Nachdem Ghost zurückgekehrt war und es mittlerweile bereits so dunkel war, dass man nur noch unscharfe Umrisse erkannte, entschiedenen sie sich, sich aufzuteilen und in dem Haus nach brennbaren Sachen zu suchen.
"Das Obergeschoß ist schon etwas zerbröckelt.. Jo, du bist die leichteste von uns, du suchst oben. Adrian, du im Keller und ich such auf dem Erdgeschoß alles ab." Sie nickte, sah Adrian aus dem Augenwinkel nach, als er die Treppe zum Keller hinabstieg und fühlte Schmerz. Es war das geschehen, was sie nicht wollte..
Sie trennten sich.
Joanne schlich über den Boden, auf die Treppe zu und sah zu einem Loch hinauf, durch welches leise Schnee rieselte. Ihre rechte Hand streckte sich aus, griff nach einer Schneeflocke und hielt ihn fest. Als sie die Hand öffnete, war nur noch ein Tropfen kaltes Wasser übrig. So vergänglich war wohl auch das Leben..
Sie ging die Treppe hinauf, wo mehrere Stufen bereits fehlten. Doch sie schaffte es, sich so lange zu strecken, dass sie die nächste Stufe erreichte und zog sich hoch.
Oben angekommen, herrschte Stille. Nur ihre leise Schritte, die in manche kleinen Schneepfützen stieg. Ihr Atem glitt wie Rauch aus ihrem Mund. Sie fror. Kalte Winter würden auf sie zukommen. Sie müssten unbedingt Kleidung finden, die sie mitnehmen konnten, sonst würden sie irgendwann erfrieren, im Schlaf. Leiser, stiller Tod. In den Armen von Adrian.
Sie betrat ein vollkommen leeres Zimmer, lediglich auf dem Boden lagen tote erfrorene Ratten und einige Mäntel und Stricke. Sie ging in die Hocke, nahm einen roten Mantel und zog den alten aus. Zu lange hatte sie darauf gewartet, den alten Mantel loszukriegen, da er fürchterlich nach Erbrochenen, Krankheit und Tod roch. Das Kleidungsstück war warm. Sie schlang ihre Arme um den Leib und blickte auf ihren alten Mantel. Wenige Erinerungen hingen an ihm. Ein Bild vor ihrem geistigen Augen: Die Männer und sie in diesem Raum. Die Männer, von denen sie nicht wusste, ob sie noch am Leben waren oder bereits vernichtet worden waren. Sie stupste den Mantel mit der Fußspitze an, um zu sehen, ob noch irgendetwas in den Tasche war. Doch da war nichts. Ihre einzige Waffe hatte sie verloren. Sie musste wohl im Krankenhaus aus der Tasche gefallen sein oder auf dem Weg dorthin. Vielleicht hatte sie sie auch einfach nur selbst verlegt..
Überprüfend sah sie sich noch einmal im Zimmer um und blickte auf die Wände. Schmutz haftete an ihn, Schmutz und altes Blut. Mit einem unguten Gefühl drehte sie sich um und verließ das Zimmer. Als sie auf die anderen Türen blickte, nachdachte, welches Zimmer sie zu erst durchsuchen sollte, wurde sie von einem leisen Geräusch abgelenkt. Ein Geräusch so leise wie das Knabbern einer Ratte in der Kanalisation.
Ein Geräusch. In dem Zimmer gegenüber. Als sie leiser atmete, um zu lauschen, war ihr klar, dass es kein Engel war. Denn Engel verursachten keine Geräusche, wenn sie töten wollten. Sie waren Katzen gleich, die sich an ihre ahnungslosen Opfer anschlichen und sie im Hinterhalt angriffen und ihnen das Genick brach. "Hallo?" Ein Knarren aus dem Zimmer. Vorsichtig näherte sie sich dem Raum, die Tür war verschlossen, hielt jedoch noch einmal inne. Stand stumm vor der Tür und dachte nach, ob sie den anderen schreien sollte. Ob sie um Hilfe bitten sollte. Nein. Du schaffst das auch alleine. Worte von denen sie nicht wusste, ob sie nun wahr waren oder nur Mutmacher. Ein tiefes Einatmen und ihre Hand glitt zum Türgriff, öffnete sie. Da sah sie ihn..
Am anderen Ende des Zimmers saß auf dem Boden ein Mann, an die Wand lehnend. Mit dem tödlichen Schlaf kämpfend. Er musste Soldat sein, so sah jedenfalls seine Kleidung aus. Vielleicht hatte er sie aber auch nur gestohlen.
Als er sie sah, zielte er mit seiner Waffe auf sie. Seine Hand zitterte. An seinem Arm eine klaffende Wunde, es sah aus, als hätte man ihm fast den Arm abgerissen. Sie hob die Hände als Geste des Friedens und ihr dunkles Haar fiel ihr von den Schultern.
"Ich tu ihnen nichts. Wirklich."
"Hau ab!" Seine Stimme war tief, laut und auf eine Art böse. Doch sie wusste, dass er nicht auf sie böse war. Sondern auf die Schmerzen, die er hatte. Hier hochgekrochen, verletzt, um zu sterben. Sie sah es bildlich vor sich.
"Ich will Ihnen doch nur helfen."
"Ich brauch keine Hilfe. Verschwinde. Hau ab. Verlass dieses Haus."
Sein Haus. Es war, als wüsste sie plötzlich alles über ihn. Es war sein Haus. Er hatte hier gelebt, war verletzt geworden und wollte in einer vertrauten Gegend dem Tod in die Arme fallen. Und nun störte sie ihn dabei..
"Die Wunde kann man heilen.", flüsterte sie, nicht überzeugt davon, was sie sagte. Er sah sie an. Einen Augenblick lang hoffend, ein Schimmer in seinen Augen, der wohl fragte: Wirklich?
Sie spürte die Spannung in der Luft. Denn er konnte sie jederzeit töten, ihr unzählige Kugeln in den Leib schießen, ohne mit der Wimper zu zucken. Doch er dachte wohl auch, dass sie bewaffnet war. Denn er schoss nicht.
Schnee fiel zwischen ihnen zu Boden. Dann schnaubte er und richtete seine Waffe erneut auf sie.
"Ich will nicht, dass man sie heilt. Hast du nicht gehört? Ich brauche deine Hilfe nicht!"
"Aber..." Sie ging einen Schritt auf ihn zu, ignorierte die Waffe. Sollte er sie doch töten, wenn er wollte. Irgendwann würde sie sowieso sterben.
"Ich kann ihnen helfen." In der Mitte des Zimmers blieb sie stehen und sah ihn ernst an.
"Verschwinde.." Seine Stimme war leiser geworden, die Waffe zog er etwas zurück. Hoffnung. Vielleicht wollte er sich doch helfen lassen..
Sie öffnete die Lippen, einen Spalt, atmete wieder in dieser Kälte aus und wollte etwas sagen. Doch er blickte sie nur mitleidig an, war es satt, zu leiden, war es satt, dass man ihm half. Das Haus war zerstört. Sein Haus. Die Menschen, die hier noch gewohnt hatten. Alle tot. Was nützte das Leben noch? Er schloss die Augen, führte den Lauf der Waffe in seinen Mund und sah sie noch ein letztes Mal an, bevor er abdrückte und sich das Leben nahm.
Joanne spürte, wie das warme Blut des Soldaten auf ihre Wangen spritzte, ihre Finger befleckte. Sie schaffte es nicht einmal, zu schreien. Weder vor Entsetzten und Schock, noch um den anderen zu schreien.
Sie sank einfach auf die Knie, legte sich seitlich auf den Boden und sah auf den Leichnam des Mannes. Die Hände auf den Mund gepresst und immer wieder die Frage in ihrem Kopf: Warum?
Warum nur? Ein Aufschluchzen, aber keine Tränen. Man hätte ihm doch helfen können. War diese Welt denn schon absolut verloren? Ergab es noch einen Sinn, die Engel zu bekämpfen, wo der Kampf doch so gut wie verloren war?
Der Schnee färbte sich rot.
Und Joanne wurde auf einmal so vieles klar..
Ich werde nie wieder vor euch davon rennen! Hört ihr mich? Ich werde so viele von euch auslöschen, wie ich kann. Ich bin nun euer Feind.
Ihre Hände wanderten vom Mund zu den Augen. Sie ertrug den Anblick des Soldaten nicht mehr und sie schaffte es nicht, sich umzudrehen. Drückte einfach die Hände auf die Augen und verfluchte im Stillen die Engel..
Das Leben, einer Eintagsfliege gleich. Denn sie lebt und denkt an Morgen, macht Pläne, ohne zu wissen, dass der Morgen für sie der Tod bedeuten wird. Ohne zu wissen, dass ihr nur ein Tag vergönnt ist.
Und der Tod ist unser ständiger Begleiter. Gibt Acht, dass wir nicht alleine losziehen. Gibt Acht, dass wir nicht zu lange leben.
Du hast es endlich verstanden.