Wahlrecht

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Traitor
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Mo 19. Sep 2005, 11:09 - Beitrag #1

Wahlrecht

Ich möchte nicht verhehlen, dass es mich persönlich gefreut hätte, hätte die SPD trotz Stimmenrückstand doch noch die meisten Sitze erhalten. Über diese Wahlperiode hinaus, die Perspektive für unsere Demokratie betrachtend, wäre dies ein desaströses Zeichen gewesen. Schuld daran wäre jedoch nicht die böse SPD, sondern das deutsche Wahlrecht gewesen.

All diese Absurditäten von Überhangmandaten an sich bis zum schlimmsten, was einer Demokratie passieren kann, dem negativen Stimmrecht, ließen sich vielleicht durch irgendwelche Detailkorrekturen und Umstiege auf andere Verteilungsverfahren reparieren. Aber dadurch würden nur neue Absurditäten auftauchen und verständlicher würde das Ganze dadurch sicher nicht.
Deshalb bin ich der Ansicht, dass die einzige wirkliche Heilung aus einer Abschaffung der Erststimme kommen kann. Denn im Normalfall - sprich, wenn keine Absurditäten auftreten - hat die Erststimme genau gar keinen Einfluss auf die Mehrheitsverhältnisse im Bundestag, und im anderen Fall führt sie eben zu Absurditäten.
Ihr einziger Zweck ist die sogeschimpfte "Personalisierung der Wahl", die ich aber eigentlich sogar ablehne, da im Bundestag keine Politik für einzelne Regionen gemacht werden können sollte. Und wenn dennoch jemand unbedingt die Personalisierung beibehalten will, könnte man durchaus mit einer Erststimme eine Partei wählen und mit einer Zweitstimme einen Kandidaten der Liste dieser Partei, sodass durch den Erststimmenanteil bestimmt wird, bis zu welcher Position die Liste "abgearbeitet" wird, und durch die Zweitstimmenverteilung, wie sie sortiert wird.

Das einzige Problem, das ich bei einer derartigen Reform sehe, ist scheinbar widersinnig: dadurch, dass die meist zugunsten der beiden großen Parteien ausfallende Erststimme abgeschafft wird, könnten die kleinen Parteien geschwächt werden. Denn derzeit betreiben viele Menschen Stimmen-Splitting: aufgrund der Wertlosigkeit der Erststimme wählen sie de facto nur Grün/Gelb, haben aber dennoch das Gefühl, zur Hälfte Rot/Schwarz gewählt zu haben. Dieser psychologische Effekt würde wegfallen und viele der Splitter dann mit ihrer eigentlichen Stimme die große Partei wählen, so dass die kleinen schwer um ihr Überleben kämpfen müssen, damit es nicht zur Bildung eines Zwei-Parteien-Systems kommt.

Hierzu noch ein paar aktuelle Zitate von http://www.wahlrecht.de :
02:00 Uhr - CDU darf in Dresden noch höchstens 40.000 Zweitstimmen bekommen

(mf) Die CDU darf bei der Nachwahl im Wahlkreis 160 höchstens 41.226 Zweitstimmen erhalten, sonst verliert sie ein Überhangmandat und würde nur noch 178 statt 179 Abgeordnete stellen (negatives Stimmgewicht wie erwartet).
04:40 Uhr - Welche Namen sind noch unsicher
Der Bundeswahlleiter hat schon mal eine vorläufige Namensliste veröffentlicht. Folgende Kandidaten sollten allerdings nicht zu sehr darauf vertrauen.

* Cajus Julius Caesar, Listenplatz 34 der NRW CDU. Sollten mehr als 9.409 Wähler in Dresden der CDU die Zweitstimme geben, geht der Sitz ins Saarland zu Anette Hübinger (CDU, Listenplatz 3) - (Alabama-Paradoxon)
* Petra Müller Listenplatz 14 der NRW FDP. Sollten mehr als 3.986 Wähler noch ihre Zweitstimme der FDP geben, geht der Sitz an Lutz RüdigerRecknagel nach Thüringen (FDP, Listenplatz Nr. 2) - (Alabama-Paradoxon)
* Priska Hinz Listenplatz 5 der Grünen in Hessen könnte ihren Sitz an Klaus Borger, Listeplatz 1 im Saarland verlieren, wenn die Grünen noch 27.813 Zweitstimmen erhalten (Alabama-Paradoxon), oder wenn die NPD den Wahlkreis Dresden I gewinnen würde.
* Jörn Thießen Listenplatz 8 der SPD in Schleswig-Holstein würde seinen Sitz an die SPD Sachsen (Barbara Wittig, Listenplatz 5) verlieren, wenn diese noch 48.407 Zweitstimmen erhielte.
* Und sollte die CDU sogar mehr als 41.227 Zweitstimmen erhalten, geht auch der Sitz von Anette Hübinger (CDU, Listenplatz 3 im Saarland) wieder verloren und die CDU hätte überdies ein Überhangmandat verloren.
* Ein Wahlkreissieg für die CDU bedeutete ein weiteres CDU Überhangmandat (mit Sitz für Andreas Lämmel), während ein Sieg der SPD oder Linkspartei keine Änderung bedeuten würde.
04:50 Uhr - Negatives Stimmgewicht

Auch bei dieser Wahl treten wieder negative Stimmgewichte auf. Ganz besonders fällt dies natürlich bei der Nachwahl in Dresden auf, denn hier kann die CDU ja noch Stimmen erhalten (oder dies verhindern).

* Die CDU darf bei der Nachwahl im Wahlkreis 160 höchstens 41.226 Zweitstimmen erhalten, sonst verliert sie ein Überhangmandat
* Hätte die CDU 45.000 Zweitstimmen weniger in Baden-Württemberg, hätte sie noch ein Überhangmandat mehr.
* 70.000 Zweistimmen mehr in Hamburg oder im Saarland und die SPD verliert einen Sitz
* 20.000 Zweitstimmen mehr in Brandenburg und die SPD verliert einen Sitz
* 40.000 Zweitstimmen mehr in Sachsen-Anhalt und die SPD verliert einen Sitz

Elbereth
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Mo 19. Sep 2005, 11:57 - Beitrag #2

lol ich wusste gar nicht dass sowas möglich ist...

Kann man das nicht einfach so machen, dass die Hälfte des Bundestages aus den Parteilisten (Zweitstimme) und die andere Hälfte durch die Direktwahl unabhängig von der Zweistimme "besetzt" wird, also ohne dass diese beiden Hälften sich irgendwie beeinflussen? :confused: Also am Ende einfach zusammenzählen und fertig :)

Bowu
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Mo 19. Sep 2005, 12:26 - Beitrag #3

Das Problem an einer reinen Abschaffung der Erststimme, ist mit dem Wort "Parteinstaat" vollkommen umschrieben. Wenn nicht gleichzeitig die Zweitstimme personalisiert wird, ists vorbei mit persönlichem Wahlkampf. Ich glaube damit würde der Bundestag auch viel an Bürgernähe verlieren (auch wenn es da womöglich jetz schon nicht viel zu verlieren gäbe)

Unter dieser Bedingung bin ich für eine Abschaffung der Erststimme, aber nur unter dieser, ein reines Parteienwahlrecht würde ich vehement ablehnen.

Traitor
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Mo 19. Sep 2005, 12:27 - Beitrag #4

Nach deinem Modell hätte man eine weit stärkere Mischung von Mehrheits- und Verhältniswahlrecht: für die Erststimmen-Hälfte würden ja jeweils nur die zur (relativen) Mehrheit gehörenden Stimmen des Wahlkreises zählen, der Rest verfallen. Damit wären die großen Parteien sehr stark bevorzugt und das Endergebnis würde noch weniger als jetzt den gesamten Stimmanteilen (auch über beide Stimmen gemittelt) entsprechen.

Jatrix
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Mo 19. Sep 2005, 13:24 - Beitrag #5

Ich finde, dass man die Erststimme nicht abschaffen sollte, denn wie schon gesagt wurde, wird der Wahlkampf durch sie erst richtig Personenbezogen. Damit hat der Wähler auch einen Einfluss darauf, welche Leute denn jetzt für die Parteien in den Bundestag ziehen und wählt nicht die Katze im Sack. Wenn man es so sieht, macht die Erststimme die Wahl wieder demokratischer. Aber diese Ausnahmen die Traitor aufgezählt hat, sind trotzdem irgendwie skurril.

Traitor
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Mo 19. Sep 2005, 13:58 - Beitrag #6

@Bowu: Wie stellst du dir die Personalisierung vor? So, wie ich es beschrieben habe, oder weiterhin irgendwie wahlkreisgebunden?

@Jatrix: Wählt man nicht eher die Katze im Sack, wenn man einen Kandidaten wegen seines netten Lächelns wählt und sich nachher herausstellt, dass er "nur Parteipolitik" macht?
Dass ein System, in dem man Stimmen abgibt, die nur dann einen Einfluss haben, wenn Systemfehler zum Tragen kommen, demokratischer wäre als ein klares und deutliches, erschließt sich mir nicht.

Bowu
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Mo 19. Sep 2005, 14:24 - Beitrag #7

Es gibt nur noch die Zweitstimme, bei dieser wählt jeder auf der Liste seiner Wunschpartei seinen Wunschkandidaten aus. Wenn je nach Anteil der Zweitstimmen die Plätze im Bundestag verteilt werden, zieht derjenige ein, der die meisten dieser Stimmen auf sich vereinte, und nicht derjenige, den die Partei an den höchsten Platz der Liste setzte.

Traitor
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Mo 19. Sep 2005, 14:38 - Beitrag #8

Also genau dasselbe Verfahren, wie ich es vorgeschlagen habe. Nur mit dem Unterschied, dass dir aufgefallen ist, dass dafür ja sogar ein Kreuzchen ausreicht. :pro:

Fraglich ist bei unserem Verfahren nur, wie der "personalisierte Wahlkampf" dann aussehen würde. Theoretisch müsste dann ja jeder Listenkandidat überall in Deutschland Plakate von sich selbst aufstellen.
Und wie würde man die Parteien dazu bringen, Listen in vernünftiger Länge aufzustellen? Wenn für jede Splitterpartei 600 Kandidaten auf dem Wahlzettel stehen, ist das wenig erquicklich.

Aber das sind nur praktische Detailfragen... hauptsächlich geht es um das System an sich, und da wäre der Fortschritt massiv.

Lykurg
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Mo 19. Sep 2005, 14:59 - Beitrag #9

Vielleicht wäre es aber tatsächlich wünschenswert, zwei Stimmen zu haben, um eben kein Zweiparteienstaat zu werden. Was hieltet ihr davon, wenn jeder zwei Stimmen hat, die er nach Gutdünken derselben oder zwei unterschiedlichen Parteien geben kann, ohne dabei unterschiedliche Wirkungen zu erzielen? Das würde die kleinen Parteien vermutlich stärken - und zugleich dem Vorbehalt entgegenwirken, daß man ja nicht in jeder Frage mit "seiner" Partei übereinstimmt.

Bowu
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Mo 19. Sep 2005, 15:32 - Beitrag #10

Eine Erhöhung der Stimmzahl ist in solch einem System durchaus unproblematisch, aber seien wir ehrlich, wenn schon wir sehen, dass dies den kleinen Parteien nutzen würde - sehen das die großen Parteien , welchen es schaden würde, auch.

Es sind immernoch Landeslisten Traitor. Allerdings ist ein Landeswahlkampf immernoch deutlich unpersönlicher als ein Wahlkreis-Wahlkampf.

Schon daran sieht, dass das Wahlrecht bei uns gar nicht mal so unausgewogen zw. den verschiedenen Ansprüchen ist.

Maglor
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Mo 19. Sep 2005, 15:47 - Beitrag #11

Zitat von Bowu:Es gibt nur noch die Zweitstimme, bei dieser wählt jeder auf der Liste seiner Wunschpartei seinen Wunschkandidaten aus. Wenn je nach Anteil der Zweitstimmen die Plätze im Bundestag verteilt werden, zieht derjenige ein, der die meisten dieser Stimmen auf sich vereinte, und nicht derjenige, den die Partei an den höchsten Platz der Liste setzte.

Ähnliches gibt es bereits funktionstüchtig bei den Kommunalwahlen, zumindest in Hessen. Auf dem Wahlzettel sind dann sämtliche Kanidaten der Parteien in den jeweiligen Listen vermerkt und können angekreuzt werden.
Problematisch ist jedoch die Parteienfülle bei der Bundestagswahl. Bei Kommunalwahlen sind in der Regel nur die Hand voll etablierter Parteien und Freie Wähler vertreten, während bei den Bundestagswahlen traditionell der ganze unprofessionelle Haufen auftritt. Da könnte man leicht den Überblick verlieren; naja aber eigentlich stellen sie auch fast nie Direktkanidaten auf.

MfG Maglor


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