So, dann will ich mal beantworten, was mir schon länger im Kopfe kreist...
Zitat von grau:Moral hat wenig mit werten aber viel mit innergesellschaftlicher Funktionalität zu tun. Das heißt konkret: Verhaltensweisen die sich innerhalb einer geschlossenen Gesellschaft als konstruktiv erwiesen haben, werden zu Moralitäten erhoben. Destruktives Verhalten wird folglich als amoralisch bewertet. Man kann sich in einer Gesellschaft in der verbindliche Rechtsnormen existieren überhaupt nicht als amoralisch bezeichnen. Amoralität würde hier schlicht Delinquenz bedeuten. Jeder der sich im Rahmen der rechtlichen Ordnung korrekt verhält, verhält sich automatisch moralisch. Moral ist Recht und Recht ist Moral! Das schreibe ich hier ohne Wertung! Es soll lediglich deutlich werden, dass Moral nichts weiter ist, als wenige essentielle Verhaltensweisen, die ein halbwegs friedliches zusammenleben innerhalb einer Gesellschaft garantieren. Alles was weiter geht und keine existenziellen Fragen tangiert, ist Ethik. Für ethisches Handeln ist stets komplexes Wissen und vor allem eine intrinsische Motivation erforderlich. Wohingegen für ein "moralisches Leben" lediglich die Beachtung allgemeingültiger Regeln (die sich als zweckmäßig erwiesen haben) notwendig ist.
Die begriffliche Trennung von Moral und Ethik ist so nicht ganz stimmig. Eher schon ist Moral der Satz an gesellschaftlich normierten Verhaltensweisen, Ethik ist gewissermaßen die "Kunde" davon, sozusagen Verhaltenskunde oder "Anthropo-Ethologie".
Auch die Gleichsetzung von moralischen und Rechtsnormen ist in meinen Augen so nicht haltbar - alle Kulturen haben ein System an Moral, an Forderungen, wie der Einzelne sich den anderen gegenüber, diese ihm gegenüber und wie alle sich hinsichtlich bestimmter Sachverhalte und Dinge zu verhalten haben. Die Einhaltung dieser Gebote und Verbote kann durch sehr verschiedene Mechanismen erreicht werden, sei es durch eine eigene Sanktionsnorm, durch direkte Auseinandersetzung zwischen einem Verstoßer und einem Opfer, durch kollektives Handeln der Gemeinschaft, durch Straferlass durch den Häuptling, den Priester, Schamanen o.ä. Diese Sanktionierung unterliegt damit weitgehend individueller Zumessung aufgrund der Einschätzung des Verstoßers und der Intensität des Verstoßes.
Moralverstöße werden also überwiegend mit einem Ermessensspielraum sanktioniert, man könnte ihn auch Willkür nennen und darauf die These von Ipsissimus stützen:
aber längst nicht nur Adorno ist es ganz klar, daß Moral Folge von Machtsetzung ist und sonst nichts
Das wirft zwangsläufig die Frage nach der Allgemeingültigkeit der Moral auf.
Nach meinem Eindruck lassen sich allgemein gültige Normen gewinnen, wenn man die Summe der Einzelsysteme kondensiert.
Damit kommt man IMHO dahin, daß das menschliche Leben zumindest innerhalb der eigenen Gruppe einen hohen Rang einnimmt, außerdem eine Nicht-Gleichbehandlung von Frauen, Kindern und Männern, oft auch von Alten mit einer besonderen Wertbeimesung und Schutzzumessung für Kinder sehr verbreitet ist. Besitz hat da einen hohen Rang, wo er als individuelle Kategorie existiert - und damit ist Raub und Beschädigung verboten.
Auch der interne Frieden hat einen sehr hohen Wert in allen Kulturen, sehr oft ausgedrückt in Mechanismen zur schadlosen Bewältigung von Aggressionen.
In dem Zusammenhang sind vielleicht auch die sehr verbreiteten Codices zum Umgang der Geschlechter zu sehen - die Berichte westlicher Entdecker über die angebliche Freizügigkeit von Indianerstämmen und Südseevölkern halte ich für mit Vorsicht zu genießen - sie sind wesentlich Spiegel der damaligen Prüderie in England als wichtigster Berichtsnation, als Berichte aus einer fremden Welt teils gezielt überzeichnet und folgen aus der individuellen Verfasstheit der Seefahrer unter damaligen Reisebedingungen und ihrer begrenzten Einsichtsfähigkeit in die soziale Verfasstheit der von ihnen be/heimge-suchten Kulturen.
Wenn der Häuptling seine Tochter den Seglern anbot, dann aus denselben Gründen, wegen derer Indiostämme einander die Töchter raubten, um nämlich eine genetische Auffrischung zu erreichen. Daß dies Sinn machen kann, muss den Menschen schon recht früh durch Beobachtung klar geworden und ins kollektive Unterbewußtsein eingegangen sein.
Moral ist also wohl eine Summe von Verhaltensnormen, die durch Nützlichkeit für die betreffende Gesellschaft bestimmt wird.
Das bedeutet zwangsläufig, daß individuelle Freiheitsrechte oder auch Selbstbestimmung nur insoweit gültig sein können, wie sie das Überleben der Gesellschaft nicht beeinträchtigen. Oder umgekehrt, die Freiheitsrechte konnten in dem Maße zunehmen, indem der Einzelne gesellschaftlich entwertet wurde, diese nicht mehr unmittelbar auf ihn angewiesen war.
Daß dann irgendwann Moral in Recht gegossen wurde, tut dem wenig Abbruch - auch in Judäa werden viele Moralverstöße individuell behandelt worden sein, nur die schwerwiegenderen Fälle landeten bei den Schriftgelehrten.
So viel für den Moment.