ein Ausschnitt eines Textes, den ich mal vor Jahren verfaßt habe
Das Maß einer Überzeugtheit davon, daß »etwas« recht, gerecht, richtig, wünschenswert, gültig und dergleichen mehr sei, ist ein Maß für nichts. Was trotz unzähliger normativer Imperative erlebt wird, ist das Verlangen und die Fertigkeit jedes einzelnen Mitglieds und jeder einzelnen Untergruppe der Spezies homo sapiens, jede - noch so verbindlich daherkommende - überindividuelle Setzung zur Wahrung der damit korrespondierenden essentiellen Setzung, also der situativ-taktischen oder strategischen Setzung des Individuums auszuweiten, zu überschreiten oder zu brechen.
Die Endlösung der Judenfrage, nur um ein prominenteres Beispiel zu nennen, ist weit davon entfernt, unmenschlich zu sein, sie ist vielmehr eine der exponierteren Spitzenleistungen dessen, was »menschlich« umschließt.
Wohl werden sich viele - durchaus wohlmeinende - Menschen an solcher Aussage reiben und daraus Forderungen, neue Setzungen ableiten wollen, indem sie das Attribut »menschlich« wie üblich an das moralisch als wünschenswert Darstellbare zu binden versuchen:
doch erleben Menschen tagtäglich immer wieder Umfassenderes, daß nämlich Maximallösungen gesucht und bei geeigneter Macht oder Befähigung ungeachtet irgendwelcher apokrypher Fragestellungen umgesetzt werden; womit im Rahmen faktisch geführten Lebens die Endlösung faktisch unermesslich oft reproduziertes Prinzip ist, bei jedem so gut es geht, anhand der Situationen, wie sie sich gerade stellen.
Ein Problem, ein Mitempfinden mit dem Tod, mit den Qualen anderer, ein Ablassen von der eigenen wie auch immer aufgefaßten Maximalverwirklichung zugunsten anderer besteht nur als - gut verkäufliche - Proklamation, die bei geeigneter Konstellation der Umstände den Atem nicht wert ist, der auf ihre Formulierung verschwendet wurde.
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Wir werden immer wieder erleben, daß Lösungen gefunden werden, welche die Forderung ursupieren und in ihr schieres Gegenteil zu wenden imstande sind - heiliger Krieg, gerechte Strafe.
Die Endlösung ist Kind der Menschlichkeit und der Moral. Sie ist Kind der Moral, weil die Moral - als Gesamtheit ALLER moralischen Systeme - nicht gedenkt, sich als faktisch falsifiziertes Prinzip zu erkennen. Da die Moral außerhalb metaphorischer Rede überhaupt nichts erkennt noch gebiert, sind es Menschen, die jene Falsifizierung nur endlos reproduzieren durch weitere Forderungen, die allesamt ins Nichts der Beliebigkeit laufen, bis einem Menschen oder einer Menschengruppe wieder mal eine Endlösung einfällt.
Und wir erleben, daß es offensichtlich kein menschliches Hemmnis gibt, welches verböte, daß sie einfällt und daß sie durchgeführt wird.
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Gleich wie sehr ich die Endlösung geißeln wollte, gleich, wie sie gegeißelt wurde und gegeißelt werden wird, gleich, was zur Vermeidung ihrer Wiederholung ersonnen werden wird - zwei Dinge werden bleiben:
daß sie eine jederzeit verfügbare Möglichkeit des Menschlichen ist - und daß sie ÜBER. ALLE. MAßEN. VERFÜHRERISCH. IST.
Womit alle Geißelung nichts besagt, weil Menschen immer wieder auf »endgültige« Lösungen verfallen werden, statt in die Mühsal von tatsächlicher Freundlichkeit und innerer Distanz zu sich selbst einzuwilligen.
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