Der "genetische Fehlschluss"

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Traitor
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Di 13. Sep 2005, 19:01 - Beitrag #1

Der "genetische Fehlschluss"

Ich zitiere Maurice aus dem Frau-als-Bundeskanzler-Thread:
Angemerkt sei, dass es sich bei dem Schluss, dass Frau Merkel keine gute Familienpolitik vertreten könnte, weil sie selbst keine Kinder hat, um einen sogenannten genetischen Fehlschluss handelt.
Aussagen wie z.B. "Als Mann können Sie das gar nicht beurteilen. Nur wir Frauen machen damit Erfahrung." richten sich nicht direkt auf die Aussagen oder Argumente einer Person, sondern verweisen auf Merkmale, die bei der Entstehung der Aussagen eine Rolle spielen könnten. In dem Bespiel ist es das Geschlecht der Person. Andere Merkmale können auch soziale Herkunft, Sexualität, Religion usw. sein. Ein genetischer Fehlschluss liegt genau dann vor, wenn wir von solchen Merkmalen auf die Qualität - insbesondere auf Wahrheit und Falschheit - der Aussage schließen. Der Ausdruck "genetisch" bedeutet soviel wie die Herkunft betreffend. Folgendes Beispiel soll nochmal verdeutlichen, weshalb es keinen gültigen Schluss von der Entstehungsbedingung einer Aussage auf deren Qualität gibt:
Stellen wir uns vor, dass in einem Zimmer zwei Leute sitzen, von den einer ein teures Lexikon verkaufen möchte. Der Verkäufer bemerkt, dass sein Gegenüber nach seiner Jacke sieht und anscheinend gehen will. Der Mann mit dem Lexikon täuscht darauf hin vor, durch eine nSpalt im Vorhang nach draussen zu sehen und behauptet darauf, dass es draussen regne. Er versucht damit den potentiellen Käufer zum Bleiben zu bewegen. Doch dieser Versuch bleibt erfolglos, der andere Mann nimmt seine Jacke, geht nach draussen - und es regnet tatsächlich. Der Lexikonverkäufer hat ohne es zu wollen unwissentlich die Wahrheit gesagt.
Dieses Beispiel zeigt, dass Aussagen über ihre Entstehungsbedingungen hinausreichen. Wir sollten sie daher unabhängig von den Umständen ihrer Entstehung betrachten.

Das Argument von Frau Schröder-Köpf ist daher alles andere als gelungen, weil sie einen genetischen Fehlschluss begeht.


Die Ansicht, dass es sich bei dem allgemein beschriebenen Schluss und/oder den Beispielen um einen totalen Fehlschluss handelt und man deshalb generell Aussagen "unabhängig von den Umständen ihrer Entstehung betrachten" solle, kann ich nicht teilen.

Gehen wir auf das Beispiel mit dem Regen ein. Sagen wir, an diesem Tag gibt es laut Wetterbericht eine Regenwahrscheinlichkeit von 50%. Der Verkäufer (warum übrigens ein Lexikon? :wzg: Nicht gerade das naheliegendste Verkaufsgut ;) ) trifft nun seine Aussage "es regnet", ohne aus dem Fenster zu gucken. Die Wahrscheinlichkeit, dass er recht hat, liegt bei 50%. Man könnte also "die Qualität der Aussage" mit der Wahrscheinlichkeit, dass sie richtig ist, gleichsetzen und sagen, diese Aussage hat die Qualität 50%. Wenn nun der Verkäufer aber vorher aus dem Fenster gesehen hat und weiß, dass es regnet, so kann ein unabhängiger Beobachter, der den Kenntnisstand des Verkäufers kennt, die Aussage als von der Qualität 100% beurteilen.

Analog kann Angela Merkel eine familienpolitische Aussage treffen. Hat sie selbst keine familiären Erfahrungen, liegen ihre Chancen, eine korrekte Aussage zu treffen, vielleicht dank Expertenberatung bei 40%, mit eigenen Erfahrungen wären es dann vielleicht 45%.

Natürlich sind die Beispiele fragwürdig, da sich das "Wahrscheinlichkeit, dass die Aussage entweder falsch oder richtig ist" schon nicht mehr sinnvoll auf die Familienpolitik beziehen lässt. Aber die Überlegung zeigt in meinen Augen:
Mit Sicherheit ist es ein Fehlschluss, zu sagen "ich weiß genau, wer der Mensch ist, also weiß ich auch genau, ob seine Aussage zutrifft" - denn die Aussage bezieht sich ja auf etwas außerhalb dieses Menschen. Aber genauso ist es ein Fehlschluss, zu sagen "die Kenntnis des Menschen ist irrelevant für die Beurteilung der Qualität seiner Aussage", denn die Kenntnis des Wissensstandes und der generellen Zuverlässigkeit und Logikfähigkeit des Menschen erlaubt durchaus, seinen Aussagen mehr oder weniger zu trauen als zufälligen Kontrollaussagen.

Maurice
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Di 13. Sep 2005, 19:28 - Beitrag #2

@genetischer Fehlschluss: Ich gab in diesem Fall nur das wieder, was wir auf der Uni beigebracht bekommen. Kannte vor dem Germanistik-Seminar über Argumentation den Ausdruck "genetischer Fehlschluss" auch nicht, hatte aber schon vorher eine Meinung in der Richtung vertreten, dass man die Qualität einer Aussage nicht an dem Verfasser festmachen sollte.
Ich weiß das Beispiel ist nicht das beste, ich habe es aus dem Text übernommen, den wir zu lesen hatten, weil mir in dem Moment kein besseres Beispiel einfiel. Aber es ging ja darum das Prinzip deutlich zu machen.

Ich möchte an dieser Stelle die Kritik an solchen Schlüssen verteidigen, allein schon deshalb, weil im Alltag viele Menschen oft so schlussfolgern.
Beispiel: "Der Arzt hat gesagt, dass ich gesund bin, also bin ich gesund."
Ich will nicht bestreiten, dass ich auch davon ausgehen würde, dass ich gesund bin, wenn mir ein Arzt das attestiert, wenn nicht andere Evidenzen dagegen sprechen. Dennoch ist dies kein sicherer Schluss. Selbst wenn der Arzt 100mal eine richtige Aussage gemacht hat, so muss die 101. nicht notwendig stimmen (Stichwort Induktion).

Wenn ich dich richtig verstehe, dann stört dich der Ausdruck "Fehlschluss", weil er suggeriert, dass die Schlussfolgerungen immer falsch sind. Ich halte diesen Ausdruck auch für nicht optimal, denn es wird nicht die Schlussfolgerung kritisiert, sondern die Art der Folgerung.
Betrachten wir z.B. den sogenannten naturalistischen Fehlschluss, so könnte z.B. die These, dass Homosexualität schlecht ist richtig sein. Nehmen wir es einfach mal hier an. So ist dennoch die Folgerung von einem Ist-Zustand auf einen Soll-Zustand nicht legitim. Wenn nun so argumentiert wird, spricht man von einem naturalistischen Fehlschluss.
Oder nehmen wir den statistischen Fehlschluss: Wenn 100 befragte Bürger sagen, dass sie CDU wählen, dann ist es ein Fehlschluss deshalb zu sagen, dass alle Bürger CDU wählen. Dabei spielt es keine Rolle, ob nun alle CDU wählen oder nicht. "Fehlschluss" meint wie gesagt, dass die Art der Schlussfolgerung nicht korrekt ist.

Traitor
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Di 13. Sep 2005, 20:50 - Beitrag #3

Ja, ich denke, das Hauptproblem sind mal wieder die Ausdrücke. Weder bist du der Ansicht, dass solch ein Schluss immer völlig falsch sein müsste, noch bin ich der Ansicht, dass er immer völlig richtig sein müsse.
Kritisch ist hier wohl, dass die Diskussion im Grenzbereich zwischen Alltagssprache und Logischer Sprache stattfindet. In ersterer meint "Fehlschluss" "Die Aussage, aus A folge B, ist falsch, denn B trifft nicht zu", in letzterer wird er IMHO formell eigentlich gar nicht verwendet, man neigt aber wohl dazu, ihn als "Die Aussage, aus A folge B, ist falsch, denn aus A könnte auch nicht-B folgen" zu verstehen.
Ich würde deshalb dafür plädieren, dass, wenn letzteres gemeint ist, man das unmissverständliche, da fest definierte, "ungültiger Schluss" verwendet. Allerdings kann ich nicht garantieren, dass in der Logik doch auch "Fehlschluss" in diesem Sinne verwendet wird und es mir nur noch nicht als fester Begriff untergekommen ist.

Maurice
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Di 13. Sep 2005, 21:05 - Beitrag #4

Ja "ungültiger Schluss" ist imo auch passender als "Fehlschluss". K.A. warum das "Fehlschluss" heißt, kenne mich auch nicht intensiver mit Logik aus, aber so wird das nun mal benannt.
Ein Vorteil hat das Wort "Fehlschluss" aber, nämlich dass man es mit Adjektiven deutlich besser ergänzen kann, als "ungültiger Schluss". "Ungültiger naturalistischer Schluss" klingt komisch und man könnte meinen, es gäbe auch gültige naturalistische Schlüsse.

Ipsissimus
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Mi 14. Sep 2005, 00:44 - Beitrag #5

ich würde es als einen "nicht sicheren Schluss" oder "nicht zwingenden Schluss" bezeichnen, also einen, der zwar nicht unter allen Umständen eine den Sachverhalten angemessene Erkenntnis garantiert, aber dann, wenn er einer auf Grundlage einer umfangreichen Datensammlung - z.B. Erfahrung - erkannten Tendenz Ausdruck verleiht, trotzdem in einer signifikant hohen Anzahl von Fällen eine den Sachverhalten angemessene Erkenntnis hervorbringt. Als eine vage Analogie aus dem Computerbereich könnte vielleicht die "Fuzzy-Logik" aufgefaßt werden.

Ich glaube auch, daß diese Art von Schlussfolgerungen dem Erfahrungswissen von Menschen am ehesten Genüge tut, weil sie erst gar nicht so tun, als ginge es dabei um modellhafte Sicherheit der Wissensgerierung.

Bowu
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Mi 14. Sep 2005, 09:03 - Beitrag #6

Die Kritik einen Fehlschluss begangen zu haben kritisiert auch meiner Ansicht nach nur die Unzulänglichkeit der Argumentation, nicht die Falschheit. Ein Fehlschluss ist demnach der Glaube, mit den Argumenten sei das Ergebnis schon notwendig bestimmt, wobei in Wirklichkeit noch nicht alle Bedingungen erkannt wurden, und es damit nur eine Aussage des Möglichen bleiben muss.

Fehlschluss würde ich also als "Schluss trotz Fehlendem" umschreiben.

Wenn man jetzt eine bestehende Argumentation dahingehend kritisiert, einen Fehlschluss zu begehen, so verkürzt man das betrachtete enorm, wenn man es auf eine Unterart der Fehlschlüße beschränkt.

Der zusammengesetzte Begriff 'genetischer Fehlschluss', ist meines Erachtens zu kritisieren, denn er impliziert für mich die Frage, ob es einen korrekten genetischen Schluss geben kann. Dies würde ich höchstens für streng automatische (isolierte) Entitäten annehmen. Dass ein genetischer Schluss bei belebten Wesen ein Fehlschluss ist, liegt damit bereits in der Kategorisierung "genetisch", wäre also tautologisch.

Im Konkreten ist also zu fragen, ob die Argumentation gegen Frau Merkel tatsächlich nur eine genetische ist. Ist sie rein genetisch, so ist der Fehlschluss (wenn man Frau Merkel keine komplette isolierung von der Realität unterstellen mag) schon enthalten.

[*]
Ich glaube nicht, dass die Kritik gegenüber Frau Merkels Sozialkompetenz rein genetisch war, auch wenn es auf die Art, wie Maurice es zitierte, rein genetisch klingen mag. Das Argument der Frau Doris bezog sich nämlich nicht rein auf die Kinderlosigkeit, sondern ebenfalls auf ihre Leistungen nach außen unter Kohl. Es hieß also nicht, dass das zu kritisieren ist, dass sie nicht Kinder und Beruf vereint hat, sondern dass sie ihren Leistungen nach so einzuschätzen sei, dass sie es nicht verstehe wie es ist beides unter einen Hut zu bringen.

Hier war meiner Meinung also nicht nur die Genese der Frau Merkel der Kritikpunkt, sondern der Verständnis-Horizont der selbigen. Ob dieser von Autokanzlers Frau korrekt beurteilt werden kann, ist natürlich eine andere Frage.

[*] - diesen Teil stelle ich ebenso in den jeweiligen Thread in der Politik-Ecke


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