Mitleid als Schwäche?

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Wombat
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Do 23. Sep 2004, 01:54 - Beitrag #1

Mitleid als Schwäche?

Nietzsche sagte, dass Mitleid nur das Leiden vermehrt und daher zu vermeiden sei.

Denke man weiter, würde man zu dem Entschluss kommen, dass Leiden = Schwäche ist und somit Mitleid = Schwäche.

Aber Nietzsche hat nicht immer Recht, besonders nicht, wenn es um ganz persönliche Dinge geht.
Schließlich muss jeder für sich selber entscheiden,

ob Leiden überhaupt negativ ist (man denke nur an die vielen Masochisten) ...

ob Schwäche neagtiv ist ...

ob Mitleid neagtiv ist ...


Mitleid ist so gesehen auch eine Form von Emotionen. Aber was sie von den anderen unterscheidet, ist das Bedürfnis zu helfen. Nehmen wir Trauer, Wut oder sogar Liebe als Beispiel, verspüren wir nicht Mutter Theresa in uns. wir versetzen uns nicht in die andere Person und fragen uns, wie es wohl wäre, wenn ...

Warum sollte also Mitleid eine Schwäche sein?

Feuerkopf
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Do 23. Sep 2004, 09:45 - Beitrag #2

Wie definiert Nietzsche "Mitleid"?

Wenn es um sentimentales "Ach, was sind die kleinen Schweinebabies alle süß und warum werden sie bloß so bald geschlachtet..." geht, dann gebe ich ihm Recht, sofern der Klage keine Konsequenzen folgen wie Verzicht auf Schweinefleischverzehr oder Mitarbeit beim Tierschutz.

Wenn Mitleid aber im Sinne von Empathie, also "Mitfühlen" gemeint ist, dann ist es eine wertvolle Gefühlsressource, die erst ein Miteinander von Menschen lebenswert macht. Dann ist es ein Stärke, denn ein empathisches Mitleid nimmt einem unglücklichen Menschen das Gefühl, allein mit seinem Kummer zu sein.

Maurice
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Do 23. Sep 2004, 10:07 - Beitrag #3

Kurz Vorneweg: Natürlich beschränken sich die Aussagen über die Begrffe, auf die eigene Defintion der Begriffe, die sich hoffentlich bei uns nicht zu stark unterscheiden, weil Chaos sonst vorprogrammiert ist.

Da will ich gleich mal zu Beginn in einem Punkt widersprechen: Wenn man jemanden liebt, dann will man ihm auch helfen, selbst wenn man kein Mitleid verspürt. Mitleid heißt, jemanden um seine Lage bedauern oder gar deswegen traurig sein. Man kann auch jemanden gerne helfen ohne Mitleid zu verspüren.

Ob Leiden, Schwäche oder Mitleid negativ sind? Imo wie immer Ansichtssache. An sich ist nichts von wert, erst durch ein wertendes Subjekt.

Ich zitiere mal Nietzsche aus "Der Antichrist", damit hier auch das Textstück steht, auf den wir uns beziehen:
"Man verliert Kraft, wenn man mitleidet. Durch das Mitleiden vermehrt und vervielfaltigt sich die Einbusse an Kraft noch, die an sich schon das Leiden dem Leben bringt. Das Leiden selbst wird durch das Mitleiden ansteckend; unter Umständen kann mit ihm eine Gesammt-Einbusse an Leben und Lebens- Energie erreicht werden, die in einem absurden Verhaltniss zum Quantum der Ursache steht."

Ich habe jetzt nur mal einen Teil des Kapitels gepostet, der imo ausreichen und wohl vom Inhalt eindeutig sein sollte.

Folgende Notiz ist vor ca. einem halben Jahr entstanden, wo ich inzwischen auch nicht mehr ganz mit einverstanden bin:
Ja Mitleid ist schädlich, weil es das Leid vermehrt, doch ist es unter Menschen nicht völlig ohne Nutzen. Das Mitleiden vermittelt Anteilnahme und stärkt die Verbundenheit zwischen dem Leidenden und den Mitleidenden. Am besten jedoch ist, wenn der Zweite nur so tut, als ob er mitleiden würde und das auf einer solchen Weise, dass der Leidende das Spiel nicht durchschaue. Somit käme es zu keiner weiteren unnötigen Schwächung, aber dennoch zu einer Stärkung des Verbundenheitsgefühl des Leidenden dem anderen gegenüber.
Der Rationale hingegen will wenn er leidet kein Mitleid, weiß er ja über dessen schädliche Wirkung. Sieht er aber dennoch einen Anflug an Mitgefühl oder glaubt er zu wissen, dass sein Leiden dies hervorrufen werde, so tut er gut daran sein Leiden vor dem Irrationalen zu verbergen.

Ich revidiere meine dortige Aussage dahingehend, dass ich finde, dass es sinnvolles und nicht sinnvolles Mitleid gibt. Mitleid ist imo nur dann sinnvoll, wenn es uns motiviert etwas positves zu tun und wenn uns überhaupt die Möglichkeit gegeben ist etwas sinnvolles zu tun. Mitleid das einen resignieren lässt halte ich nicht für gut, aber welches was uns motiviert. Was positiv und was negativ ist, ist natürlich wieder Ansichtsache, ich gehe hier deshalb natürlich von meinen Ansichten aus. Auch den Wert von Mitleid, das uns zu sinnlosen Taten verleitet, stelle ich in Frage.

Was man hier auch wieder diskutieren könnte, was aber schon an anderer Stelle schon getan wurde, ist inwieweit Mitgefühl und der Wunsch nach Hilfe als altruistisch oder egoistisch bewertet werden kann. Man hilft ja auch immer um sein Gewissen zu befriedigen. Aber ich glaube den Punkt lassen wir hier besser außen vor, weil wir das zum einen schon hatte und zum anderen doch etwas ot werden könnte. Ich wollte den Punkt nur nochmal kurz erwähnt haben.

aleanjre
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Do 23. Sep 2004, 10:10 - Beitrag #4

Genau wie Feuerkopf würde ich "Mitgefühl" von "Mitleid" deutlich unterscheiden.

Es schwächt mich als Krankenschwester zum Beispiel tatsächlich erheblich, wenn ich mit einer kranken, verletzten oder sterbenden Person mit "leide", über seine Angst vor Spritzen so weine, dass ich nicht mehr fähig bin, eine zu setzen, ängstlich zittere, wenn er vor Schmerz brüllt, schließlich vor lauter Stress selbst körperliche Schmerzen entwickle - Bauchweh, Durchfall, Kopfschmerzen - weil ich weiß, wie schlecht es dem anderen geht. Abends nicht einschlafen kann, nicht essen mag, weil der Gedanke an das vielfache Leid mich fertig macht..

Was ich aber unbedingt brauche, ist Mitgefühl. Ich muss respektieren, dass meine Behandlungsmethoden (Spritzen, Verbandswechsel, Katheterisierung etc.) Schmerz verursachen. Ich muss hinnehmen, dass ein schmerzgeplagter, sterbender oder schwerstkranker Mensch nicht normal reagiert, sondern aggressiv werden kann, mich vielleicht sogar angreift. Diesen Angriff darf ich nicht zurückschlagen, mich nur in Sicherheit bringen, denn ich fühle, aus welcher Quelle die Verzweiflung und der Zorn stammt.

Wenn Mutter Theresa mit jedem sterbenden Baby gelitten hätte...

Schwäche wiederum: ist nicht immer negativ. Es kann für mich persönlich eine Bereicherung sein, mich einmal fallen zu lassen und zu wissen, dass ich von starken Händen aufgefangen werde. Perfektion vergessen und Ruhe suchen. Ausgebreitet tief in einem dunklen Loch liegen, Kraft sammeln, und dann gestärkt wieder aufstehen.
Diese Phase der Schwäche allerdings macht mich handlungsunfähig. Während ich KRaft sammle, kann ich nicht arbeiten, für mich selbst und andere sorgen, niemandem nutzen.

Leiden kann Spaß machen? Nicht nur den Masochisten, auch den Hypochondern. Man wird im Idealfall bedauert, untersucht, mit Aufmerksamkeit umgeben... kann auch mal nett sein.

Die auf den letzten Absatz folgende Diskussion findet sich unter "Glück durch Unglück?" - Traitor

Maurice
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Do 23. Sep 2004, 10:19 - Beitrag #5

Ja da stellt sich die Frage nach der möglichst sinnvollsten Definition der Wörter.
Sollte man "Mitleid" als Teilmenge von "Mitgefühl" sehen oder "Mitleid" als übersteigertes negatives "Mitgefühl"? Beide Versionen sind ähnlich, aber unterscheiden sich doch. Denn wenn man Mitgefühl als etwas positves bewertet, ist dies Mitleid nach der ersten Definition auch, bei der zweiten hingegen nicht.

aleanjre
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Do 23. Sep 2004, 10:27 - Beitrag #6

Da ich "Mitleid" immer als negativ empfinde, zweitere Version.

Maurice
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Do 23. Sep 2004, 10:51 - Beitrag #7

Erstmal aber nochmal zu "Mitleid". Ich denke die weitverbreitete Definition von "Mitleid" beinhaltet aber auch etwas positives, weil der Auspruch "er hat kein Mitleid" allgemein als negativ gilt. Deine Definition von "Mitgefühl" und "Mitleid" ist mir auch symphatischer, doch will ich in der Regel vermeiden, Wörter entgegen unserem (jetzt als Gesellschaft gesehen) allgemeinen phänomenologischen Gebrauch zu definieren. Das kann zu Komminukationsproblemen führen. Ich bin mir also nicht sicher, welche Defintion von "Mitleid" ich bevorzugen sollte, die die mir besser gefällt, oder die von der ich meine, dass sie von den meisten Leuten gebraucht wird.

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Do 23. Sep 2004, 18:04 - Beitrag #8

Ich werde auch ersteinmal etwas dazu beitragen, dass wir uns noch lange mit der Begriffsdefinition aufhalten können, bis wir zur eigentlichen Diskussion kommen... ;)

Der Sinn, in dem "Mitleid" hier überwiegend verwendet wird, überrascht mich nämlich ziemlich, vor allem seine negative Konnotation. Entgegen seinen eigentlichen etymologischen Wurzeln wird das Wort "Mitleid" im Sprachgebrauch meinem Eindruck nach nämlich eher als eine Art Synonym für "Menschlichkeit" oder "Barmherzigkeit" gebraucht. Die Aufforderung "Hab Mitleid!" an einen überlegenen Kämpfer soll ja z.B. nicht aussagen, dass derjenige mit dem Verlierer leiden soll, sondern ihn verschonen, oder man denke an die diversen Bibelverwendungen des Wortes.
Das konkrete Gefühl, selbst Schmerz zu empfinden, wenn man sich in die Gefühlslage eines Anderen hineinversetzt, würde ich zur Unterscheidung eher "Mitleiden" nennen.

Das, was ich als "Mitleid" bezeichne, enthält zwar immer auch zu einem gewissen Maß "Mitleiden", aber es ist zum einen nicht so extrem wie dieses, da es eher eine Art allgemeinen Verständnisses (aleanjres "Mitgefühl") ist als ein konkreter eigener Schmerz, und zum anderen geht es weit über dieses hinaus, da es Konzepte von Hilfe, Verständnis und Verantwortung enthält, die in der bloßen Verbkonstruktion "mit jemanden leiden", also "Mitleiden", nicht an sich vorkommen.


Nietzsches Aussage beschränkt sich auf diesen Aspekt des "Mitleidens", und da ist es auch kein Wunder, dass er zu einer sehr negativen Bewertung kommt. Aber die positiven Dinge, die in den christlichen und humanistischen Traditionen mit dem Begriff "Mitleid" verbunden werden, verfehlt er so und kann sie nicht angreifen.

Edit: Letzteres soll nicht heißen, dass sie nicht angreifbar sind, sondern nur, dass es dafür eines anderen Ansatzes bedarf.

Padreic
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Do 23. Sep 2004, 19:10 - Beitrag #9

Nochmals zur aleanjres Unterscheidung von Mitgefühl und Mitleid bzw. ihrer Scheidung des landläufigen Mitleids in positives und negatives:
Die negativen Merkmale, die Du bzgl. des Mitleids aufzählst, also im wesentlichen, dass die Handlungsfähigkeit stark eingeschränkt werden kann, ist kein sich auf Mit-Leiden beschränkendes Phänomen, sondern kann Leiden im Allgemeinen eigen sein. Die Unterscheidung muss also eher beim Begriffs des Leidens ansetzen als bei dem des Mitleidens. Bei einem starken Charakter mag es durchaus der Fall sein, dass er Leid tief spürt, seine Handlungsfähigkeit aber trotzdem behält.
Was du Mitgefühl nennst, würde ich eigentlich nicht so nennen, denn die Komponenten, die du ihm zubilligst, sind eigentlich keine des Gefühls, sondern die des Respekts, des Anerkennens dessen, dass der Gegenüber auch Mensch ist. Im Idealfall bezüglich der Handlungsfähigkeit hätte dieses Anerkennen sogar möglichst wenig mit Gefühlen zu tun.

@Traitor
Ich denke, Nietzsche wäre auch gegen deine Form des Mitleids. Siehe z. B. folgendes Zitat aus dem Antichrist:
Die Schwachen und Missratenen sollen zugrunde gehn: erster Satz unserer Menschenliebe. Und man soll ihnen noch dazu helfen.
Was ist schädlicher als irgendein Laster? - Das Mitleiden der Tat mit allen Missratnen und Schwachen - das Christentum...


@Maurice
Man kann sicherlich auch ohne echtes Mit-Leid helfen, allerdings besteht, denke ich, ohne Mit-Leid auch keine echte Liebe, denn das Wohl des Geliebten bedingt dann zu nicht unwesentlichen Teilen das eigene Wohl, was auch bedeutet, dass etwaiges Leid des Geliebten Leid für einen selbst bedeutet.

Zu Nietzsche:
Wenn man den Willen zur Macht als obersten Ziel des Menschen und Stärke als sein Ideal setzt, verbietet sich Mitleid im nicht außergewöhnlichen Sinne. Dieser außergewöhnliche Sinn besteht höchstens im Mit-Leid mit einem anderen Starken, einem selbstgewählten Freund, und die Form des Leidens muss eine nicht-handlungseinschränkende sein, da sich die Stärke in der Handlung zeigt. Auch Leid kann Leben bedeuten.

Ich persönlich halte Mitleid prinzipiell für etwas positives, aber nur nicht gewollt evoziertes Mitleid von Gegenüber zu Gegenüber, nicht das von Medien oder anderen Personen bewusst geschürte, wie es beispielsweise bei Flutkatastrophen oder noch extremer bei vermissten Kindern vorkommt. Wenn man da helfen will, sollten rationale Motive auf Basis allgemeiner Menschenachtung den Ausschlag geben, nicht Mitgefühl mit Leuten, die man nicht kennt. Mitleid sollte auch möglichst nicht lähmen, aber das sollte Leid im Allgemeinen nicht, jedenfalls nicht in Situationen, wo man es sich nicht leisten kann.

Padreic

Edit: Noch als kleine Anmerkung zu meinem Verständnis der "besten" Form des Mitleids: Echtes Mitleid, wie ich es verstehe, sollte immer auf einem echten Mitfühlen und auch auf einer Form von Liebe basieren, die auch ein Verstehen-Wollen und ein Helfen-Wollen impliziert. Teilweise wird aber auch etwas als Mitleid bezeichnet, das schon fast so etwas wie Verachtung ist, ein Herunterschauen auf den Anderen. Das ist sicher eine Fehlform. Echtes Mitleid bemüht sich immer um gleiche Augenhöhe mit dem Gegenüber, das kein ganz Anderer mehr sein soll.


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