Gleiche" wie gestern, da ich mich von mir gestern unterscheiden kann, also "ich heute" mit "ich gestern" nicht Identisch bin.
Die Definition mit den Parametern hat das Problem, dass wenn du die Parameter zu eng steckst du schnell nicht mehr du selbst bist, bzw. du immer nur ein kurzes "Leben" hast, steckst du die Parameter zu weit, was hält dich dann davon ab eine "andere" Person, die dir so ähnlich ist das sie deine Parameter erfüllt, als ich zu bezeichnen, z.B. deine Freunde.

Maurice
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Di 15. Jun 2004, 23:12 - Beitrag #14

Original geschrieben von BioKom
was hält dich dann davon ab eine "andere" Person, die dir so ähnlich ist das sie deine Parameter erfüllt, als ich zu bezeichnen, z.B. deine Freunde.

Mein fiktiver Stempel. ;)
Nehmen wir einen Gegenstand, z.B. einfach wieder das Blatt Papier und sagen das ist das Blatt X und legen dies in eine Box, so ist klar, dass dieses Blatt immer als dasselbe gesehen werden kann, weil wir es räumlich abgegrenzt haben und kein Zweifel daran besteht, dass es sich irgendwie verflüchtigt. Es mag vergilben oder sich wellen, aber das Blatt X ist immer dasselbe Blatt X, weil es eindeutig ist, dass es sich immer noch um dasselbe handelt, weil es eben immernoch in der Box ist, es wurde ja nicht ausgetauscht. Es mag nicht mehr das gleiche sein, aber immernoch das selbe.
Man kann also auch imo versuchen eine Person in einen fiktiven "Würfel" zu stecken und die Person in dem Würfel ist Person X und wird immer Person X sein, weil sie es ist, die in dem Würfel ist.

Die Unschärfe von Begriffen teilbarer Objekte ist ja nix neues, haben wir dies auch schon mehrmals im Forum diskutiert (ich kann mich z.B. noch an das gute Beispiel von der Flasche und den Scherben von damals erinnern). Ein Obejekt wird zu einem Objekt indem wir es definieren, z.B. ein Baum hat ist eine Pflanze mit Blättern, Wurzeln, einem Stamm usw. Fehlt ein Teil z.B. die Blätter mögen wir den Baum immer noch Baum nehmen, fehlt ein anderes Teil z.B. der Stamm, so ist es kein Baum mehr von uns. Es bedarf wohl der Definition notwendiger und ergänzender Teile eines Objektbegriffs. Welche dies sind sind wohl wieder etwas willkürlich möchte ich behaupten.
Die Frage die sich für uns in Bezug auf das Thema stellt ist, aus welchen Teilen ein Mensch besteht und welche notwendig sind um diesen als Menschen zu bewerten. Da der Mensch für gewöhnlich über seine Persöhnlichkeit definiert wird, diese aber nicht völlig erkennbar ist, im ständigen Wandel steht und bedeutend komplizierter als eine Baum ist, ist es auch weit schwieriger hier eine funktionierende Antwort zu finden. Auf Grund der aufgezählten Eigenschaften kann ich mir bisher nur mit diesen "fiktiven Stempel" oder "Würfel" helfen, aber selbst diese Ideen stoßen auf Probleme, wenn es um die Teilung der Objekte geht. Das wiederrum ist aber wie gesagt ein generelles Problem.

Die Idee das selbst an die Erinnerungen zu binden würde für mich nur richtig funktionieren, wenn es einen Platz im Gehirn gäb, in der alle Erinnerungen sicher (!) gepeichert werden würden. Sie müssen ja nicht abrufbar sein, sondern nur da sein. Wie gesagt über die Seele möchte ich hier nicht spekulieren.
Eine andere Möglichkeit die hilfreich zur Ergänzung des fiktiven Stempels wäre, wenn das menschliche Gehirn so einmalig und konstant in seiner Struktur ähnlich der eines Fingerabdrucks sei. Der Fingerabdruck verändert sich ja natürlich auch mit der Zeit, weil wir ja als Kinder kleinere Fínger, als als Erwachsene haben. ;) Aber dennoch ist es der selbe Fingerabdruck (bzw. der selben Person) auch wenn es nicht der gleich ist.

Traitor
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Sa 19. Jun 2004, 14:42 - Beitrag #15

@Padreic:
Worauf ich hinaus will ist eben nicht eine Definition von Toleranzen der einzelnen Parameter. Sondern die These, dass seit einem Müsli vor 20 Jahren durchaus jeder einzelne Parameter einer menschlichen Persönlichkeit verändert sein kann, ihre Gesamheit aber noch eindeutig identifizierbar ist. Maurices "fiktiver Stempel" ist bei mir sozusagen dass, was aus allen Parametern eines Menschen emergiert.
Was das genau ist, kann man kaum sagen, da nur man selbst das bei sich wahrnehmen kann, nicht bei anderen, und auch eher auf einer unterbewussten Ebene. Wenn ich nicht gerade philosophiere, denke ich ja nicht darüber nach, ob der Müsliesser mit mir identisch ist, sondern gehe grundsätzlich davon aus. Irgendein Mechanismus scheint es uns zu erlauben, diesen "emergierten fiktiven Stempel" zu lesen und somit unsere Identität zu wahren.
Dieser "Sinn" könnte, etwas spekulierend, auch der Ursprung der Seelen-Theorie sein...

BioKom
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Di 22. Jun 2004, 17:11 - Beitrag #16

Es gibt noch die Möglichkeit etwas über geringe Abweichungen zu definieren: Man ist noch die gleiche Person, wenn man sich bisher in sehr kleinen Zeiträumen nur sehr wenig verändert hat und diese Änderung gegen Null geht, wenn die Zeiträume gegen Null gehen. Ähnlich wei es bei Kurven gemacht wird.
Das wäre dann so eine Art Stempel.

Maurice
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Fr 23. Jul 2004, 18:29 - Beitrag #17

Alle soder nur ein Teil?

Eigentlich wollte ich hier als Antwort mein drittes Essay posten, aber da ich die Kritik immer noch nicht von dem Dozenten zurückbekommen habe, und auch nicht weiß wann ich sie denn nun bekomme, würde ich die noch nicht endgültige Version posten, weil ich doch gerne über das Thema weiterdiskutieren würde und nicht länger warten möchte.

Die Frage ist aber, ob ich hier jetzt das ganze Essay posten soll, oder nur den letzten Teil, der meinen Lösungsversuch für das Problem hier darstellt. Also wer als erstes antwortet bestimmt wieviel hier gepostet wird. :D
Aber keine Angst, ihr müsst hier nicht dafür stimmen, dass ich hier das ganze Essay poste, um es zu lesen, denn ich werde die auf der Kritik basierende überarbeitete Version dann auch nochmal in den anderen Thread posten, wo meine anderen beiden Essays schon stehen. :)

Rosalie
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Fr 23. Jul 2004, 22:35 - Beitrag #18

Hallo Maurice,

folglich wäre es ausreichend, wenn Du
oder nur den letzten Teil, der meinen Lösungsversuch für das Problem hier darstellt.
posten würdest, da das gesamte Essay ja noch in einem andrem Thread erscheint :) :)

Rosalie

Maurice
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Fr 23. Jul 2004, 22:41 - Beitrag #19

Ein Materialist auf der Suche nach dem Selbst

Die erste Stimme zählt, also kommt hier nur die abgespeckte Version rein. Aber damit mein Lösungsanstatz verständlich wird muss auch ein Teil vom Anfang mit rein. Ich hoffe ich teile es sinnvoll ein. :)

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Das sich aber aus meiner rein naturwissenschaftlichen Sicht der Dinge ein Problem ergibt, werde ich jetzt erläutern. Wir sagen also, dass ein Mensch, auch wenn sich seine Persönlichkeit ändert, immer derselbe bleibt. Da aus meinem vorangegangenen Essay hier auf dem Standpunkt aufgebaut wird, dass wir allein Körper sind und keinen "Geist" besitzen, wie ihn Descartes beschreibt, kann man sagen, dass der Mensch immer derselbe bleibt, weil es sich immer um dasselbe körperliche Objekt handelt, und die Psyche hierbei durchaus zu vernachlässigen sei, da sie nur eine Funktion dessen ist. Es ist aber eine wohlbekannte medizinische Tatsache, dass sich das Gewebe des menschlichen Körpers regelmäßig selbst erneuert und somit grundsätzlich alle sieben Jahre einen völlig neuen Körper schafft. Wenn also durch die Erneuerung des Körpers ein völlig neuer Körper geschaffen ist, dann kann man auch nicht mehr vom selben Menschen sprechen, weil er aus materieller Sicht nichts besitzt, was bestand hat. Für all diejenigen, die meinem Gedankengang gerade nicht ganz folgen konnten, hier ein passendes Beispiel: Wir nehmen zwei gleiche Puzzles und bauen davon eins zusammen. Dieses zusammengebauter Puzzle symbolisiert den Menschen in seiner Körperlichkeit. Nun nehmen wir ein Puzzlestück weg und ersetzen dies durch das gleiche aus dem anderen Puzzle. Dies führen wir nach und nach mit allen Puzzleteilen durch, bis wir dann letzen Endes noch das gleiche Puzzle liegen sehen, es aber nicht mehr dass selbe ist, weil es aus anderen Teilen besteht. Dieser Austauschprozess ist also alle sieben Jahre bei einem Menschen abgeschlossen, wie kann man also spätestens nach sieben Jahren noch von demselben Menschen sprechen? Dieses Problem möchte ich im weiteren Verlauf des Textes kurz als "Puzzle-Problem" bezeichnen.

[...]

Ich habe nun verschieden Ansätze angeführt, aber keiner hat mich zufrieden gestellt. Ich setzte also erneut dort an, wo ich die Quelle unseres Selbst vermute, im Gehirn. Wie schon erwähnt, ist unsere Psyche eine Funktion des Gehirns, aber wie sehen die Prozesse im Gehirn aus? In unserem Gehirn interagieren ständig unendlich viele Zellen durch elektrische Impulse miteinander, erzeugen ein bestimmtes Muster und bringen somit unser Bewusstsein hervor. Diese elektrischen Impulse sind uns nicht bewusst, wie auch das hervorgebrachte Unterbewusstsein, aber dies dürfte hier keine Rolle spielen. Die Frage ist, wo das Konstante in diesem System ist, dass unser Selbst-Gefühl schafft. Ohne die Zellen gäbe es keine Impulse, und ohne die Impulse wäre das Gehirn tot. Die Zellen bringen die Impulse hervor, und die Impulse beeinflussen andere Zellen, wobei die Impulse nur das Medium der Zellen ist zu interagieren. Wird nun eine Zelle durch eine neue ersetzt, so nimmt diese den Platz der alten ein. Der Austausch einer Zelle fällt bei der Anzahl an Zellen in unserem Gehirn nicht ins Gewicht. Nur besondere Ereignisse (z.B. ein Unfall) können das System plötzlich radikal verändern. Dies wird aber unter gewöhnlichen Bedingungen kaum der Fall sein. Eine neue Zelle übernimmt also den Platz der alten und fügt sich in das System ein. Angenommen das Muster der Impulse bleibt gleich, so müsste trotz der neuen Zellen die Persönlichkeit identisch bleiben. Verändert sich das Muster hingegen, ändert sich auch die Persönlichkeit. Wie bei meinen anfänglichen Beispielen zu den Begriffen "selbe" und "gleiche" kann man auch bei einer Änderung der Persönlichkeit nicht eindeutig zwischen einer alten und einer neuen Persönlichkeit unterscheiden, in Bezug auf ihre Gleichheit. Die Persönlichkeit wird aber immer dieselbe sein, weil sie immer aus demselben System entsteht. Ausnahme bilden dabei gespaltene Persönlichkeiten, weil es sich hier allen Anschein nach um zwei Persönlichkeiten handelt. Das Konstante in der Persönlichkeit, das Selbst-Gefühl des Ichs, wird also ein konstanter Wert des Impulsmusters sein. Solange dieser entscheidende Wert konstant bleibt, erleben wir uns beständig, als uns selbst. Schizophrenie wäre somit eine Störung dieses Musters. Was aber tun mit dem Puzzle-Problem? Wenn der Prozess der Zellerneuerung nur schrittweise vonstatten geht, sich jede Zelle in das alte System integriert und dadurch die Grenze zwischen alten und neuen System nicht definierbar ist, weil ein "neues" System nie vollständig sein kann, weil es auch immer schon wieder alte Komponenten enthält, dann stellt sich das Problem hier nicht mehr.
Um meine Vorstellung vereinfacht bildlich darzustellen, vergleiche ich das Muster der Hirnaktivitäten mit dem eines Fingerabdrucks. Der Fingerabdruck verändert sich zwar mit der Zeit, weil Kinder kleinere Finger als Erwachsene haben, aber ist es dennoch derselbe Fingerabdruck, auch wenn es nicht der gleiche ist. Der Fingerabdruck wäre nur nicht mehr derselbe, wenn man sein Muster verändern würde.
Ich möchte aber noch einmal betonen, um nicht vielleicht missverstanden zu werden, dass unsere Persönlichkeit nicht allein das Impulsmuster ist, sondern vor allem das dem zugrunde liegende Muster der Gehirnzellen, da die Impulse nur das Medium sind. Wenn ich von Impulsmustern spreche, muss man sich diese immer auf Grundlage der Gehirnzellen vorstellen und nicht getrennt von diesen.

Padreic
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Sa 24. Jul 2004, 15:50 - Beitrag #20

@Maurice
Ich bin mir nicht ganz sicher, ob ich den Kern deines Essay-Ausschnittes verstanden habe. Um Missverständnissen vorzubeugen, will ich zunächst versuchen, die wesentlichen Punkte, so wie ich sie verstanden habe, zusammenzufassen.

Das Selbst kann ich nicht über das Selbstbleiben aller Teile definieren, weil dann das Puzzle-Problem auftreten würde. So wie aber beim Puzzle das Muster gleich bleibt, kann ich beim Selbst auch beobachten, dass der entscheidende Wert des Impulsmusters des Gehirns gleich bleibt. Darüberhinaus kann die Persönlichkeit nur dieselbe bleiben, weil sie stets aus demselben System hervorgegangen ist.

Wenn ich dich recht verstehe, führst du den Selbstheitsgedanken auf den Gleichheitsgedanken zurück, den der Gleichheit des entscheidenden Musters. Doch eben das verstehe ich nicht. Bleibt denn irgendetwas im Muster des Gehirns wirklich exakt (und das muss es ja, sonst könnte man nur noch von Ähnlichkeit und nicht von eigentlich Selbstheit sprechen) gleich? Ich schätze nicht.
Ich glaube nicht, dass es ein konstantes Selbstgefühl gibt. Wir fühlen uns stets als derselbe wie vor drei Minuten, aber auch immer auf unterschiedliche Weise. Eine Identität von Selbstimpulsmustern wird man wohl kaum feststellen können.
Wenn ich dich recht verstehe, beugst du mit dem Satz "Die Persönlichkeit wird aber immer dieselbe sein, weil sie immer aus demselben System entsteht." auch dem vor, dass eine Art von molekularen eins-zu-eins-Klon wirklich derselbe wäre, oder verstehe ich dich da falsch?

Und würdest du wirklich den Fingerabdruck als denselben über die Zeit hinweg betrachten? Der Finger selbst vielleicht, aber der Fingerabdruck bleibt doch nur derselbe in der Hinsicht, dass er hinreichend ähnlich ist, dass er noch demselben Menschen zugeordnet werden kann.

Padreic

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