Lykurg[ohne Titel]


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Während Naim zunächst Khaldun gefolgt war, hatte Esme weiter die Kisten, die ehemals Diebesgut enthalten haben mochten, untersucht. In einem fand sie eine etwa daumennagelgroße, unregelmäßig geformte Muschelscheibe mit vier Löchern. In die Mitte war der Umriß eines springenden Fisches eingeritzt. Sie mochte von einem Schmuckstück, vielleicht auch einem Umhang, abgerissen sein. Neugierig steckte die Karai, die derartiges noch nie gesehen hatte, es ein. Auf Sharies Ausruf hin blickte sie hoch und trat zu ihr. Die Zeichen, die die junge Priesterin entdeckt hatte, verliefen in zwei Reihen um eine Nische herum. Sie waren tief in den Felsen geritzt und wirkten unheimlich auf sie - wie alle Schrift. Aber auch sie merkte, daß diese Zeichen anders aussahen als etwa der Schriftzug über dem Eingang des nun zerstörten Tempels, die Naim ihr einmal vorgelesen hatte. Sie zog ihre Flöte aus der Tasche und pfiff nach ihm. Er hörte ihre kurze Tonfolge, die bedeutete, daß sie ihm etwas zeigen wollte, und kehrte um. Vielleicht hatte sie etwas gefunden, seinen Arm besser zu verbinden? Der behelfsmäßige Verband, den sie im Dunkeln angebracht hatte, drückte ihn. Sanuye kam ihm entgegen, als er aus dem Gang trat. Offenbar wollte sie Khaldun folgen; damit war er nur allzu einverstanden. Er sah, daß Sharie und seine Frau vor einer Wandnische standen, die sie mit einer Fackel genommen erleuchteten. Tatsächlich befanden sich auf dem Rand davon Zeichen, die er kannte - zumindest ein paar davon. Meister Larokh hatte seinerzeit angefangen, seinem Schüler die Grundbegriffe der alten Schriften beizubringen. Er selbst war damals ein störrischer junger Mann gewesen, der das Leben in den Wäldern gewohnt war, der dem Blätterrauschen und dem Murmeln eines Baches lieber lauschte als der krächzenden Stimme des Alten. Eine gewisse natürliche Begabung hatte ihn dazu gebracht, Naim eine Ausbildung in magischen Künsten zu geben. Meister Larokh hatte keinerlei Bedenken gehabt, sein Wissen auch Abkömmlingen der Mulod, Ekhaiiri, Qoc und anderer Völker zu vermitteln. Er hatte seine immer ein paar Schüler zugleich gehabt, die von weit her kamen, einen Irinor hatte Naim damals auch kennengelernt. Aber er hatte das Vertrauen des Meisters schlecht gedankt, lieber den schönen Mädchen der Mulod nachgestellt, als fleißig zu lernen. Was interessierten ihn die Schriften vergangener Völker? Er wollte Magie anwenden, um sein Leben zu genießen! Das war ihm damals zum Verhängnis geworden... Er erkannte, daß die Schriftzeichen an der Wand Zahlen enthielten, viele Zahlen. Sie liefen von rechts nach links und wieder zurück, ergaben ein Muster. Dazwischen waren viele Wörter und Symbole eingestreut, die er nicht kannte, auch wohl noch nie gesehen hatte, aber er sah, daß einige der Zeichen größer waren und tiefer eingeritzt als andere. Die äußere Zeile war flüchtiger geschrieben als die innere, in einer anderen Schrift, vielleicht als Erklärung der inneren, die ihm bedeutsamer erschien. Er fuhr probehalber mit dem Finger darüber und spürte ein Prickeln in den Fingerspitzen. Ein Begriff formte sich in seinem Kopf, ohne daß er wußte, wie, er las eines der Worte vor, dann ein weiteres. Plötzlich strömte aus der Nische der Duft von in der Sonne dörrendem Gras, eine Fliege summte heraus, die zuvor nicht dagewesen war. Er nahm einen kleinen Stein und warf ihn in die Öffnung - er verschwand. Da setzte wildes Hundegebell ein, er dachte zuerst, es komme aus der Nische, merkte dann aber, daß es von innen, aus der Höhle, schallte. Esme faßte ihm an die Schulter - "Sieh!" - Er wandte sich um und bekam gerade noch mit, wie Sanuye, von einer Rotte geifernder Höllenhunde verfolgt, auf sie zu rannte die Wand hoch sprang, um sich eines der Monster zu stürzen. Kurz entschlossen packte er erst Esme, dann Sharie, und schubste sie in die Nische, in der sie verschwanden. Dann legte er einen Pfeil auf die Bogensehne. Die Verletzung war vergessen, er spannte den Bogen mit Kraft und traf einen Höllenhund quer durch die Kehlen zweier seiner Köpfe, eine Fontäne schwarzen Blutes stieg empor. Der verbleibende Kopf heulte laut auf, dann kippte das Tier schnappend und geifernd zur Seite. Naim hatte bereits einen zweiten Pfeil aufgelegt, als ein weiterer Höllenhund in großen Sätzen auf ihn zusprang. Durch das Geschoß ins Taumeln geraten, das sich in seine Brust bohrte, erreichte er Naim, der beiseitesprang, sein steinernes Messer zog und dem tobenden Biest in den Leib bohrte. Der heiße, verweste Atem der Kreatur traf ihn, dann geriet er unter dessen Körper, zog das Messer heraus und rammte es von unten nocheinmal hinein. Er spürte, wie sie zuckend über ihm verendete. Esme blickte sich verwundert um. Sharie und sie standen auf einer kleinen Steinplatte inmitten einer wogenden Hügellandschaft, die Sonne brannte unbarmherzig auf sie nieder, dürres Gras und niedrige Sträucher, so weit das Auge reichte. Aber sie sah, daß hinter einem größeren Hügel in einiger Entfernung Rauch aufstieg, vielleicht war dort eine Ansiedlung. Sie hatte große Angst um Naim, der dem Angriff dieser grausigen Monster ausgesetzt war, und hoffte von ganzem Herzen, daß er nachkommen würde, statt den Helden zu spielen. Sie trat von der Steinplatte herunter und bereitete aus ihren Kräutervorräten eine neue Heilsalbe - sie würde sicherlich gebraucht werden.
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