Wenn in der Fußgängerzone vor mir ein Mann tot umfällt, weil sein Herz gerade in unbefristeten Streik getreten ist, und seine Ehefrau und die Kinder im geschätzten Alter von 6 und 8 Jahren weinend und geschockt über ihn stehen, völlig hilflos herausgerissen aus ihrem vertrauten Leben, dann bin ich schwer betroffen.
Und zwar nicht nur, weil ich gerade drastisch an meine eigene Sterblichkeit erinnert werde.
Sondern weil ich mich in das Leid der Familie hineinfühlen kann. Weil ich verstehe, was für ein Schock das ist, weil ich vorausdenke, wie schwer diese junge Familie es in der nächsten Zeit haben wird - nicht nur, dass ein geliebter Mensch verloren gegangen ist, sondern all das, was an Bürokratie mit dem Tod verbunden ist. Das zurückfinden in eine Alltagsroutine. Das Leid der Kinder, die den Tod als Tatsache nicht begreifen. Die Frau, die nun vielleicht ein neu gekauftes Haus abstoßen muss, vielleicht vor dem finanziellen Ruin steht.
Eine Katastrophe wie dort vor Sumatra ist in jeder Hinsicht ein Superlativ. Die Menge an verlorenen Leben ist einfach nicht mit dem Hirn zu erfassen. Wie will man die Zahl 40.000 in ein adäquates Bild umsetzen? Wie will man die Bilder verarbeiten, die die Medien liefern - schreiende Eltern, die tote Kinder aus dem Schlamm ziehen, Trümmerfelder, wo Wohnhäuser waren, Erzählungen, dass man spielende Kinder nach der ersten, noch harmlosen Welle nicht zurückhalten konnte, als das Meer sich hunderte Meter weit zurückzog und sie die schönen bunten Muscheln sahen?
Man versetzt sich in das Elend der Betroffenen und ist selbst betroffen
Diese Reaktion des Gehirns hat Sinn. Man lernt aus diesem Unglück fremder Menschen. Sollte ich mich irgendwann mal am Meer befinden und der Wasserspiegel plötzlich ruckartig sinken, werde ich meine Kinder packen und laufen, ohne zurückzublicken!
Es ist wenig wahrscheinlich, dass ein Tsunami die Nordseeküste verwüsten wird. Aber kann man das wirklich genau wissen? Die Tiefsee ist kaum erforscht. Es könnte eine Riesenwelle kommen und auch die deutsche Küste überfluten. In diesem Fall könnte ich eine Reihe naher Familienmitglieder verlieren.
Als Krankenschwester weiß ich eh, was es bedeuten kann, wenn ein Mensch über mehrere Tage über ein merkwürdiges Ziehen im linken Arm klagt - aber wäre ich Eisverkäuferin, hätte ich von dem Leid der Frau in der Fußgängerzone lernen können.
Und ein globales Bewußtsein für die Vorgänge auf unserem Planeten halte ich für sehr wichtig. Sowohl die klimatischen Veränderungen als auch die Bedrohung von Flora und Fauna, das Tun und Lassen der Menschen wie eben die unvorhersehbaren Katastrophen durch Wetter und Erdbewegungen. Wenn meiner Heimat ein Krieg droht, will ich das vorher wissen. Die Lernmöglichkeiten durch Beobachten von Katastrophen sind natürlich begrenzt - in der Situation selbst bin ich Schock, Todesangst und Panik ausgeliefert. Aber sich wenigstens mal gedanklich vorher damit beschäftigt zu haben, über Verhaltensstrategien nachgedacht zu haben, macht vielleicht nachher den entscheidenden Unterschied aus.
An Bangladesh erinnere ich mich nicht. Da war ich noch lange nicht geboren. Trotzdem ist "Betroffenheit" für mich persönlich mehr als nur ein Lippenbekenntnis.
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