Welchen Einfluss eine gute oder schlechte Erziehung hat hängt auch davon ab, welche Anlagen man zusätzlich zu den Erlebnissen in der Kindheit mitbringt und wie man auf diese Erlebnisse reagiert. Wenn man eine sehr schlimme Kindheit hatte, zum Beispiel oft missbraucht oder seelisch gequält wurde von Menschen, die man liebte, ist es sehr schwer, dennoch später positive Bindungen an andere Menschen herzustellen. Andererseits kann es, wenn man es schafft, dies zu verarbeiten und darüber hinwegzukommen, auch dazu führen, dass man besonders sensibel wird und verstärkt auf ein angenehmes Umfeld und Freundlichkeit und Rücksicht anderen gegenüber achtet. Schlimme Erlebnisse können das Selbstwertgefühl schwächen, aber sie können einem auch die Gewissheit geben, dass man auch derart schwierige Situationen irgendwie durchstehen kann, und dieses Bewusstsein wiederum kann in späteren schwierigen Situationen hilfreich sein
Ein Manko in meiner Kindheit war zum Beispiel mein Vater, der oft sehr krank und die Medikamente manchmal nicht zurechnungsfähig ist. Ich hätte mir eher gewünscht, dass er noch öfter nicht da ist, und ziemlich darunter gelitten, dass er manchmal so seltsam war, ich ihn aber lieben sollte, als wäre nichts geschehen, wenn er wieder normal war. Dieser Konflikt besteht immer noch, aber ich habe mich inzwischen weitgehend von dem Anspruch frei gemacht, ihn lieben zu müssen, einfach weil er mein Vater ist, und versuche, Verständnis für ihn zu entwickeln. Und zwar in meinem Interesse, nicht in seinem. Das ist nicht leicht, aber wenn man gezwungen ist, sich mit einer ähnlichen Lage auseinanderzusetzen, erwächst daraus imo ein Verständnis für die individuellen Beweggründe anderer, das später wesentlich zur Verständigung und Konfliktlösung beitragen kann. Dass man die Gründe für das Handeln der anderen kennt und versteht, muss nicht heißen, dass man alles toleriert, aber es ist leichter, etwas zu ändern, wenn man die Ursachen einer Situation kennt.
Ich habe noch keine endgültige Lösung gefunden, aber momentan betrachte ich meinen Vater in seinen verschiedenen Geisteszuständen einfach als zwei verschiedene Personen, kann die eine in Ruhe verachten und mich mit der anderen normal unterhalten ^^
Trotzdem bin ich manchmal wütend auf meinen Vater, weil ich finde, dass er seiner Vaterrolle nicht gerecht wird. Mir wäre es immer noch lieber, wenn er in eine Klinik oder ein Kloster ziehen würde, aber ich habe Mittel und Wege gefunden, mich davon nicht so stark beeinflussen zu lassen. Ich kann traurig darüber sein, aber es ist nichts mehr, was mich verzweifeln lässt, und das ist meiner Meinung nach eine sehr wichtige Änderung in meinem Verhalten.
Mobbing in der Schule war in gewisser Hinsicht noch schlimmer als eine schwierige familiäre Situation. In der eigenen Familie kann man sich eher noch wehren, wütend oder ablehnend verhalten als in einer Gruppe gleichaltriger, die alle gegen einen sind. Morgens schon Angst vor dem Tag zu haben, sich am liebsten irgendwo verkriechen wollen und zu wissen, dass man in die Schule gehen
muss , ist eine meiner übelsten Erinnerungen. Am schlimmsten ist, wenn die, die man als seine Freunde betrachtet hat, so tun, als wäre nichts, und einem nicht helfen. Für eine Krankheit kann man nichts, aber Mobbing gibt einem oft das Gefühl, selbst daran Schuld zu sein, weil man nicht gut genug ist, und macht einen misstrauisch gegenüber jeglichen sozialen Kontakten.- Obwohl es viele Menschen gibt, die ich mag, kenne ich nur zwei Menschen außer den blutsverwandten, denen ich vertraue.
Eine stabile Familie und eine glückliche Kindheit haben meiner Meinung nach eher einen positiven Einfluss als eine negative, aber auch mit einer schwierigen Kindheit ist es durchaus möglich, ein guter Mensch zu werden, wenn man sich Mühe gibt; mit Rückhalt und Selbstbewusstsein aus Familie und Umfeld hat man es meiner Meinung nach jedoch sehr viel leichter, dieses Ziel zu erreichen.