Das Sein bestimmt die Normierung des Bewußtseins?!

Auf der Suche nach dem Sinn des Lebens und der Wahrheit.
janw
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Mi 14. Jul 2004, 14:20 - Beitrag #1

Das Sein bestimmt die Normierung des Bewußtseins?!

So, um denn mal das Öl vom Feuer zu nehmen...

Der Wertewandel in dieser unserer Bundesrepublik ist evident und nicht nur auf die Bewertung des ungeborenen Lebens bezogen.
Was macht diesen Wertewandel aus, wodurch wird er erzeugt, womit könnte ihm, wenn er als negativ empfunden würde, begegnet werden?

Fragen, die nach Antwort rufen.

Einen Einstieg dazu gibts hier!

Weroansqua
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Mi 14. Jul 2004, 15:01 - Beitrag #2

Ich bin richtig erleichtert, dass du diesen Wertewandel als gegeben hinstellst. Bisher war ich mir nicht sicher, ob das nicht einfach mein ureigener subjektiver Eindruck war - ob ich also einfach unter Paranoia leide.

Wenn ich heute so zurückblicke: Was war vorher anders?

Die Menschen haben sich nach persönlicher Erfüllung, Liebe, Glück, Sicherheit gesehnt, ebenso wie heute. Aber im Laufe der Zeit haben sie ihr persönliches Glück immer mehr von anderen Dingen abhängig gemacht.

War es früher eher so, dass die Menschen mehr zusammen gearbeitet haben, treten sie heute eher als Einzelkämpfer auf. Ich sehe weniger Miteinander, dafür mehr Gegeneinander. Die Menschen werden immer egoistischer, denke ich. Und damit wandelt sich vermutlich auch das Bild dessen, was sie für sich als wertvoll definieren.

Während mir als Kind noch eingebleut wurde, dass Höflichkeit und Freundlichkeit selbstverständlich sein sollte, gilt dasselbe Verhalten heute als Zeichen von Schwäche oder gar als Kriecherei.
Während in meiner Jugend jeder von einer möglichst lang dauernde Beziehungen anstrebte, ist es heute im Gegenteil sogar erwünscht, sich sexuell in möglichst viele Richtungen zu orientieren; wer es schafft, die Vorteile einer Beziehung zu genießen und trotzdem ungehemmt promiskuitiv zu leben, gilt als "toller Hecht".
Während früher Familie, Freunde, Hobbies einen großen Stellenwert hatten, scheint heute nur noch das zu gelten, was man für Geld kaufen kann.
Was früher als Frechtheit gilt, gilt heute als "cool" und ist "angesagt".
Ich hätte mich geschämt, hätte ich je gemerkt, dass Menschen Angst vor mir haben. Heute gilt: Wer gefürchtet ist, der hat nichts zu befürchten, weswegen schon Zehnjährige mit Fahrradketten aufeinander losgehen.
Früher wurde gebeten, heute wird gefordert.
Nehmen war immer mit Geben verbunden - heute gibt es immer mehr Schlauberger, die wissen, wie sie für stets die gleiche oder gar sinkende Leistung ständig wachsende Gegenleistung abpressen.

Irgendwann hat sich irgendwie alles verändert. Und immer nur zum Schlechten. Dass Söhne ihre Mütter verprügeln, Kinder Amok laufen, Mütter ihre Babies zu Tode quälen, Väter ihre Töchter missbrauchen oder prostituieren, Priester Kinder vergewaltigen, Ärzte Experimente an Menschen durchführen mag auch früher gegeben haben. Aber nie so massiv wie heute. Was früher noch wochenlang für Schlagzeilen gesorgt hat, ist heute schon Alltag, den man nach zwei Minuten achselzuckend vergisst. Wem kann man heute noch vertrauen?

Und es wird immer schlimmer.
Und die Menschen werden immer egoistischer und immer kälter.
Und die Geltungssucht nimmt immer weiter zu, und das Verständnis nimmt immer weiter ab.

Ein schleichender Prozess, dessen Anfänge ich vermutlich nicht bewusst mitbekommen habe, doch irgendwie scheinen die Anfänge in den späten Sechzigern oder frühen Siebzigern gelegen zu haben.

Was ist damals passiert?

Maurice
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Mi 14. Jul 2004, 15:30 - Beitrag #3

@Wero: Definierst du unter "früher" nur deine Kindheit, oder die allgemeine Vergangenheit?

Ich sehe es nicht so, dass der Egoismus des Menschen sich im Laufe der Zeit besonders verändert hat, ich finde er läuft heute eben nur in anderen Bahnen ab als früher. Warum waren die Menschen früher tendenziell freundlicher, als heute? Weil es die Gesellschaft noch stärker einforderte und sie sich nach den Maßstäben halten mussten um entsprechend akzeptiert zu werden. Höflichkeit aus Egoismus. Es ist ja heute nicht so, dass die Höflichkeit qusi abgeschafft worden wäre, es wird eben nur oft weniger wert auf diese gelegt. Wer zu einem Vorstellungsgespräch geht oder im Service-Bereich arbeitet muss sehr wohl freundlich sein, und wenn er es nicht ist, dann hat er ein Problem. Aber tut er das aus selbstlosen Gründen? Bestimmt nicht. Hier kommen wir aber wieder zu dem allgemeinen Problem nach passenden Definitionen von "Egoismus" und "Altruismus", weil wenn man Altruismus als selbstloses Handeln definiert, dann gibt es ihn nicht. Dies hatten wir auch schon ín einem anderen Post diskutiert und kahmen, wnen ich mich recht erinnere zu dem Schluss, dass Altruismus als Handeln bezeichnet werden soll, das das streben nach eigenem Nutzen bewusst in den Hintergrund stellt und wenn möglich auf materielle Güter verzichtet. Gibt es heute weniger Altruismus als früher? Ja dazu müssen wir das "früher" näher definieren. Heißt früher vor 20 Jahren, vor 50, vor 100 oder vor 300 Jahren? Diese Zeitspannen sind alle früher, aber wir wollen hier ja bestimmt nicht über alle sprechen. Ich habe vor 50 Jahren noch nicht gelebt kann von daher auch diese Zeit nicht beurteilen. Selbst die Zeit vor 20 Jahren könnte ich nicht aus eigener Erfahrung heraus beurteilen und ich denke ich bin hier im Forum bei weiten nicht der einzige. Wollen wir nun einen Vergleich zwischen diesem "früher" und heute ziehen, dann halte ich den Thread hier schon wieder für frafwürdig und frage, ob er nicht besser unter Diskussionen passt, weil es doch sehr allgemein ist. Sprechen wir hingegen über das, was wie es mir scheint das Thema des Threads ist, dann ist er hier wohl am besten aufgehoben.
Aber dann habe ich gleich mal eine Frage an den Autor: Was heißt für dich "das Sein"?

Noch kurz eine Anmerkung zu dem vorangegangen Post: Ich glaube nicht, dass der Mensch heute deutlich aggressiver ist, wie noch vor ein paar Jahren, die Aggressivität an sich ist wohl genetisch veranlagt und genetisch haben wir uns seit ein vielen tausend Jahren nicht mehr verändert. Dass diese Aggressionen sich heute aber wie es scheint mehr in Gewalt äußert, müsste imo an einer schlechteren Erziehung und Sozialisation liegen. Abgesehen davon frage ich ernsthaft, ob es heute wirklich so viel mehr Gewalt gibt? Vor nicht allzu langer Zeit wären Mord und Vergewaltigung noch etwas Außergewöhnliches in den Medien gewesen, wenn ich dich recht verstehe, wobei sie heute alltäglich seien. Ist aus der Medienpräsens wirklich sicher auf die Anzahl der Gewaltverbrechen zu schließen? Wenn heute nur mehr darüber berichtet wird als früher, aber die Zahlen sich nicht viel verändert haben, dann kommt es uns nur so vor, als wären die Verbrechen mehr geworden, dabei werden sie nur häufiger genannt. Ich habe jetzt leider keine Statistiken zur Hand, wäre bestimmt informativ, wenn uns da jemand weiterhelfen könnte. Ich glaube eben nur nicht, dass die Menschheit immer böser und dümmer wird, als sie in früheren Zeiten war, sie war doch nie anders....

Da ich den Thread aber nicht als reine Diskussion über "den Werteverfall in Deutschland" sehe, weil er sonst hier nicht stehen würde, sollten wir uns allgemein der Frage widmen, was einen Wertewandel mit sich ziehen kann und dies höchsten am Beispiel BRD erleutern. Das ist durchaus eine andere Schwerpunktsetzung.

@Janw: Hast du eine bestimmte Intension in welche Richtung sich der Thread bewegen soll, oder soll hier wirklich allgemein um Wetewandel gesprochen werden? Kann man über das Thema allgemein überhaupt gut diskutieren, was ja auch bedeuten würde sich eben nicht nur an einem beispiel abzuarbeiten?

Rosalie
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Mi 14. Jul 2004, 20:22 - Beitrag #4

Werte wandeln sich immer von Gesellschaft zu Gesellschaft. Aber ich denke besonders auffällig hat sich ein Wandel im Denken und Handeln der Menschen ab den späten Fünfziger Jahren vollzogen. Dabei sehe ich einen größeren Unterschied in den "Werten" der Fünfziger im Vergleich zu den Werten der "Siebziger" (wenn ich es mal so formuliere) als der letztgenannten zur heutigen Zeit.

Die Gründe sind - wie bei allem - sicher vielfältig. Ein nicht zu unterschätzender Grund ist sicherlich, dass die Menschen sich seit den Sechzigern zunehmend autonomer fühlen. Ein Mensch, welcher sich keinem höheren Ideal verpflichtet fühlt, der ohne sich Gedanken zu machen in den Tag hineinlebt, gerät leicht - und ich spreche hier von der Masse der Menschen, nicht von Einzelnen - in einen egoistischen Sog. Was dann in der sogenannten "Fun-Generation" oder im andren Extrem in der totalen Depression enden kann.

Ein Gegenmittel? Nicht mehr rein materialistisch Denken, sondern sich Gedanken über Sinn und Zweck unsres Hiersein machen... das wäre bestimmt ein Anfang.

Rosalie

Maurice
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Mi 14. Jul 2004, 21:01 - Beitrag #5

Mal eine krasse These: Wenn dummen Menschen Freiheiten gegeben werden, tun sie unvernünftige Sachen. Also weniger Frieheit für dumme Menschen?
Ist jetzt bewusst übertrieben formuliert. ;)

Der Sinn und Zweck warum wir hier sind? Meinst du damit, dass wir uns alle dem Gedanken annehmen sollte, wir wären mit einer bestimmten Aufgabe zur Welt gekommen? Ich werde wohl richtig in der Annahme gehen, dass du damit auf Inhalte deines religösen Glaubens abzielst, aber denkst du wirklich, dass das reine Nachdenken über die Frage schon zu deiner Antwort führt? Könnte ich als Atheist überhaupt zu deiner Antwort kommen?
Wenn jemand über die Frage nachdenkt und seine Antwort darauf lautet "ich bin hier um Spaß zu haben", dann wird er deshalb bestimmt nicht sein verhalten ändern. Was willst du ihm auch darauf entgegnen?

Aber nun der Versuch etwas allgemein über die Frage zu sagen, weil sie hier wohl eben auch allgemein gemeint ist:
Wertewandel können durch verschiedene Ereignisse stattfinden. Ein Machtwechsel in der Politik, der sogleich ein Systemwechsel ist notwendiger Weise mit einem Wertewandel in der Bevölkerung verbunden, wollen die neuen Machthaber das neue System durchsetzen. Durch neue politische Inhalte soll die Bevölkerung auf die neuen Ideale umerzogen werden. Beispiele aus Deutschland kennen wir ja.
Wertewandel in religöser Sicht sind wohl noch problematischer, als in der Politik. Während die Politik sich damit zufrieden gibt, wenn die Menschen sich nach ihren Regeln verhalten will eine Religion ja auch immer das Denken der Menschen verändern. Nach gewissen religösen Idealen zu leben ist zwar für die religösen Führer wichtig, aber muss auch ein echter Glauben dahinterstehen. Dass dies natürlich eine andere Schwierigkeit darstellt, als die Menschen nur zu einem gewissen Handeln zu bewegen versteht sich wohl von selbst.
Während politische Wandel immer wieder vorkommen, sind religöse Wandel nur sehr selten. Dies bezieht sich jetzt auf eine ganze Region, weniger aber auf die rein individuelle Ebene, bei der sich durchaus auch Glaubenssysteme ändern können.
Einen entscheidenen Wertewechsel können auch die Naturwissenschaften einleiten. Menschen die sich sehr an diesen orientieren können auf grund den wissenschaftlichen Fortschritten auch ihre Urteile über Dinge verändern. Diese Veränderung besteht imo primär in der "Entzauberung der Welt" durch die Naturwissenschaft. Die Dinge in der Welt werden durch eine materielle naturwissenschaftliche Sicht "vedinglicht" und werden damit tendenziell weniger mit irgenwelchen "Mysterien" verbunden. Keine Naturgeister, keine Dämonen, keine Elementargeister, keine Seele und keine heiligen Kühe, durch diese "Entweihung" der Welt verlieren die Dinge auch an ideellen Wert.
In unserern heutigen Welt spielt aber wohl die Medien die größte Rolle. Von Wert ist das, was sich die Masse durch die Medien einreden lassen. Bestehende Wertevorstellungen wie Wohlstand, Reichtum Luxus, Freiheit, Unabhängigkeit, Individualität und Erfolg werden weiter verstärkt und brennen sich in das Denken der Menschen ein. Dabei erfinden die Medien das Rad nicht neu, sondern gehen nur auf bestehende Wünsche der Menschen ein um daran zu verdienen. Wird ein abnehmendes soziales Verhalten bemängelt, so ist das wohl auch auf diese Verstärunk der oben genannten Werte zurückzuführen. Freiheit und Unabhängigkeit passen halt weniger zu einer Hausfrau und Mutter, deshalb muss die Frau von Welt um nicht schief angeguckt zu werden auch möglichst erfolgreich sein.
Aber bei den Thema Medien landet man wieder zu schnell bei der reinen Behandlung unserer Gesellschaft, deshalb sollen die letzten Zeilen auch nur ein kleiner Exkurs darstellen.

Rosalie
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Mi 14. Jul 2004, 23:40 - Beitrag #6

Sinn und Zweck warum wir hier sind? Meinst du damit, dass wir uns alle dem Gedanken annehmen sollte, wir wären mit einer bestimmten Aufgabe zur Welt gekommen?
ich finde schon, um Werte zu haben (und um diese geht es in diesem Thread) gehört es in erster Linie dazu, sich Gedanken um den Sinn unsrer Existenz zu machen. Ob man dabei automatisch auf eine Antwort stößt und wie diese dann ausfällt, ist naturgemäß von Person zu Person verschieden.


Das Problem unsrer heutigen "Gesellschaft" ist doch dieses, dass sich darum kaum mehr ein Mensch schert. Was bewegt die Menschen? Ist der nächste Urlaub sicher, ist meine Rente sicher ... ? dies jetzt auch mal überspitz formuliert! Natürlich sind diese Dinge von immensem Belang, aber sie sind nicht das allerwichtigste. Die Werte, die ich "lebe", hängen eben von dem Ziel ab, welches ich anstrebe. Wenn mein ausschließliches Ziel ist, z.b. viel Geld zu haben für irgendwelche Wünsche, werde ich alles daran setzen, dieses zu erreichen. Warum sollte ich dann - sofern ich nicht noch andre Ideale(und damit meine ich nicht nur religiöse, lieber Maurice) habe - nicht vor einem Banküberfall zurückschrecken? Ja ... doch, die Angst vor dem Erwischtwerden und dem drohenden Gefängniss können mich davon abhalten. Aber wenn ich mutig genug bin und mir denke ich stelle es intelligent genug an .... dann hält mich nichts mehr zurück .....
Könnte ich als Atheist überhaupt zu deiner Antwort kommen?
das hoffe ich doch sehr... :)
Ich kann niemanden daran hindern, auf den Gedanken zu kommen,dass sein ausschließlicher Lebensinn "Spaß haben" ist. Und viele Menschen (wenn man den Medien so glauben soll und darf - meine privaten Beobachtungen, auch und gerade mit jungen Leuten lehren mich was ganz andres) kommen anscheinend zu diesem Ergebnis. Nur bezweifele ich ernstlich, dass dies einer reiflichen, intensiven gedanklichen Auseinandersetzung entsprungen ist. Aber auch dies ist natürlich möglich. Doch dann sind all die von Dir genannten Instutionen (Politik, Religion, Wissenschaft, Medien....)gefordert, den Menschen vor dem Menschen zu schützen bzw. ihm durch ihre mannigfaltigen Möglichkeiten (jeder in seinem Bereich) Wege zu weisen, die das Miteinander "menschlicher" oder "wertvoller" im Sinne von Werten gestalten.

Aber da sind wir wieder beim Ausgangspunkt. Was ist wenn Politik, Religion, Wissenschaft, Medien ... selbst keinerlei Werte mehr besitzen....... ja dann - sind wir da nicht wieder bei der Sinnsuche?

Rosalie

Maurice
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Do 15. Jul 2004, 00:25 - Beitrag #7

Original geschrieben von rosalie
ich finde schon, um Werte zu haben (und um diese geht es in diesem Thread) gehört es in erster Linie dazu, sich Gedanken um den Sinn unsrer Existenz zu machen. Ob man dabei automatisch auf eine Antwort stößt und wie diese dann ausfällt, ist naturgemäß von Person zu Person verschieden.

Muss man sich wirklich über den Sinn des Lebens Gedanken machen um Werte zu vertreten? Die meisten Werte die jemand besitzt stammen doch aus einer Zeit, aus einer Zeit, wo er sich noch gar keine Gedanken über den Sinn des Lebens machen konnte. Ehrlichkeit, Höflichkeit, Freundlichkeit, Zuverlässigkeit, Pünktlichkeit usw. diese ganzen "Grund-Werte" wie ich sie mal bezeichnen will, haben wir doch schon aus unserer Kindheit. Wenn wir also den Sinn des Lebens hinterfragen sollten, dann entsteht daraus doch nicht erst die Werte, die meisten Werte haben wir doch schon vorher. Was das philosophische Nachdenken kann (um es mal über die Frage nach dem Sinn zu erweitern), ist die eigenen Wertevorstellungen zu hinterfragen und eventuell zu überarbeiten. Ob für so eine mögliche Überarbeitung die Frage nach dem Sinn primär notwendig ist will ich bezweifeln. Ich stimme dir aber in soweit zu, dass die kritische Frage (und wohl nur die kritische) nach dem Sinn die eignen Wertevorstellungen durchaus verändern können. Doch wer fragt schon kritisch nach dem Sinn? Wohl jeder hat sich schon mal darüber Gedanken gemacht, aber wohl die wenigsten tiefgehende.
Da fällt mir das Gespräch mit einer 14 Jährigen über ICQ vor ein paar Tagen ein, die meinte sie und ihre Klassenkammeradinnen hätten sich auch shcon viele Gedanken über den Sinn des Lebens gemacht, weil sie mal als Hausaufgabe auf hatten ihre Gedanken dazu zu schreiben. Ich habe ihr dann bewiesen, dass sie sich zwar Gedanken über das Thema gemacht hat, aber keinen Falls tiefgehende. :D Aber keine Sorge ich habe sie nicht in eine Sinnkriese gestürzt... obwohl ich es wohl gekonnt hätte. ;)
Man kann jetzt sagen "hey die war 14 Jahre als, was erwartest du?", und ich stimme auch zu, dass man von sojemanden noch keine wirklich tiefgehenden Überlegungen erwarten kann, aber machen es die meisten Erwachsenen besser?
Es soll hier ja auch gar nicht wieder um die Sinn-Frage gehen, sondern um Werte, aber um diese zu hinterfragen bedarf es eben philosophischen Denkens.


Könnte ich als Atheist überhaupt zu deiner Antwort kommen?

das hoffe ich doch sehr...

Damit meinte ich jetzt nicht, ob ein Atheist auf die Werten kommen könnte, die du hast, sondern ob er auf die selbe Begründung deiner Werte kommen könnte. Tut mir leid, es war etwas ungeschickt formuliert. Das spielt hier aber auch weniger eine Rolle. :)

Wenn mein ausschließliches Ziel ist, z.b. viel Geld zu haben für irgendwelche Wünsche, werde ich alles daran setzen, dieses zu erreichen. Warum sollte ich dann - sofern ich nicht noch andre Ideale(und damit meine ich nicht nur religiöse, lieber Maurice) habe - nicht vor einem Banküberfall zurückschrecken?

Aus einem reinen kurzsichtigen Egoismus heraus spricht imo auch nichts dagegen eine Bank auszurauben, wenn man sich sicher fühlt. Wie gesagt aus rein kurzsichtigen Egoismus...

(...)wenn man den Medien so glauben soll und darf - meine privaten Beobachtungen, auch und gerade mit jungen Leuten lehren mich was ganz andres(...)

Könntest du darüber ein wenig erzählen, das klingt interessant. :)

Nur bezweifele ich ernstlich, dass dies einer reiflichen, intensiven gedanklichen Auseinandersetzung entsprungen ist. Aber auch dies ist natürlich möglich.

Nach meinen bisherigen Überlegungen bin ich durchaus zu dem Schluss gekommen, dass es der Sinn für jeden ist glücklich zu sein. Das ist das Produkt eines langen Denkprozesses, und ich denke diese Aussage wirst du bestimmt nicht einfach kategorisch ablehnen, oder? :)
Der Fehler der imo gemacht wird, ist diese Streben nach Glück vorschnell in die egoistische Ecke zu stellen, und zwar in die Ecke von Egoismus, die wir allgemein als schädlich bezeichnen. Es gibt ja auch einen positiven Egoismus, aber da kommen wir möglicherweise wieder in Definitonsprobleme. Es kann auch einne glückliche machen anderen zu helfen, und diese Form des Glückstrebens wirst du ganz bestimmt auch zustimmen. Man kann auch Spaß daran haben mit anderen zusammen zu sein, sich zu unterhalten, etwas zu unternehmen usw. Was wir hier aber an der Spaßgesellschaft kritisieren ist nicht der Wunsch diese Art von Spaß zu haben, sondern kurzsichtig auf den Spaß fixiert zu sein ohne nach links und rechts zu sehen.
Die Frage, wie man den Mensch zu einem überlegteren und vernünftigeren Verhalten erziehen kann, wird wohl kaum auf die schnelle zu beantworten sein.

Es ist schon spät, deshalb mache ich hier schluss. Ich bin mir leider immer noch sehr im Unklaren, welche Vorstellung der Autor über den Verlauf dieses Threads hat und hoffe, dass wir mit unseren bisherigen Beiträgen nicht den falschen Weg eingeschlagen haben.

Weroansqua
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Do 15. Jul 2004, 08:51 - Beitrag #8

Hallo Maurice und Rosalie,

natürlich will ich den Thread nicht in eine Diskussion über einen Werteverfall in der BRD abändern. Ich bin rhetorisch nur nicht allzu beschlagen und greife deshalb gern auf Beispiele zurück, um meine Fragen zu verdeutlichen. Die Beispiele kann ich aber nur aus meiner eigenen Erfahrungswelt schöpfen, um nicht zu sehr ins Theoretische abzugleiten oder auf die Erfahrungen anderer (die ich teilweise selbst gar nicht verifizieren kann oder die meiner eigenen Erfahrung widersprchen) zurückgreifen zu müssen.

Das beantwortet auch schon die Frage, wie ich "die Vergangenheit" definiere. Ich meine die Veränderungen, die sich innerhalb meiner eigenen Lebenszeit miterlebt habe und die - so sieht es wenigstens für mich aus - keinen kontinuierlichen Entwicklungsprozess kennzeichnen, sondern ziemlich abrupt und sprunghaft zu verlaufen scheinen. Zudem kommt es an dem Punkt, der ein zufriedenstellendes Optimum darstellt, zu einer Art von Maßlosigkeit, die dazu führt, dass der Bogen überspannt wird und man von einem Extrem ins andere fällt.

Wie soll ich das erklären? Herr, lass es Worte regnen... Ich versuch's mal:

dunkel - hell - grell
farblos - bunt - schreiend
nichtssagend - aussagekräftig - aufdringlich

Verstehst Du, worauf ich hinaus will?

Was mich interessiert sind die Faktoren, die zu diesem Bogen-Überspannen führen. Liegen sie in der menschlichen Natur? Sie kommen doch sicher nicht von ungefähr. Wer löst sie aus? Woran liegt es, wenn niemand erkennt: "Hier sollte besser Schluss sein?"
Was löst dieses Verhalten aus, und: Kann man etwas dagegen tun? Woher kommt diese Gier nach immer mehr, und woran liegt es, dass wir nicht lernen, dass "mehr" nicht unbedingt auch "besser" bedeutet? Weshalb hört dieses Steben nach schneller, höher, lauter, spektakulärer erst dann auf, wenn das ursprüngliche Ziel bis ins Groteske verzerrt ist - und nicht einmal dann?

Wieso drücken wir uns heute in Neologismen aus, die dadurch entstanden sind, dass man vorhandene Begriffe mit Superlativen paart, wie "superschnell", "megageil", "hyperirgendwas". Was kommt danach? Die Steigerung der Steigerung?

Wie Rosalie schon richtig bemerkt hat, ist die Zeit ab den Siebzigern des vergangenen Jahrhunderts ein auffallendes Beispiel. Diese Zeit wurde von einem wahren Paradigmenwechsel, was ideelle Werte betrifft, gekennzeichnet. Was früher gut war, ist heute schlecht, und umgekehrt.

Beispiele:
Die sexuelle Revolution. Sicher hat sie einiges Gute gebracht, ich hoffe, nach meiner Generation hat sich kein Mädchen mehr eingebildet, es müsse sterben, nur weil unerklärliche Blutungen eingesetzt haben. Sie hat uns von überflüssigen Tauisierungen und damit Schuldgefühlen befreit und dafür gesorgt, dass es heute als normal gilt, ein Recht auf die eigene Lust zu haben. Gleich, ob man die Promiskuität oder die Treue, hetero- oder homosexuell ist oder zu bestimmten anderen Spielarten wie SM neigt. Das war sicher gut. Hier hätte man stoppen sollen.
Stattdessen: Worüber man früher gar nicht reden durfte, damit wird man heute bis zur Übersättigung totgequasselt. Sex wurde von der Liebe getrennt und teilweise kommerzialisiert. Man kommt um das Thema nicht mehr herum, es wird einem überall präsentiert, in sämtlichen Medien - nicht einmal ein Drama kommt heutzutage über die unvermeidlichen Bettszenen aus. Und spätestens, wenn einem von allen Seiten erzählt wird, das man "langweilig" sei, wenn man das Kamasutra nicht rauf und runter beherrscht und mindestens 26 Stellungen im Repertoire hat, dass man prüde ist, wenn man bis zur Heirat nicht mindestens je einmal Swinger-Club, Partnertausch und gleichgeschlechtliche Beziehungen ausprobiert hat, dass man eine Bildungslücke hat, wenn man nicht weiß, wo der G-Punkt sitzt, und man vermutlich den falschen Partner hat, wenn das Vorspiel nicht exakt 21 Minuten dauert - spätestens dann haben die neuen Wettbewerbsansprüche die alten Schuldgefühle von damals abgelöst, und ich frage mich, was mir diese Revolution denn gebracht haben soll, wenn bloß neue Zwänge die alten ersetzen? Zumal mit dieser extremen Überbewertung ja wieder weitere Zwänge im Bereich Jugendwahn und Körperkult verbunden sind. Muss ich mir wirklich mit 17 schon Silikonkissen einsetzen lassen, um dem Anspruch, "ein megageiles Teil" zu sein, Genüge zu tun?

Ein weiteres Beispiel ist der Übergang in den Siebzigern zur "antiautoritären Erziehung". Plötzlich war um der Selbstfindung willen alles erlaubt, nichts mehr verboten. Sicher hat dies vielen Kindern bei der Entwicklung einer eigenständigen Persönlichkeit geholfen, aber auch hier wurde der berühmte Punkt wieder überschritten: Statt übertriebener Grenzen gab es gar keine mehr. Plötzlich war Leistungswille Strebertum, Höflichkeit Ar***kriecherei, Kompromissbereitschaft "was für Weicheier". Dreistigkeit und Frechheit galten als Ausdruck von Willensstärke und wurde belohnt. Die Popkultur (damals: Alice Cooper, The Sweet, KISS, ist vielleicht dem einen oder anderen noch ein Begriff) kommerzialisierten den Trend zur Ablehnung alles Althergebrachten. Der eine zerdrosch seine Gitarre auf offener Bühne, der andere zog sich die Hosen herunter und zeigte dem Publikum das nackte Gesäß. Doch dieses nahm die Respektlosigkeit nicht etwa übel, nein: Man wurde heillos bewundert, wenn man sich "so was traut", und alles, was bewundert wird, findet schnell Nachahmer. Damals kam erstmals die Bezeichnung "Spasti" für Behinderte auf, "Windelpisser" für ältere Menschen, die Frau wurde zur "Tussi", der Mann zum "Stecher". Kritik kann heute durchaus mit dem Satz: "Ey, willste in die Fresse, Alte, bist wohl Scheiße im Kopp" beantwortet werden. Nichts und niemandem mehr Respekt zu zollen, sich über alles und jeden inclusive des eigenen Partners und der eigenen Familie abfällig zu äußern und um keinen Preis der Welt auf andere Rücksicht zu nehmen gilt als "angesagt" und als äußerstes Zeichen von Coolness.

Ich habe die Frage schon dreimal gestellt: Wer oder was hat uns dieses Verhalten einprogrammiert? Und: Warum gibt es immer nur ganz wenige, die sehen, dass da irgendwas nicht stimmen kann? Warum akzeptieren wir in kurzer Zeit auch das schlimmste als normal, und reagieren nicht mehr darauf? Sind wir alle hypnotisiert? Wenn ja, von wem?

Rosalie
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Do 15. Jul 2004, 13:49 - Beitrag #9

Hallo Maurice,

sicher die ersten Werte bekommen wir in unsrer Kindheit von den Eltern vermittelt. Aber was ist, wenn die Eltern selbst keine vermittelbare Werte mehr kennen, oder wenn die Eltern kaum Zeit haben für die Erziehung ihrer Kinder und das Fernsehen und das soziale Umfeld dies übernimmt? (ich glaube dies hatten wir schon irgendwo in diesem oder nem ähnlichen Thread) Vielleicht konnte man sich in Zeiten, in denen die Elterngeneration selbst noch in der Lage war Werte weiterzugeben (und ich spreche hier immer von der Masse - nie von Einzelen!!) , darauf verlassen, das ein Menschenkind ein gewisses "Maß an Grundwerten" mit auf den Weg bekommt.

Aber da dies doch heute oftmals nicht mehr so der Fall ist, muß jeder für sich seine Werte "erarbeiten". Dies bringt sicherlich viel mehr Menschen zum Nachdenken als früher, wo es eben von Staat, Kirche und sozialem Umfeld vorgegeben war, "wie man sich zu verhalten habe". Es gab einen gewissen Druck und die meisten gaben diesem nach .... wenn man so war wie alle, fiel man nicht auf, ohne sich darüber GEdanken zu machen ob dies sinnvoll sei.

Natürlich ist "dieser Druck" auch heute in anderer Form vorhanden. Wie Weroansqua schreibt, scheint dies in einer immer weiteren Steigerung der Primitivität zu sein. Aber spiegeln da die Medien die Wirklichkeit wieder? Sicher gibt es primitive Menschen - aber die gabs schon immer, heute haben sie halt ne Lobby. Ich habe durch meine Söhne viel mit jungen Menschen zu tun und ich finde, die machen sich teilweise mehr Gedanken (und dies spiegelt sich ja auch hier im Forum wieder) über Verhaltensweisen oder Werte, als wir dies in den siebziger taten. Kann natürlich daran liegen, dass damals noch einiges vorgegeben war und heute man quasi bei einem Nullpunkt anfängt.

Dieser Paradigmenwechsel den Du Weroansqua beschreibst, hat stattgefunden. Nun sind die Kinder dieser Generation schon wieder junge Erwachsene und ich denke, der Pendel schwing allmählich wieder zurück - hoffentlich nicht ins andre Extrem!!! Großen Einfluß auf diesen "Wechsel" hatte mit Sicherheit - und dies soll jetzt keine negative Wertung sein - die Popkultur, die Musik der ... ja wo fing es an? In den 50er mit Elvis?... vielleicht...durch diese für die damalige Generation ganz neue Musik, entstand auch ein neues Lebensgefühl. Dadurch wurden viele "alte Zöpfe abgeschnitten", aber scheinbar auch "das Kinde mit dem Bad ausgeschüttet" - um mal in Slogans zu reden ... aber ich denke, Ihr wißt was ich meine. Dazu kam Anfang der sechziger Jahre eine totale Veränderung der katholischen Kirche (die ja zum damaligen Zeitpunkt noch Einfluß auf einen große Teil der Bevölkerung hatte) durch das zweite vatikanische Konzil. Die Medien waren immer mehr im Alltag präsent ... und beeinflussten die Menschen. Also viele verschiedene Faktoren gleichzeitig waren da am "programmieren".

Der Fehler der imo gemacht wird, ist diese Streben nach Glück vorschnell in die egoistische Ecke zu stellen, und zwar in die Ecke von Egoismus, die wir allgemein als schädlich bezeichnen. Es gibt ja auch einen positiven Egoismus, aber da kommen wir möglicherweise wieder in Definitonsprobleme. Es kann auch einne glückliche machen anderen zu helfen, und diese Form des Glückstrebens wirst du ganz bestimmt auch zustimmen. Man kann

das Streben nach Glück ist für mich der Anfang der Weisheit. Glück ist ja nicht kurzfristige Genußbefriedigung. Glück ist eine innere Einstellung, die auch äußeren Mißständen standhält. Und ohne den vorhanden "positiven Egoismus" kann ich eigentlich gar nicht richtig andren helfen. Denn dann artet dies in eine Art Unterwürfigkeit aus, die dann unzufrieden und unglücklich macht.

Rosalie

Padreic
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Do 15. Jul 2004, 14:03 - Beitrag #10

@Weroansqua
Dafür, dass du rhetorisch nicht sehr beschlagen bist, verwendest du doch recht eindrucksvoll das Stilmittel der Übertreibung ;).

Sicher gibt es all die Erscheinungen, die du hier benennst, in der akutellen Jugendkultur; meiner Wahrnehmung nach trifft das aber nur sehr beschränkt auf die große Mehrheit der Jugendlichen zu und die Extremformen, wie du sie schilderst, lehnen sicherlich die allermeisten Jugendlichen ab. Aber die Extremformen fallen selbstverständlich am meisten auf und sie so am präsentesten in der Wahrnehmung und durch die Medien werden sie auch immer präsenter, wollen diese doch auch vor allem Sensationen bieten. In mancherlei Hinsicht kann man wohl durchaus einen Verfall attestieren, vielleicht auch als Resultat; so viel schlimmer, wie es oft dargestellt wird, ist es aber nicht. [Es erinnert mich ein wenig daran, dass alte Leute häufig behaupten, früher habe es öfter geschneit, obwohl es dafür keinerlei metereologische Beweise gibt....]

Frei nach Hegel liegt es wohl auch nicht fern, im Wertewandel ein gewisses These-Antithese-Synthese-Prinzip zu entdecken, wobei ich aber hier einen realen Fortschritt nur beschränkt sehen kann. Auf eine Phase von sexueller Tabuisierung folgt eine der übermäßigen sexuellen Freiheit, bis diese dann wieder zurückpendelt und dann langsam wieder zu einem Extrem zurückfallen kann. Jedes zu große Extrem ruft Widerstand hervor, der dieses dann irgendwann aufheben wird.

In unserem Kulturkreis ist für den Wertewandel der langsame Zusammenbruch des christlich-abendländischen Wertesystems von charakteristisch. "Gott ist tot." sagte Nietzsche, womit er weniger seinen eigenen Atheismus erklärte, als vielmehr sagte, dass die Menschen nicht mehr an ihn glaubten. 'Gott' ist hierbei nicht nur der eigentliche Gott, sondern auch das feste Wertesystem, an das man sich klammern konnte, dass dem Leben eine Richtung geben konnte. Heute hängen die Leute vielmehr in der Luft. Nicht ohne Grund bekommen auch Esoteriker immer Zulauf. "Seit die Leute nicht mehr an Gott glauben, glauben sie nicht an nichts, sondern vielmehr an alles." (so ungefähr Chesterton). Die Leute suchen ein neues Heil und schließen sich so den abstrusesten Bewegungen an, viele auch dem Fernsehen. Das ist das andere Extrem gegenüber einem festen Wertesystem, die Beliebigkeit der Werte. Da es nur ein langsames Kippen ist, mag sich dieses noch lange Zeit fortsetzen, bis es dann wirklich ins Extrem führt. Aber dann werden sich irgendwann wieder neue Werte, die ein Großteil der Gesellschaft akzeptiert, herausbilden, denn ohne solche kann eine Gesellschaft nicht lange existieren.
Das ist hierbei weniger als Prophezeiung gemeint, denn als Möglichkeit. Sicher muss es nicht ins andere Extrem ausschlagen. Es gibt größere und kleinere Pendelbewegungen. Möglich wäre es aber.
Interessant finde ich, wie lange die Auswirkungen eines geistigen Umschwungs bei den großen Denkern brauchen, bis sie wirklich in das Bewusstsein großer Teile der Gesellschaft gelangen.

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Weroansqua
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Fr 16. Jul 2004, 09:03 - Beitrag #11

Vielleicht bin ich dazu verurteilt, das halbvolle Glas immer nur halbleer zu sehen :( . Aber ich sehe bei uns (Menschen, meine ich) überhaupt keinen Fortschritt. Statt einer linearen Entwicklung sehe ich eine kreisförmige. Wie bei der Uhr ohne Stundenzeiger. Viertel, halb, dreiviertel, voll - und bumms, sind wir wieder genau da, wo wir angefangen haben. Alles wiederholt sich, so dass wir nie wirklich von der Stelle kommen. Werte entstehen, werden verworfen, überzogen, wieder verworfen und führen zum Ausgangspunkt zurück.

Wenn ich einen gläubigen (nicht unbedingt religiösen) Menschen frage: "Was glaubst du, wozu sind wir hier?", erhalte ich meist die Antwort: "Um uns weiterzuentwickeln (zu wachsen, zu lernen). Ich frage mich aber immer: Wie kommen die darauf? Woraus leiten sie das ab?

Okay, wir haben gelernt, Computer zu benutzen, und unsere Faustkeile sind aus Solinger Stahl. Aber hat uns das wirklich weitergebracht? Ich sehe es eigentlich nicht so. Wir können mittlerweile den ganzen Planeten per Knopfdruck in die Luft jagen, oder - via BC-Waffen - auch gezielt bestimmte Objekte. Unsere Technologie erlaubt es uns, Raubbau am Planeten zu treiben, bis das Ökosystem der Erde zusammenbricht - die Anfänge sind bereits da, und ihrer hat niemand gewehrt und wird es auch in der Zukunft nicht tun. Unsere Gesetze sind so komplex geworden, dass jedes einzelne davon über x Nebenwege und -paragrafen problemlos wieder unterwandert oder ausgehebelt werden kann, und selbst Fachleute haben hier schon lange keinen Überblick mehr. Und die zunehmende Spezialisierung hat eher dazu geführt, Fachidioten zu züchten, die zwar Koryphäen auf ihrem Gebiet zu sein scheinen, von den Dingen rechts und links aber gar keine Ahnung mehr haben. Wir haben zugunsten einer verwickelten Komplexität den Überblick aufgegeben.

Wenn's aber die Technik nicht sein kann - haben wir uns vielleicht ethisch-moralisch oder sozial weiterentwickelt? - Pustekuchen, auch nicht. Die Feudalherren des Mittelalters gibt es auch noch heute. Unsere Technik gäbe uns zwar die Möglichkeit, fast alle Probleme aus der Welt zu schaffen - aber wir tun es nicht. Welcher Mensch, außer den Superreichen, ist heute noch primärer Nutznießer der eigenen Existenz? Fast unser ganzes Leben ist fremdkontrolliert, der gesamte Tagesablauf fremdbestimmt. Wir vernichten Lebensmittel, und auf der anderen Seite der Welt hungern Menschen. Unsere Medizin hat Mittel, jede beliebige Krankheit zu heilen - aber die Mittel stehen nicht jedem zur Verfügung bzw. werden von den Menschen, die sie in Händen halten, um des Profites willen gewährt oder verweigert. Wir sind immer noch unfähig, ein Leben zu leben, das nicht auf Kosten unserer Mitmenschen oder generell Mitgeschöpfe geführt wird, bzw. zu einem Miteinander zu kommen, das davon lebt dass man nimmt, indem man gibt, auch mal danach fragt, was man selbst für den anderen tun kann, anstatt immer nur danach zu schielen, was für einen selbst dabei rausspringt, und anderen möglichst wenig auf die Nerven zu gehen. Ich denke nicht, dass Kinderselbstmord oder -amoklauf, Abhängigkeit von Psychopharmaka und Drogen so extrem war wie heute. Macht uns das Leben heute glücklicher als vor 20.000 Jahren? Wenn nicht - wo liegt dann der Fortschritt?

Klar hat es immer schon Einzelne (Philosophen, Visionäre) gegeben, die hohe Gedanken in diese Richtung gedacht haben. Aber das ist "leeres Wissen". Leer im Sinne von nutzlos - reine Theorie. Denn entweder ist es beim Gedanken-Denken geblieben und wurde nie umgesetzt, oder die Umsetzung ist gescheitert (auch der Kommunismus klang ja auf dem Papier als Idee nicht schlecht).

Ja, und biologisch haben wir uns auch nicht weiterentwickelt, weder im Aussehen, noch im Benehmen. Im Gegenteil: Seit unsere Rasse auf der Bildfläche dieses Planeten erschienen ist, haben keine Veränderungen stattgefunden, die man als evolutionären Sprung vorwärts deuten könnte. Unsere Hirnwindungen werden auch nicht tiefer.

Hier noch einmal eine meiner geliebten Übertreibungen (extra für dich, Padraic :D )
In der Bahn fiel mir heute morgen ein Paar auf. Sie redete ununerbrochen auf ihn ein. Er, mit zotteligem Bart, wirrem Haupthaar und Metallpiercings in Unterlippe und Augenbrauen, antwortete ausschließlich mit Brumm- und Grunzlauten, schlurfte auf Sitzplatzsuche durch die Bahn, seine Gefährtin kaum beachtend, plumpste dann ziemlich ungelenk auf den Sitz und kratzte sich ausgiebig an einer Stelle, die ich hier nicht näher beschreiben möchte. Anschließend zog er sich mit Schmackes Bronchialschmodder nach oben und entsorgte ihn mit Schwung auf den Boden der Bahn.
Unwillkürlich entstand vor meinem inneren Auge ein Bild: Dieses Wesen, so wie es da saß, aber mit Knochen- anstatt Metallpiercings, und mit Bärenfell anstelle von Jeans und Lederjacke, am urzeitlichen heimischen Herdfeuer. Passt! Hätte als Statist in "Ayla und der Clan des Bären" mitspielen können, ehrlich. Ist in den 30 oder 50 Tausendjahren unserer Entwicklung wirklich kein größerer Unterschied zustande gekommen?!

Vielleicht gibt es keine Entwicklung. Vielleicht wollen wir ihn nur sehen, weil wir den Gedanken, wir könnten eine vorübergehende Erscheinung wie die Dinosaurier sein, nicht ertragen können. Vielleicht gibt es keine Weiterentwicklung, und wir landen tatsächlich immer wieder an dem Platz, "where we started from". Vielleicht ist unser Aussterben schon längst beschlossen, vielleicht sind wir schon ausselektiert und die Natur wartet nur, bis wir uns in unserem Laufrad zu Tode gestrampelt haben, ehe sie das Experiment "Bewusstsein" als missglückt ad acta legt...
Einen wirklichen Beweis für eine Entwicklung nach vorn sehe ich eigentlich eher nicht, in keiner Richtung.

Daher fällt für mich die Mär von der angeblichen Weiterentwicklung ebenso wie die vom Leben nach dem Tode zur Kategorie "vermutlich bloßes Wunschdenken".

Rosalie
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Fr 16. Jul 2004, 09:55 - Beitrag #12

Hallo Padreic,
ich kann mich Deinen Ausführungen nur anschließen. :s1:

Weroansqua:

aus was besteht denn die Menschheit? Doch aus lauter einzelnen Individien. Einen Fortschritt (dann ist natürlich auch die Frage wohin....denn jeder stellt sich darunter vielleicht etwas andres vor) kann es nur für den je Einzelnen geben. Das ethische Verhalten der Massen bessert sich doch nicht automatisch, nur weil wir mehr Maschinen haben.Da trifft eher das Gegenteil zu: der Mensch wird träge und faul und denkt nur noch an die nächstmögliche Genußbefriedigung.

Die meisten Menschen machen sich nun mal keine großen philosophischen Gedanken - das war früher so und ist heute nicht anders. Für diese Menschen gilt: weshalb sollen sie sich irgendwie anstrengen - denn verantwortungsvolles, ethisches Verhalten kann schon anstrengend sein, es ist eben nicht der breite, bequeme Weg - wenn sie über ihr Tun und Handeln keinerlei Rechenschaft ablegen sollen? Irgendein kluger Mensch (leider ist mir der Name entfallen) sagte mal: " wenn mein Leben morgen vorbei ist und es danach nichts mehr gibt, dann fress und sauf ich und was kümmert mich sonst?" (war nicht genau wörtlich zitiert, nur aus meiner Erinnerung).

Und da sind wir wieder - lieber Maurice - bei der Sinnfrage ... mit der IMO alles steht und fällt!

Rosalie

Weroansqua
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Fr 16. Jul 2004, 10:20 - Beitrag #13

Hi Rosalie,

du schriebst, dass der Fortschritt der Menschheit als solcher vom Fortschritt des einzelnen Individuums abhängt. Ein "Quantensprung" in Richtung Bewusstseinsentwicklung ist demnach erst möglich, wenn auch der letzte Einzelne diesen Schritt geschafft hat.

Spiritualisten deuten diesen Fortschritt ja dahin gehend, dass sie im Menschen als solchen eine Art Sonder-Lebensform dahin gehend sehen, als er kraft seiner Seele/göttlichen Funkens/Bewusstseins dazu bestimmt sei, tierisches Erbe irgendwann zu überwinden und zu einer höheren Form des Seins zu gelangen.

Ich wiederhole noch einmal, dass, wenn dies stimmte, in den 50.000 Jahren seit Auftreten der Menschheit zumindest ansatzweise eine deutliche Entwicklung in diese Richtung zu sehen sein müsste, ich diese aber nicht sehen kann, da wir uns praktisch ununterbrochen im Kreis drehen.

Irgendwann wird die Zeit, in der eine Weiterentwicklung überhaupt noch möglich ist, beendet sein. Weil die Welt untergeht, ein Meteor die Erde crasht, wir unsere Atmosphäre zum Zusammenbruch getrieben haben - weshalb auch immer. Wenn die Zerstörung aber weiterhin soviel schneller voran getrieben wird wie der geistige Fortschritt, dann reicht die Zeit nicht aus - das heißt, dass "die Menschheit" als Gesamtes diesen Punkt niemals erreichen kann, sondern nur einzelne Individuen.

Das wäre dann eine Art Selektrionsprozess im Sinne von "viele sind berufen, aber wenige auserwählt."

Hätte aber dann die Existenz der Menschheit insgesamt bzw. der Individuen, die diesen Schritt voran nicht geschafft haben, dann rückblickend überhaupt einen Sinn gehabt?

Rosalie
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Fr 16. Jul 2004, 13:04 - Beitrag #14

Hallo Weroansqua,

dass "die Menschheit" als Gesamtes diesen Punkt niemals erreichen kann, sondern nur einzelne Individuen
genau so sehe ich dies. Jeder kann in seinem Umfeld dazu beitragen, dass "die Welt ein biserl besser wird". Wenn dies jeder ernsthaft machen würde ... ja dann würde sich auch kollektiv etwas verändern. Aber da der Mensch eben nicht identisch "funkioniert", und nicht plötzlich durch eine neue Generation alle "erleuchteter" oder sonstwas sind (wie sollte dies auch gehen?) , wird es immer nur so viel "wertvoller" - da wir ja hier bei Werten sind - auf unsrem Planeten, als der je Einzelne dazu beiträgt.

Ob die Menschheit einen Sinn macht? Auch diese Frage kann ich nur von der einzelnen Person her beantworten. Gemäß Deinem schönen Satz: "viele sind berufen, aber wenige auserwählt."

Es liegt an jedem Menschen selbst - freier Wille (auch hier ein sehr umstrittenes Thema) - ob und inwiefern sein Leben einen Sinn macht.

Gruß Rosalie

Weroansqua
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Fr 16. Jul 2004, 14:38 - Beitrag #15

Aber da der Mensch eben nicht identisch "funkioniert", und nicht plötzlich durch eine neue Generation alle "erleuchteter" oder sonstwas sind (wie sollte dies auch gehen?)


Durch Fortschritt, wie sonst.
Wenn es einen Fortschritt gäbe, müsste ja jede neue Generation dort anfangen fortzuschreiten, wo die alte stehen geblieben ist, anstatt immer wieder zu Punkt Null zurückzukehren und die bereits gemachten Erfahrungen unaufhörlich wiederzukäuern.

Auch das nehme ich als Beweis dafür, dass gar kein Fortschritt stattfindet, sondern bloß ein ziemlich sinnloser Kreislauf der sich in jeder Generation wiederholt.

Was den "freien Willen" betrifft: Es gbit ernsthafte Zweifel, dass so etwas wie der freie Wille überhaupt existiert. Vielmehr scheint es so zu sein, dass das Gefühl, eine Entscheidung zu treffen, eine von unserem Hirn erzeugte Illusion sein könnte. Kommt noch hinzu, in wie vielen Dingen wir von hormonellen Faktoren, Ungleichgewichten chemischer Botenstoffe im Gehirn, genetischen Programmen, nicht-bewussten Steuerungsmechanismen und Trieben sowie anderen Faktoren, die wir gar nicht beeinflussen können, abhängig sind.

Demnach scheint jeder Wert oder Wertschätzung, die wir anderen Dingen/Personen/ Situationen beimessen, eine völlig willkürliche, subjektive "Kiste" zu sein und noch dazu abhängig von der Laune, in der wir gerade sind, wenn wir solche Werturteile abgeben. Denn wenn kein Fortschritt stattfindet, kann sich auch nichts verbesser.

Beispiel: Sterbehilfe. Wer definiert den Wert des menschlichen Lebens, und woran wird der festgemacht? Wie können Menschen, die nachweislich noch nicht tot sind, hier entscheiden und die Lebensqualität völlig außer Acht lassen. Wissen sie denn, wie es ist, Angst zu haben, Schmerzen zu haben, sich nach Frieden zu sehen? Keineswegs. Dennoch maßen sie sich das Recht an, zu bestimmen, wann einem Menschen geholfen wird und wann nicht.

Dieselben Menschen haben auch entschieden, dass in gewissen Fällen die Vernichtung eines anderen menschlichen Lebens durchaus in Ordnung ist - beispielsweise bei Behinderungen, die abschätzen lassen, dass der werdenden Mensch nie besonders "nützlich" wird sein können.

Sicher, man könnte sagen, dass wir heute "zivilisierter" als unsere Vorfahren sind. Wir haben uns auf komplexe Regeln und Werte im Umgang miteinander geeinigt. Aber: Bejahen wir diese Regeln tatsächlich immer aus Einsicht, oder nicht oft nur deshalb, weil wir Sanktionen fürchten?

Mit geistig/seelischem Fortschritt hat das nichts zu tun, eher mit logischem Kalkül. Aber macht uns diese Fähigkeit zur Berechnung tatsächlich fähig, Werturteile abzugeben oder Normen festzulegen?

Maurice
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Fr 16. Jul 2004, 18:47 - Beitrag #16

Ich denke auf "moralischer" Basis hat sich der Mensch nicht weiterentwickelt, gibt es ja kein besser oder schlechter an sich in der Moral, weil Moral reine Ansichtssache ist.

Da sich unser evolutionären Fortschritt (bis jetzt) auch nicht weiterentwickelt hat, wir uns aber als Spezies in der Regel nach Fortschritt sehnen, leben wir diese Sehnsucht auf der technische Ebene aus. Aus technischer Ebene ist sehr wohl ein Fortschritt zu sehen. Nur die Gefahren der Technik aufzuzählen finde ich doch zu einseitig. Technik ist nicht an sich schlecht, es kommt auf die Verwendung desser an. Mit einem Faustkeil kann man eine Nuß Knacken oder einen Menschen verletzen. Nur weil man damit einen Menschen verletzen kann ist der Faustkeil schlecht?
So steht es doch auch mit allen anderen Dingen. Mit dem Wissen über Kernenergie kann man Strom erzeugen oder Waffen bauen. Mit dem Wissen über Chemie kann man Medizin oder Kampfstoffe erstellen. Mit einem Auto kann man Hilfsgüter oder Waffen transportieren. Die Dinge sind nicht an sich gut oder schlecht, sondern erst durch die Wertung, die wir deren Benutzung zuschreiben.
Was den evolutionären Fortschritt angeht so sehe ich da durchaus Hoffnung, dass uns da auch der Fortschritt weiterhelfen könnten... wenn der Mensch selbst dazu bereit ist. Aber das ist wohl eine andere Geschichte.

@Freier Wille: Ich empfehle dir diesbezüglich meine beiden Essays zu lesen, die ich hier im Forum gepostet habe, werden dich bestimmt ineressieren. :)
( http://www.the-web-matrix.de/showthread.php?s=&threadid=13661 )

Da Janw über noch nicht geschrieben hat, um was es speziell in diesem Thread gehen soll kann man wohl auch nur schwer von ot sprechen. ^^*

Feuerkopf
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So 18. Jul 2004, 12:53 - Beitrag #17

Wir sind alle Individuen

Ich möchte mal einen anderen Aspekt einbringen:
Den größten Unterschied von "heute" zu "gestern" sehe ich in der zunehmenden Individualisierung der Menschen, man könnte auch überspitzt "Vereinsamung" sagen.
Interessant ist es in diesem Zusammenhang, mal zu fragen, wer ein Interesse an der Vereinzelung der Menschen in unserer Gesellschaft hat. "Ich und mein Magnum" ist nur ein Symptom.
Wenn der Einzelne so sehr überbetont wird, wenn jeder nur noch am eigenen Wohl interessiert ist, dann schwächt das wichtige gesellschaftliche Einrichtungen:
- die Kirchengemeinden
- die Gewerkschaften
- die Vereine

um mal ein paar augenfällige Beispiele zu nennen. Das waren in der Vergangenheit große, starke Lobbyisten für die Schwachen, für die sozial Bedürftigen in unserer Gesellschaft.
Wenn diese Interessenvertretungen nachhaltig geschwächt werden, ist dem Recht des Stärkeren Tür und Tor geöffnet.
Es gibt in unseren Breiten keine verbindende große Utopie mehr. Der Sozialismus ist korrumpiert worden, die Demokratie wird ausgehöhlt, die soziale Marktwirtschaft verdient ihren Namen nicht mehr.
Ich frage mich immer: Wer verdient dran und wer hat was davon?

Im Namen des Götzen "PROFIT" darf inzwischen offenbar alles gemacht und gedacht werden. (um mal ein bisschen polemisch zu sein)

Die Entsolidarisierung ist für mich das derzeit größte Problem.

Maurice
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So 18. Jul 2004, 13:37 - Beitrag #18

Eine Masse von Individuen

Woher der Wahn der Individualisierung kommt? Ich denke man kann es schon Wahn nennen, weil ja nicht nur das Individuum betont wird, sondern weil man es eingetrichtert bekommt. Ja jeder Mensch sollte sich als Individuum verstehen, aber durch diese Art der Überbetonung passiert denke ich auch das was Feuerkopf schon sagt, es wird nämlich zum engstirnigen Egoismus erzogen. Das paradoxe bei der Sache ist, dass die Vermassung deshalb nicht aufhört. Obwohl ja alle "Individuen" sind unterwerfen sich die meisten dem Gruppenzwang. Ja in der Schule sind ja alle so individuell, aber was gegen die Masse zu machen, schaffen doch die meisten. Aber sie sind ja alle so individuell... Der Mensch ist nun mal ein Rudeltier und oft eben nicht in der Lage kritisch zu sein zu sein und auch mal nein zu sagen, zu dem was die anderen sagen und die Konsequenzen daraus zu ziehen. Das was diese Betonung auf den Einzelnen schafft ist imo keine Stärkung der Inidviualität in gleichen Maße, sondern eben nur eine Stärkung des kurzsichtigen Egoismus. Ich, ich und nochmals ich, das nennt man das individuel. Da reden sie dann auf der anderen Seite von "sozialem Verhalten" aber nur weil es wieder ein Dogma ist, was ihnen erzählt wurde. Was das denn nun genau sei scheinen viele nicht zu wissen, sonst würden sie sich ja anders verhalten. Ok dann lassen wir uns mal gegen den Irak-Krieg demonstrieren, der ist ja unsozial sagt man. Aber hätte jeder dieser "Individuen" auch dagegen demonstriert, wenn es nicht der Meinung der Gruppe entsprochen hätte? Ich will es stark bezweifeln.

Woher kommt also dieser Kult? Ich denke er kommt in erster Linie aus unserer Angst vor der Ent-Individualisierung. Im 3. Reich wurden die Menschen gleichgeschaltet und einem Ziel unterworfen. In der DDR gab es auch Vermassung und der Einzelne sollte sich unterordnen. Das scheint bei uns eine richtige Angst geschührt zu haben, dass alles das was nicht "individuell" sofort "ent-individualisierend" ist und uns gleich wieder in die Diktatur treibe.
Ich denke die Werbung hat den Stein nicht mit ins rollen gebracht, sie hat es nur verstärkt. Während früher "die Hausfrau", "die Mutter", "der Mann von Welt" usw. angesprochen wurde, spricht der Fernseher uns heute direkt an. "Wollen sie..?" "Wir haben genau das richtige für Sie!" "Du weißt genau was du willst!" usw. Ich bin kein Medienforscher, deshalb weiß ich nicht, seit wann Slogans in dieser Art der Fall sind.

janw
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Sa 7. Aug 2004, 17:35 - Beitrag #19

Nun will ich mich mal wieder zu Wort melden, etwas später als geplant, aber mein RL forderte seinen Tribut. Wobei ich ehrlich gesagt nicht unfroh bin, daß ich ein RL mit einer Aufgabe und anderen Menschen habe...

Vieles ist gesagt worden von dem, was ich auch gesagt hätte, wero hat die Entwicklung sehr gut beschrieben, so wie ich sie auch sehe. Übertreibung...naja, cum grano salis...und Feuerkopf, Maurice, Padreic, rosalie verschiedene wichtige Aspekte näher beleuchtet.

Fragen...wo will der Jan hin, was bedeutet für ihn "Sein"? Was soll der merkwürdige Titel des threads?

Nun, die Richtung habe ich im ersten Beitrag aufgezeigt, wobei dies mein Vorschlag war, mein Gedanke in dem Moment, nicht gedacht die zukünftige Diskussion zu bändigen, noch bevor sie begonnen hat.

Der Titel leitet sich aus der Entstehung des threads ab.
Eine Diskussion über die philosophische Dimension der Abtreibung hatte sich der Frage der ethischen Wertigkeit des ungeborenen Lebens unter dem Aspekt gesundheitlicher Normabweichungen zugewandt. Ein Punkt, in dem sich ein Wertewandel im Umgang mit Schwächeren zu manifestieren schien.
Ist meine Wertschätzung auch für Schwächere, meine altruistische Seinskomponente (Teil meiner Persönlichkeit) nun Ausfluß meines Bewußtseins von der eigenen "Schwäche", Nichtnormgerechtheit?
Dann wäre Altruismus nur Ausfluß eines eigenen Selbstwertkampfes.
Oder ist Altruismus ein Wert, der generell auf dem Rückzug ist, wie wero es sieht und ich auch, und seltsamerweise bei mir und einigen anderen (und komischerweise gehäuft hier im Forum)noch haften geblieben?
Dann wäre eben zu fragen, worin sich dieser Wertewandel konkret manifestiert, und welcher Wandel welchen Wandel bedingt - der des Seins den des Bewußtseins oder vice versa?

Nun, der Verlust an Altruismus, Solidarität, Respekt, Gruppenidentität und spiritueller Verwurzelung scheint manifest zu sein

Im Gegenzug nehmen offenbar Selbstbestimmtheit, Individualisierung und materielle Selbstwertherleitung zu.

Ich für mich würde den Prozeß etwa am Ende der 60er Jahre beginnen lassen, und für mich hat er etwas mit dem sukzessive bis heute andauernden Verlust an Gruppenidentitäten und sozialen Milieus zu tun.
Bis dahin war die Sozialisation in doch relativ hohem Maße durch schichtspezifische Wertesysteme gekennzeichnet, wobei die eigene Schicht sowohl ein Eigenwertgefühl vermittelte wie auch ein Gefühl der Eingebundenheit und des Gruppenwertgefühls. Auch wenn Arbeiter relativ wenig zur politischen Willensbildung beitrugen, war doch der Satz "Alle Räder stehen still, wenn Dein starker Arm es will" geeignet, der in der restlichen Geselleschaft weniger angesehenen Schicht einen Wert zuzuweisen und Gruppensolidarität zu stiften.

Zugleich waren diese Milieus aber auch soziale "Enklaven", die wenig durchlässig waren z.B. für "Aufsteiger". Auch nach Abschaffung des Schulgeldes ging eine gute Grundschülerin aus dem Arbeitermilieu eher auf die Realschule als auf das Gymnasium und absolvierte anschließend eine Lehre.

Auch diese Durchlässigkeit wurde erhöht, durch Änderungen im Schulsystem gezielt unterstützt, womit freilich auch eine wertmäßige Degradation der Hauptschule verbunden war.
Es wäre gewiß einmal interessant, die Entwicklung der Herkünfte der classe politique im Laufe der Zeit zu untersuchen, auch hier sind heute sicher mehr Menschen aus früheren Arbeitermilieus und peripheren Landschaften vertreten. Aber das wäre ein anderes Thema...

Mit dem Verlust der schichtspezifischen Sozialisation war dann aber auch ein Paradigmenwechsel verbunden im Bezug auf Solidarität und den Bezug zwischen Eigen- und Gemeinschaftswohl. Der "Aufsteiger", der in Eigenleistung seiner Schicht ent-kommen konnte, wurde zum Vorbild, solange die Leichen nicht allzu offensichtlich waren, die seinen Weg pflasterten. Anstelle der sozialen Gruppen wurden neue Subkulturen wie Fangruppen usw. und die Musikgruppen auf die sie sich bezogen zu neuen wertgebenden Entitäten, ohne daß diese sich dessen bewußt gewesen, geschweige danach gehandelt hätten.
Das Eigene, die Selbstverwirklichung wurde zum bestimmenden Wertmaßstab, der Altruismus durch Hedonismus ersetzt.
Und nach den idealisten der 60 er Jahre waren es diese Hedonisten, die den Marsch durch die Instanzen antraten.
O tempi, o mores...

Aus einem antiquierten Blickwinkel könnte man die Entwicklung als Machtgewinn der Dummen, weniger Gebildeten charakterisieren. Maurices Satz
Mal eine krasse These: Wenn dummen Menschen Freiheiten gegeben werden, tun sie unvernünftige Sachen. Also weniger Frieheit für dumme Menschen?

stellt diese mögliche Sichtweise entsprechend distanziert dar.
Nun, vielleicht ist der Blickwinkel gar nicht so falsch, vielleicht haben wir es tatsächlich mit einem Verlust an Intelligenz zu tun, an sozialer Intelligenz...
Und vielleicht damit an etwas, das uns Menschen zu Menschen macht.
Es gibt nämlich starke Hinweise darauf, daß die Sorge auch um verletzte oder kranke Artgenossen z.B. durch Erhaltung geistigen Potentials zum Überleben der Frühmenschen als eigentlich ökologisch nicht besonders fitter Art beigetragen hat. So gesehen wäre die Entwicklung des Altruismus unsere Bestimmung und unser Schicksal hinge teilweise davon ab.

Nun wird der Hedonismus häufig gerechtfertigt, unter anderem damit, das Streben nach dem individuellen Glück sei nun mal ein wesentliches Recht des Einzelnen. Als pursuit of happiness ist dieser Punkt in die amerikanische Verfassung eingegangen - übrigens lange vor den hier behandelten Vorgängen.
rosalie schrieb:
das Streben nach Glück ist für mich der Anfang der Weisheit. Glück ist ja nicht kurzfristige Genußbefriedigung. Glück ist eine innere Einstellung, die auch äußeren Mißständen standhält. Und ohne den vorhanden "positiven Egoismus" kann ich eigentlich gar nicht richtig andren helfen. Denn dann artet dies in eine Art Unterwürfigkeit aus, die dann unzufrieden und unglücklich macht.

und beschreibt damit den Glücksbegriff im Sinne dessen, was an genannter Stelle mit happiness gemeint ist. Das Glück des Hedonisten ist davon deutlich entfernt.

Auf dem Weg in den Abgrund oder alles wie gehabt?
Nun, manches an dem konstatierten ist nicht neu, "concordia parval crescunt, discordia magna dilabuntur" schrieb meine ich Cicero und ein Geschichtslehrer in mein Poesiealbum. Und doch, jede Runde beginnt wenn unter neuen Vorzeichen, jedem Anfang wohnt ein neuer Zauber inne.
Und wo Gefahr ist...da wächst vielleicht eine neue Weltanschauung, die neue Möglichkeiten geriert.
In dem Maße, wie die tradierten Anschauungen des christlich-abendländischen Weltbildes schwanden, wurden Anschauungen östlicher Religionen zu einer Art Ersatzreligion verwoben, die nicht nur in Althippiekreisen und New-Age-Anhängern ihre Spuren hinterlassen hat, sondern unausgesprochen wesentliche Motive zum hedonistischen Menschenbild beigetragen hat.
Ein Motiv hieraus, das der kollektiven Verbundenheit der Menschen untereinander (und, weiter gedacht, mit dem Rest des Universums) wird dabei geflissentlich übersehen, könnte jedoch erneut sinn- und wertstiftend wirken.
Wäre solch eine Weltsicht wirklich adäquat, welche Implikationen wären mit ihr verbunden?

Rosalie
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Mo 9. Aug 2004, 10:43 - Beitrag #20

Hallo Janw
Ein Motiv hieraus, das der kollektiven Verbundenheit der Menschen untereinander....., könnte jedoch erneut sinn- und wertstiftend wirken
ein Weltethos? Ein gemeinsamer Nenner aller Religionen (bzw. was davon noch übrig ist- denn diese sind es ja, die sinnstiftend wirken) ... wäre eine kleine Basis! Doch haben wir gerade im islamischen Kulturkreis das Problem, das dort vermehrt ein Erstarken der Fundamentalisten sich bemerkbar macht... für jene wäre dies ein weiteres Zeichen für die Dekadenz der Welt und sie würden sich in solch ein "Wertesystem" sicherlich nicht einfügen, bzw. dieses mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln bekämpfen.


Außerdem hat die Vermischung von Ost- und Westkultur ja schon stattgefunden, wie Du richtig bemerkst:
In dem Maße, wie die tradierten Anschauungen des christlich-abendländischen Weltbildes schwanden, wurden Anschauungen östlicher Religionen zu einer Art Ersatzreligion verwoben, die nicht nur in Althippiekreisen und New-Age-Anhängern ihre Spuren hinterlassen hat, sondern unausgesprochen wesentliche Motive zum hedonistischen Menschenbild beigetragen hat.
und eben auch zu diesem hedonistischen Menschenbild geführt.

Ja, wo und wie wäre eine "Lösung" des Problems möglich? Individuell für jeden Einzelnen ... und damit ausstrahlend auf seine Umwelt ... oder von "oben verordnet", was aber über kurz oder lang in einer Form der Diktatur enden würde ?!

Gruß Rosalie

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