Gesellschaft und ihre Einstellung zum Leiden

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Monostratos
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Do 16. Dez 2004, 17:29 - Beitrag #1

Gesellschaft und ihre Einstellung zum Leiden

Nein, der Threadtitel hat nichts mit irgendwie gearteter Soziophobie zu tun, und früher war auch nicht immer alles besser.


Kleines Einzelbeispiel als Einleitung: Vor zwei Wochen warteten meine Klasse und ich vor der Turnhalle auf unseren Sportlehrer. Zum Zeitvertreib und Abbau überschüssiger Kräfte düste ich, mit einem Kollegen auf dem Buckel, umher. Natürlich flog ich auf die Nase, und ich hätte mich eigentlich locker abfangen können, wenn, ja wenn ich nicht 65 Kg schwerer als gewöhnlich gewesen wäre. Ergebnis: Aufgerissene Nase (musste nur geklebt werden) und lecker tiefe Schürfungen an Stirn und Knien.
Nicht, dass das jetzt etwas zur Sache täte, oder ich mich hier ausheulen wolle, aber die Reaktion meiner Mitmenschen darauf hat mich doch sehr überrascht.

Was ich mir vorstellte, darauffolgend zu tun:
Da ich keinen Schock und keine Schwindelgefühle, Bewusstlosigkeit, Erbrechen, Knochenbrüche hatte, und ich mich im Allgemeinen noch ganz gut fühlte, hatte ich mir eigentlich vorgenommen, im Sekretariat mir erstmal einige Pflaster und die Entlassung vom Unterricht zu holen, um nach Hause zu fahren.

Was die Sekretariatsfrau und einige andere Klassenkameraden diagnostizierten:
Ich hätte einen schweren Schock und die Nase sei gebrochen. Und so wurde ich vom Krankenwagen abgeholt (Meine Einwürfe wurden ja dadurch ausgebootet, dass ich unter Schock stehe :o ) und in einer Bad Honnefer Klinik untersucht. Natürlich kam die Belegschaft dort, die etwas patenter ist, auf das selbe Ergebnis wie ich, dass es nämlich was Harmloses war.



Ich finde es sehr begrüssenswert, wenn der allgemeine Lebensstandard immer höher wird, aber warum scheint sowas dazu zu führen, dass man (bzw. pauschal: Die Gesellschaft) sich von Leid, Schmerz oder der (physischen) Leidensfähigkeit eines Menschens entfremdet, oder zumindest einem spartanischen Anspruch verständnislos gegenübersteht? Dies kann ich persönlich z.B. sehr gut daran ablesen, dass für das Mittel gegen das lächerlichste Zipperlein Werbung gemacht wird ("[Produkt]damit sie die Erkältung nicht aus der Bahn wirft" Bei einer Grippe: Ja, wahrscheinlich würde die mich aus der Bahn werfen; Bei Erkältung: Hallo??) ... Habt ihr ähnliche Erfahrungen gemacht? Könnt ihr Gegenbeispiele bringen?


(Mit der verheilenden Wunde auf der Stirn sah ich eine Zeit lang aus wie Gorbatschow :P )

Traitor
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Do 16. Dez 2004, 17:44 - Beitrag #2

Interessanterweise lassen sich zwei auf den ersten Blick gegenläufige Tendenzen beobachten.

Zum einen neigt die Menschheit zur Hypochondrie, diese Beobachtung teile ich. Noch extremer als bei Verletzungen und Krankheiten sieht man das an Geschichten wie "Wellness-", "Anti-Aging-" und ähnlichen Mitteln, tausenden Nahrungszusätzen usw.

Zum anderen ist da die Trivialisierung und Humorisierung von Gewalt und damit auch von Verletzungen. Man amüsiert sich, wenn in den Medien jemand zu Schaden kommt, und dann oft genug auch, wenn es im realen Leben passiert.

Beides hat wohl mit der Entfremdung von körperlichen Schäden zu tun - je unüblicher etwas wird, desto beängstigender wird es zum einen, desto weniger lässt man sich aber auch davon wirklich betreffen.


(Mit der verheilenden Wunde auf der Stirn sah ich eine Zeit lang aus wie Gorbatschow )
Hättest dafür sorgen sollen, dass sie bleibt. Dann hättest du in 50 Jahren Geld als Double verdienen können.

e-noon
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Do 16. Dez 2004, 17:45 - Beitrag #3

Ich kenne sowohl Beispiele als auch Gegenbeispiele. Beispiel: Mich. Sobald ich ein leichtes Kratzen oder die Andeutung eines Hustens bei mir bemerke, zu der dann noch eine (grundsätzlich gegebene) Unterrichtsunlust hinzukommt, bleibe ich zu Hause. Diese übertriebene Schonung ist allerdings nur auf unangenehme und unwichtige Situationen beschränkt, denen ich dadurch entgehe (; auf der anderen Seite gehe ich auch mal mit gebrochenem Zeh zum Training oder ähnliches).

Ein Gegenbeispiel wäre zum Beispiel eine Lehrerin von mir, die in den letzten 20 Jahren schätzungsweise 2 bis 3 Tage wegen Krankheit ausgefallen ist. Wenn sie sich nicht gut fühlt, macht sie weniger anstrengenden Unterricht, aber wegen einer Erkältung besondere Rücksicht zu erwarten, würde ihr wohl nicht im Traum einfallen.

Noch ein Beispiel für deine These: Eine Freudin von mir lässt sich seit der fünften Klasse morgens von ihrer Mutter die 20 Meter zur Bushaltestelle fahren x_X klar bin ich da auch manchmal neidisch :D aber eigentlich bin ich doch froh, dass ich so was zumindest noch alleine hinkriege.

Ich weiß nicht, ob der Spruch allgemein seine Berechtigung hat, aber viele, die ich kenne, sagen "Die Deutschen jammern auf hohem Niveau". Natürlich wird die Wirtschaftslage schlechter und einige sind nicht mehr so sozial abgesichert wie noch vor ein paar Jahren, aber im Gegensatz zum vorletzen Jahrhundert ohne Sozialversicherungen und auch im Gegensatz zu den meisten anderen Ländern dieser Erde geht es uns unglaublich gut. Niemand muss in Deutschland verhungern, erfrieren oder ist schutz- und rechtlos Mächtigeren ausgeliefert (natürlich gibt es trotzdem Fälle, in denen diese Rechte missachtet werden). Daher halte ich den Pessimismus angesichts der Gesamtlage Deutschlands und auch die extrem geringe Leidensfähigkeit für etwas übertrieben.

aleanjre
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Fr 17. Dez 2004, 00:39 - Beitrag #4

Interessant ist ja auch:
Wenn ein Fremder verletzt im Graben liegt, kann es mit entsprechendem Pech lange dauern, bis sich einer zuständig und kompetent fühlt, ihm zu helfen. Angehörige der gleichen Gruppe (egal, welche Gruppe - Familie, Bekanntenkreis, Schulklasse, Arbeitskollege...) sind da weitaus schützenswerter.

Verletzungen im Gesicht wirken immer viel dramatischer, als sie eigentlich sind. V.a., wenn sie bluten.
Wenn du nun laut geflucht und gejammert hättest, um Hilfe gerufen, verkündet hättest, dass du lieber zu einem Arzt willst - wäre die Mitleidswelle wahrscheinlich wesentlich niedriger geschwappt. Man hätte dir sehr wahrscheinlich Geleit zum Sekretäriat gegeben und einen Klapps auf die Schulter. Wer laut schreien kann, ist fit, und wer Hilfe einfordert, grundsätzlich erstmal lästig. ;)
Dass du das still mit dir selbst ausgemacht hast, obwohl es dramatisch aussah, hat den Beschützerinstinkt geweckt.
Wer verletzt ist, aber still, hat einen Schock. Ob er nun will oder nicht!

Da fehlt dann, wie schon richtig gesagt, die Erfahrung mit Verletzungen jeder Art in unserer auf Sicherheit getrimmten Gesellschaft.
Wobei: Auch als Krankenschwester bin ich bei stark blutenden Kopfwunden immer erst mal skeptisch und sehe dann an den Vitalzeichen des Verletzten, wie es ihm geht.

Traitor
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Fr 17. Dez 2004, 15:38 - Beitrag #5

Wenn ein Fremder verletzt im Graben liegt, kann es mit entsprechendem Pech lange dauern, bis sich einer zuständig und kompetent fühlt, ihm zu helfen. Angehörige der gleichen Gruppe (egal, welche Gruppe - Familie, Bekanntenkreis, Schulklasse, Arbeitskollege...) sind da weitaus schützenswerter.
Immerhin der Punkt ist definitiv keine Folge unserer modernen Gesellschaft, sondern im Gegenteil ein Überbleibsel alter Zeiten, als der Zusammenhalt kleiner Gruppen (Sippe, Dorf etc) und auch die Abgrenzung gegenüber anderen noch weit entscheidender war.
Heutzutage wäre es besser, wenn diese Tendenz weniger stark ausgeprägt wäre - aber sie hat sich halt erhalten und ist verständlicherweise schwer abzulegen.


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