Nun will ich mich mal wieder zu Wort melden, etwas später als geplant, aber mein RL forderte seinen Tribut. Wobei ich ehrlich gesagt nicht unfroh bin, daß ich ein RL mit einer Aufgabe und anderen Menschen habe...
Vieles ist gesagt worden von dem, was ich auch gesagt hätte, wero hat die Entwicklung sehr gut beschrieben, so wie ich sie auch sehe. Übertreibung...naja, cum grano salis...und Feuerkopf, Maurice, Padreic, rosalie verschiedene wichtige Aspekte näher beleuchtet.
Fragen...wo will der Jan hin, was bedeutet für ihn "Sein"? Was soll der merkwürdige Titel des threads?
Nun, die Richtung habe ich im ersten Beitrag aufgezeigt, wobei dies mein Vorschlag war, mein Gedanke in dem Moment, nicht gedacht die zukünftige Diskussion zu bändigen, noch bevor sie begonnen hat.
Der Titel leitet sich aus der Entstehung des threads ab.
Eine Diskussion über die philosophische Dimension der Abtreibung hatte sich der Frage der ethischen Wertigkeit des ungeborenen Lebens unter dem Aspekt gesundheitlicher Normabweichungen zugewandt. Ein Punkt, in dem sich ein Wertewandel im Umgang mit Schwächeren zu manifestieren schien.
Ist meine Wertschätzung auch für Schwächere, meine altruistische Seinskomponente (Teil meiner Persönlichkeit) nun Ausfluß meines Bewußtseins von der eigenen "Schwäche", Nichtnormgerechtheit?
Dann wäre Altruismus nur Ausfluß eines eigenen Selbstwertkampfes.
Oder ist Altruismus ein Wert, der generell auf dem Rückzug ist, wie wero es sieht und ich auch, und seltsamerweise bei mir und einigen anderen (und komischerweise gehäuft hier im Forum)noch haften geblieben?
Dann wäre eben zu fragen, worin sich dieser Wertewandel konkret manifestiert, und welcher Wandel welchen Wandel bedingt - der des Seins den des Bewußtseins oder vice versa?
Nun, der Verlust an Altruismus, Solidarität, Respekt, Gruppenidentität und spiritueller Verwurzelung scheint manifest zu sein
Im Gegenzug nehmen offenbar Selbstbestimmtheit, Individualisierung und materielle Selbstwertherleitung zu.
Ich für mich würde den Prozeß etwa am Ende der 60er Jahre beginnen lassen, und für mich hat er etwas mit dem sukzessive bis heute andauernden Verlust an Gruppenidentitäten und sozialen Milieus zu tun.
Bis dahin war die Sozialisation in doch relativ hohem Maße durch schichtspezifische Wertesysteme gekennzeichnet, wobei die eigene Schicht sowohl ein Eigenwertgefühl vermittelte wie auch ein Gefühl der Eingebundenheit und des Gruppenwertgefühls. Auch wenn Arbeiter relativ wenig zur politischen Willensbildung beitrugen, war doch der Satz "Alle Räder stehen still, wenn Dein starker Arm es will" geeignet, der in der restlichen Geselleschaft weniger angesehenen Schicht einen Wert zuzuweisen und Gruppensolidarität zu stiften.
Zugleich waren diese Milieus aber auch soziale "Enklaven", die wenig durchlässig waren z.B. für "Aufsteiger". Auch nach Abschaffung des Schulgeldes ging eine gute Grundschülerin aus dem Arbeitermilieu eher auf die Realschule als auf das Gymnasium und absolvierte anschließend eine Lehre.
Auch diese Durchlässigkeit wurde erhöht, durch Änderungen im Schulsystem gezielt unterstützt, womit freilich auch eine wertmäßige Degradation der Hauptschule verbunden war.
Es wäre gewiß einmal interessant, die Entwicklung der Herkünfte der classe politique im Laufe der Zeit zu untersuchen, auch hier sind heute sicher mehr Menschen aus früheren Arbeitermilieus und peripheren Landschaften vertreten. Aber das wäre ein anderes Thema...
Mit dem Verlust der schichtspezifischen Sozialisation war dann aber auch ein Paradigmenwechsel verbunden im Bezug auf Solidarität und den Bezug zwischen Eigen- und Gemeinschaftswohl. Der "Aufsteiger", der in Eigenleistung seiner Schicht ent-kommen konnte, wurde zum Vorbild, solange die Leichen nicht allzu offensichtlich waren, die seinen Weg pflasterten. Anstelle der sozialen Gruppen wurden neue Subkulturen wie Fangruppen usw. und die Musikgruppen auf die sie sich bezogen zu neuen wertgebenden Entitäten, ohne daß diese sich dessen bewußt gewesen, geschweige danach gehandelt hätten.
Das Eigene, die Selbstverwirklichung wurde zum bestimmenden Wertmaßstab, der Altruismus durch Hedonismus ersetzt.
Und nach den idealisten der 60 er Jahre waren es diese Hedonisten, die den Marsch durch die Instanzen antraten.
O tempi, o mores...
Aus einem antiquierten Blickwinkel könnte man die Entwicklung als Machtgewinn der Dummen, weniger Gebildeten charakterisieren. Maurices Satz
Mal eine krasse These: Wenn dummen Menschen Freiheiten gegeben werden, tun sie unvernünftige Sachen. Also weniger Frieheit für dumme Menschen?
stellt diese mögliche Sichtweise entsprechend distanziert dar.
Nun, vielleicht ist der Blickwinkel gar nicht so falsch, vielleicht haben wir es tatsächlich mit einem Verlust an Intelligenz zu tun, an sozialer Intelligenz...
Und vielleicht damit an etwas, das uns Menschen zu Menschen macht.
Es gibt nämlich starke Hinweise darauf, daß die Sorge auch um verletzte oder kranke Artgenossen z.B. durch Erhaltung geistigen Potentials zum Überleben der Frühmenschen als eigentlich ökologisch nicht besonders fitter Art beigetragen hat. So gesehen wäre die Entwicklung des Altruismus unsere Bestimmung und unser Schicksal hinge teilweise davon ab.
Nun wird der Hedonismus häufig gerechtfertigt, unter anderem damit, das Streben nach dem individuellen Glück sei nun mal ein wesentliches Recht des Einzelnen. Als pursuit of happiness ist dieser Punkt in die amerikanische Verfassung eingegangen - übrigens lange vor den hier behandelten Vorgängen.
rosalie schrieb:
das Streben nach Glück ist für mich der Anfang der Weisheit. Glück ist ja nicht kurzfristige Genußbefriedigung. Glück ist eine innere Einstellung, die auch äußeren Mißständen standhält. Und ohne den vorhanden "positiven Egoismus" kann ich eigentlich gar nicht richtig andren helfen. Denn dann artet dies in eine Art Unterwürfigkeit aus, die dann unzufrieden und unglücklich macht.
und beschreibt damit den Glücksbegriff im Sinne dessen, was an genannter Stelle mit happiness gemeint ist. Das Glück des Hedonisten ist davon deutlich entfernt.
Auf dem Weg in den Abgrund oder alles wie gehabt?
Nun, manches an dem konstatierten ist nicht neu, "concordia parval crescunt, discordia magna dilabuntur" schrieb meine ich Cicero und ein Geschichtslehrer in mein Poesiealbum. Und doch, jede Runde beginnt wenn unter neuen Vorzeichen, jedem Anfang wohnt ein neuer Zauber inne.
Und wo Gefahr ist...da wächst vielleicht eine neue Weltanschauung, die neue Möglichkeiten geriert.
In dem Maße, wie die tradierten Anschauungen des christlich-abendländischen Weltbildes schwanden, wurden Anschauungen östlicher Religionen zu einer Art Ersatzreligion verwoben, die nicht nur in Althippiekreisen und New-Age-Anhängern ihre Spuren hinterlassen hat, sondern unausgesprochen wesentliche Motive zum hedonistischen Menschenbild beigetragen hat.
Ein Motiv hieraus, das der kollektiven Verbundenheit der Menschen untereinander (und, weiter gedacht, mit dem Rest des Universums) wird dabei geflissentlich übersehen, könnte jedoch erneut sinn- und wertstiftend wirken.
Wäre solch eine Weltsicht wirklich adäquat, welche Implikationen wären mit ihr verbunden?