PadreicLebende Legende


Beiträge: 4485Registriert: 11.02.2001
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Das geht sehr in Richtung Mathematikphilosophie. Da müsste man im Grunde etwas weiter ausholen. Heut Abend hab ich dazu leider keine Lust mehr, aber ich will einen Beitrag, den ich mal für ein anderes Forum geschrieben habe, hier reinkopieren. In weiten Teilen dürfte er ganz gut passen. Ein konkretes Eingehen auf deinen Post verschiebe ich auf morgen oder so.
Ich will hier versuchen, kurz die drei größten mathematischen Schulen vorzustellen, Platonismus, Intuitionismus und Formalismus.
Der Platonismus ist die älteste der drei. Während er schon auf die alten Griechen zurückgeht, sind die anderen Beiden im wesentlichen Geburten des 20. Jahrhunderts. Der Platonismus (im weitesten Sinne) sieht die Mathematik als Beschreibung einer objektiven Realität außerhalb unseres Geistes. Der Name rührt von der Vorstellung her, dass diese in der ideellen Wirklichkeit der platonischen Ideen gegeben ist. Erdös (1913-1996) sagte, dass im Himmel ein Buch mit allen schönen und eleganten Beweisen liege. Wie ernst er dies meinte ist nicht bekannt...
Auf jeden Fall macht der Platonismus mit dem Postulat einer externen Realität mathematischer Objekte die stärksten philosophischen Annahmen aller mathematischen Schulen. In etwas abgeschwächter Form kann man auch einen Platonismus sehen, wenn man den mathematischen Objekten keine Realität an sich zuschreibt, sondern sie nur in den Dingen verwirklicht sieht (d.h. in einer Menge von zwei Schafen ist eben die zwei enthalten), komplexere und abstraktere mathematische Wahrheiten wären dann vielleicht auch nur Zusammensetzung und Abstraktion von den grundlegenden mathematischen Objekten.
Zumindest in den stärkeren Formen des Platonismus ist auch jede mathematische Aussage entweder wahr oder falsch, so z. B. auch die Kontinuumshypothese. [Diese besagt, dass es keine unendliche Teilmenge der reellen Zahlen gibt, deren Mächtigkeit von der der reellen und der der natürlichen Zahlen verschieden ist. Von Gödel und Cohen wurde bewiesen, dass die Wahrheit dieser Vermutung von den Axiomen der herkömmlichen Mengenlehre unabhängig ist, d.h. dass man logisch konsistent sowohl die Hypothese als auch deren Negation zum Axiomensystem hinzufügen könnte. Gödel hielt die Hypothese aber beispielsweise in einem tieferen platonischen Sinne für falsch.] Dies ist gerade ob Gödels Unvollständigkeitssatz, der besagt, dass es in jedem formalen System von einem gewissen Umfang Aussagen gibt, die in diesem unentscheidbar sind, d.h. weder bewiesen noch widerlegt werden können; diese müssen aber nach dem Platonismus trotzdem entweder wahr oder falsch sein. Im Platonismus ist so auch nicht jedes widerspruchsfreie Axiomensystem gleich gültig.
Der Formalismus geht einen anderen Weg. Sein Begründer war der große Mathematiker Hilbert, der ihn gerade auch als Reaktion auf die Widersprüchlichkeit der naiven Mengenlehre Cantors und auch aufgrund von einigen kontra-intuitiven mathematischen Objekten formulierte. Er setzt die gesamte Mathematik mit formalen Systemen gleich, wobei hier ein formales System bedeutet, dass man bestimmte Zeichenketten, die Axiome, und bestimmte Schlussregeln hat, mit denen man die Zeichenketten kombinieren kann, und so Beweise und mathematische Sätze erhält. Wahr ist genau das, was in einem solchen System beweisbar, d.h. aus solchen Zeichenkettenmanipulationen ableitbar ist. Der gleiche Satz kann so in einem System wahr, in einem anderen falsch sein, jeder muss für sich selbst entscheiden, welches er wählt. Formal unentscheidbare Sätze sind dann auch weder wahr noch falsch.
Wichtig ist auch, dass die Zeichen von ihrer Bedeutung abstrahiert sind und nur durch ihre Relation zueinander und in den Sätzen, die sie enthalten, definiert sind. Ein bekanntes Beispiel ist dafür der Begriff der Menge, der noch von Cantor zu definieren bzw. umschreiben versucht wurde, der aber zu grundlegend ist, als dass er klar und exakt mathematisch definiert werden könnte, außer in den Axiomen, die ihn enthalten. Das ist gewissermaßen eine Abkehr von dem Grundsatz, dass man erst die Begriffe definieren muss, bevor die Axiome formulieren kann.
Die dritte "große" Schule der Mathematik ist der Intuitionismus (es ist wohl in Wirklichkeit sehr schwer jemanden zu finden, der sich voll zu ihr bekennt...ich kenne jemanden, der mal einen Intuitionismuskongress besucht hat, weil er sich sehr für das Thema interessierte, dort aber keinen voll überzeugten Intuitionisten gefunden hat...). Begründet wurde sie von Brouwer (obwohl es schon vorher Leute gab, die in die Richtung dachten, wie beispielsweise Kronecker). Der Intuitionismus ist vor allem eine Reaktion auf die im späten 19. Jahrhundert aufkommenden vollkommen nicht-konstruktiven Existenzbeweise (d.h. man bewies, dass es eine bestimmte Sache gab, obwohl man keine Ahnung hatte, wie so ein Teil konkret aussehen konnte. So war es z. B. mit den transzedentalen Zahlen (reelle Zahlen, die nicht Nullstelle irgendeines Polynoms sein können), bevor man zeigte, dass Pi und e Vertreter dieser Menge sind).
Er sieht Mathematik als das an, was ein kreatives Subjekt (eine Art von idealisierten menschlichen Geist, der sich nicht irrt) konstruieren kann. Nur Dinge, von denen ein Mensch weiß, wie man sie konstruieren kann, sind mathematisch existent und sie werden es auch erst in dem Augenblick, wo ein Mensch dies weiß. Aussagen, deren Wahrheitsgehalt noch unbekannt ist, sind unentschieden. So gilt für die Intuitionisten auch nicht das Gesetz des ausgeschlossenen Dritten. Ein "anschauliches" Beispiel dafür ist ein Sack mit unendlichen vielen Kugeln, von denen man weiß, dass sie entweder schwarz oder weiß sind. Wenn man bisher nur weiße gefunden hat, enthält der Sack dann nun auch schwarze Kugel oder nicht? Der Intuitionist sagt, weder noch, da man es einfach nicht weiß. Interessant sind auch die Ergebnisse aus der intuitionistischen Analysis, z. B. ist der Zwischenwertsatz falsch (weil man nicht unbedingt die enstprechende Stelle konstruieren kann) oder es sind z. B. auch alle Funktionen vom Einheitsintervall in die reellen Zahlen gleichmäßig stetig.
Formale Sprachen und Logik sehen die meisten Intuitionisten nicht als Basis für die Mathematik an, eher umgekehrt. Auf Basis der mathematischen Konstruktion können sie gewisse logische Sätze für diese herleiten. Da sie von der mathematischen Grundintuition ausgehen, sind auch formale Sprachen für sie nur ein möglicherweise ungenauer Versuch diese einzufangen und nicht die Mathematik selbst. Als Basis für ihre Konstruktionen nehmen sie meines Wissens nur die natürlichen Zahlen selbst, die sie als dem kreativen Subjekt unmittelbar gegeben sehen.
Metaphysische Annahmen müssen die Intuitionisten nicht tätigen, da sie nur die abstrahierte Tätigkeit des menschlichen Geistes betrachten.
Als eine abgewandelte Form des Platonismus könnte man Kants Sicht der Mathematik sehen, dass sie das Studium bzw. die synthetische Erkenntnis a priori über die Formen der Anschauung, Raum und Zeit sei (ich hoffe, ich gebe das in etwa richtig wieder).
Man muss allerdings auch berücksichtigen, dass Kants Zeit noch keine große Abstraktion in der Mathematik kannte. Ich weiß nicht, wie sich manche modernen abstrakten Formen der Mathematik damit noch in Einklang bringen lassen.
Ich kenne jemanden (der Kursleiter auf der Sommerakademie, wo ich diesem ganzen begegnet bin), der sagt, dass er Philosophen gegenüber Formalist ist, den Intuitionismus hoch interessant findet, in seinem Herzen aber tiefer Platonist mit kantschem Einschlag ist. Ein bisschen so ähnlich geht es wohl vielen Mathematikern. Im Grunde ist der Formalismus weitesgehend anerkannt als (mehr oder weniger) gesicherte Basis für die Mathematik, aber niemand betreibt so Mathematik. Niemand, der sich mit Begeisterung der Mathematik widmet, kann sie als bloß formales Spiel mit Zeichen betrachten, er empfindet, dass er mathematische Wahrheiten entdeckt und nicht nur nach bestimmten Regeln Zeichenketten erfindet.
Platonismus und Formalismus widersprechen sich rein mathematisch aber nicht, der Formalismus ist gewissermaßen das weitere Konzept. Während man den Intuitionismus auch formalisieren kann (auch wenn manche Intuitionisten das nicht mögen könnten), widersprechen sich Platonismus und Intuitionismus in der Art von Mathematik, die sie betreiben, grundlegend. Sowohl in der Methode als auch in den mathematischen Wahrheiten, die sie erhalten (auch wenn sie teilweise mit verschiedenen Methoden auch die gleichen Sätze erhalten). Es gibt nur sehr wenige Leute, die intuitionistische Mathematik ernsthaft betreiben, der ganz große Strom betreibt im Grunde klassische, also platonistische. Was wahrscheinlich auch nicht unabhängig davon ist, dass letztere physikalisch große Erfolge feiern kann.
Kurz erwähnen kann man noch die pragmatische und die ultra-intuitionistische Sicht, die beiden vielleicht Informatikern entgegenkommen mögen . Erstere sucht weniger nach strengen Beweisen, sondern sieht vielmehr das als wahr an, was augenscheinlich funktioniert. Letztere ist eine Art von Erweiterung des Intuitionismus, sieht aber nicht mal alles das als existent an, wo man weiß, wie man es konstruiert, sondern nur das, was schon konstruiert wurde. D.h. auch sehr große Primzahlen existieren noch nicht.
Padreic
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