Kuba-Venezuela-Iran - Eine neue Achse ?

Das aktuelle politische Geschehen in Deutschland und der ganzen Welt sowie wichtige Ereignisse der Weltgeschichte.
janw
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Do 3. Aug 2006, 01:47 - Beitrag #1

Kuba-Venezuela-Iran - Eine neue Achse ?

Seitdem vor einigen Tagen der linksnationalistische Präsident von Venezuela, Hugo Chavez, sich mit dem iranischen Präsidenten und Holocaust-Leugner Achmadi Nedschad verbrüderte und danach auch gegenüber Cuba seine offene Sympathie bekundete, ist die Weltpolitik um eine Staaten-Achse "reicher" geworden. Ein aufstrebendes Land der arabischen Welt und zwei Staaten aus dem amerikanischen Vorhof geben sich als Sachwalter der Interessen der aus ihrer Sicht benachteiligten Länder und treten offen den amerikanischen Hegemonie-Bestrebungen entgegen. Dabei schreckte Chavez nicht davor zurück, die Leugnung des Holocausts durch Achmadi Nedschad zu unterstützen.

Ich frage mich, welchen Zweck dies verfolgt.
Ist Chavez ein neuer geistiger Brandstifter, einer jener Politiker, die die IMHO durchaus berechtigte Kritik an der amerikanischen Hegemonialität als Vehikel zur Durchsetzung eigener, deutlich unlauterer Interessen mißbrauchen, oder verfolgt er das Ziel, von eigenen inneren Problemem abzulenken?
Oder war der Schulterschluss mit Cuba, immerhin kurz vor der Machtübergabe von Castro an seinen Bruder, als Versuch zur Stützung dieses Regiems gedacht?

Ich könnte mir so manches denken, bin allerdings unsicher und gebe die Fragen deshalb weiter.

Lykurg
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Do 3. Aug 2006, 09:26 - Beitrag #2

Den engen Schulterschluß mit Castro hat Chávez schon längst offen gezeigt; Venezuela ist Kubas wichtigster Handelspartner, liefert stark vergünstigtes Öl und kauft dafür Zucker und Tabak zu überhöhten Preisen. Die 'Gegenleistung' ist ideologische Unterstützung. Der Dritte im Bunde ist der Präsident Boliviens, Evo Morales, der mit der Enteignung und Verstaatlichung ausländischer Unternehmen (insbesondere brasilianische...) für erheblichen Ärger sorgte - in Südamerika herrscht derzeit einige Unruhe.

Die Verbindung mit Ahmadi-Nedschad ist mir dagegen neu. Sie bildet aber nur einen Teil seiner neuen internationalen Beziehungssuche, wie sie etwa hier geschildert wird - der indymedia-Artikel bemüht sich natürlich um die Rechtfertigung seiner 3-Mrd-Waffenkäufe in Rußland durch (wahrscheinlich tatsächlich in den Schubladen vorhandene) Invasionspläne der USA. Eine geistige Entfernung zum Holocaust-Leugner gibt es kaum, immerhin verwendet er den Holocaust aber als wohlfeiles Vergleichsbeispiel (in einem etwa auf tagesschau.de zitierten Al-Dschasira-Interview):
"Israel verübt an den Libanesen die selben Handlungen, wie sie Hitler an den Juden verübt hat - die Ermordung von Kindern und Hunderten unschuldigen Zivilisten"
Die innenpolitischen Probleme, die Chávez durch seine natürliche Gegnerschaft zu Wirtschaft, Medien, der Kirche, aber auch einigen Gewerkschaften hat, weiß er durch massive Pressezensur und blutige Polizeieinsätze gegen Demonstranten kleinzuhalten. Vermutlich dafür erhielt er 2004 in Libyen den Gaddafi-Menschenrechtspreis. ;)

Ipsissimus
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Do 3. Aug 2006, 13:37 - Beitrag #3

tja, da hat es der Morales wohl tatsächlich gewagt, nach vielen Jahrzehnten der USA-gestützten Diktatur mit massiver Unterdrückung der indigenen Bevölkerung, mit massivem Armutsgefälle bedingt durch massiven Ausverkauf der einheimischen Rohstoffe an überwiegend US-amerikanische Konzerne den Spieß umzukehren und diesen ganzen rechten Ultras ihre eigene Medizin zu trinken zu geben - und schon ist er der Buhmann, der für Unruhe sorgt, nachdem sich die Industrienationen in jahrzehntelangem Schlaf der Gerechten suhlen konnten, weil sie ja den Nutzen von der Situation hatten.

Das ist wirklich ganz unverzeihlich von dem Morales, denn wen interssieren schon die Indios, die Kleinbauern und Sklavenarbeiter, solange man an ihnen gut verdienen kann, und etwas verdienen zu wollen ist nach neoliberaler Maxime ja etwas, womit alles gerechtfertigt werden kann.

Da kann man doch nur sagen, Gott sei dank tut sich der Mann mit zwielichtigen Zeitgenossen zusammen, dann können wir wenigstens auf den Nebenkriegsschauplatz verweisen und müssen uns nicht mit dem Wesentlichen auseinandersetzen.

Es scheint wirklich ganz und gar unbegreiflich zu sein, daß es Länder gibt, die lieber ihren eigenen Weg, unbeherrscht vom guten Freund USA, gehen wollen.

Daß diese Länder in einer Staatengemeinschaft, die wesentlich von USA und Industrienationen abhängig ist, automatisch zusammenfinden, ist auch anscheinend unverständlich.

Weil wir ja die Guten sind.

Traitor
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Do 3. Aug 2006, 14:03 - Beitrag #4

Chavez versucht schon lange, sich als Anführer einer lateinamerikanischen Widerstandsfront gegen die USA zu installieren und eine Einflussphäre in der Karibik zu errichten. Kuba als ideologisches Vorzeigeobjekt, das aber wirtschaftlich und politisch schwach ist, ist da ein ideales Betätigungsfeld. Seitdem auch der Großteil Südamerikas von linkspopulistischen Präsidenten regiert wird, sind Chavez' Aussichten deutlich gestiegen - glücklicherweise sind die anderen Herrscher aber stärker in der Demokratie verwurzelt als er, sodass eine verstärkte Kooperation zwar realistisch erscheint, aber kein kontinentaler Schwenk zur Quasi-Diktatur, und auch Chavez' Führungsrolle wird alles andere als unstrittig sein.
Nun ist die Frage, wie der Schulterschluss mit Teheran zu werten ist - versucht Chavez, sich in Übersee Verbündete zu sammeln, um gegenüber seinen Nachbarn stärker dazustehen ("wenn ihr mir folgt, helfen uns die und die") oder hat er die Schwierigkeit des Panlateinamerikanismusses eingesehen und baut sich lieber ein kleineres Privatbündnis auf? Denn die, wie erwähnt, demokratischeren Nachbarn werden über die Annäherung an den Iran wohl eher wenig begeistert sein.

janw
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Do 3. Aug 2006, 14:08 - Beitrag #5

Ipsi, nein, unverständlich ist das nicht, für mich zumindest, wobei mir aber Chavez irgendwie weniger sympathisch ist als Morales. Muss Chavez sich wirklich mit Lukaschenko treffen? Muss er wirklich sich verbal in die Nähe jener begeben, die Gräueltaten dadurch "hochargumentieren", indem sie diese mit dem Nationalsozialismus gleichsetzen?

Gut, vielleicht ist es ein Fehler von Idealisten wie mir, von den Guten zuviel zu fordern...wer weiß?

Ipsissimus
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Do 3. Aug 2006, 14:31 - Beitrag #6

aber kein kontinentaler Schwenk zur Quasi-Diktatur


der allein schon deswegen nicht möglich ist, weil Lateinamerika der Kontinent der Diktaturen bei formaler Demokratie ist, wie im übrigen auch ein größerer Teil Nordamerikas


janw, alle diese Bewertungen setzen bestimmte Sichtweisen voraus. In unseren Medien werden die Lukaschenkows dieser Welt als verabscheuenswürdige Wesen vorgeführt - warum nicht die Bushs, Blairs, Chiracs und alle, die versuchen, ihre Staaten auf Kosten anderer Staaten und Menschen zu pushen, die zulassen, daß durch ungerechte Güter- und Ressourcenverteilung weite Teile der Welt in Elend leben müssen?

Weil uns dann nicht mehr die Hybris des Gutseins möglich wäre, die Basis unserer Selbstgerechtigkeit ist, mit der wir die Welt und ihre Menschen gemäß ihrer Nützlichkeit funktionalisieren

daß die Freiheit, die unsere Führer meinen, immer nur die Freiheit ist, andere zu übervorteilen, scheint immer noch nicht wirklich klar zu sein

Lykurg
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Do 3. Aug 2006, 14:48 - Beitrag #7

tjaja, antworte ich doch nochmal drauf, obwohl ich den Sinn darin wirklich nicht mehr sehe... "nach vielen Jahrzehnten der USA-gestützten Diktatur" - es waren knapp zwei; die US-Unterstützung der Diktatur ist von linker Propaganda erheblich aufgebauscht worden (klingt aber natürlich immer toll) und das ganze ist ein Vierteljahrhundert her. Aber klar, Südamerika, also natürlich US-Terrorherrschaft mit großen Vernichtungslagern, machen die immer so. Weil die ja die Bösen sind.

Dank an Traitor für die erholsam-nüchterne Analyse. Beneidenswert.

janw, vielleicht ist es ein Fehler von Idealisten wie dir, überhaupt noch Gute zu erwarten?^^ Chávez ist mir übrigens ebenfalls weniger sympathisch als Morales. Aber Vorsicht: Chávez selbst hat "hochargumentiert", mein Zitat stammte von ihm. Er begibt sich in die Nähe derer, die den Holocaust völlig leugnen.

janw
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Do 3. Aug 2006, 14:49 - Beitrag #8

Da ist etwas dran, unsere Dämonen lenken von sich ab, indem sie auf andere zeigen...
Mögen sie wenigstens in der gleichen Hölle landen^^

Freiheit...muss für mich immer auch die Freiheit des Andersdenkenden, -fühlenden, -lebenwollenden,... siehe Rosa L.

EDIT:
Lykurg, ja, Traitors Analyse beschreibt für mich gut die realpolitische Komponente in der Sache - wenn Chavez und Morales wirklich etwas erreichen wollen in ihrem Sinne, dann müssen sie global agieren. Daß die dafür zur Verfügung stehenden Partner nicht gerade Freiheitsvertreter im libertären Sinne sind, sondern selbst Diktatoren, ist bedauerlich.

Wäre es nicht ein Fehler, die Hoffnung auf das Gute aufzugeben?^^

Du hast recht, Chavez selbst hat den Vergleich getätigt, einen in meinen Augen wirklich unsäglichen.
Mir scheint, ihm fehlt politisches Gespür, was er erreichen muss, um seine Ziele zu erreichen.
Die amerikanische Hegemonie hat viele Feinde. Um wirklich Erfolg haben zu können, müßte er IMHO jene hinter sich bringen, denen es wirklich um Freiheit im Sinne von Chancengleichheit und gerechter Ressourcenverteilung geht. Viele von denen sind aber bezüglich des Holocausts sehr sensibel.

Traitor
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Do 3. Aug 2006, 16:09 - Beitrag #9

@Ipsissimus:
der allein schon deswegen nicht möglich ist, weil Lateinamerika der Kontinent der Diktaturen bei formaler Demokratie ist, wie im übrigen auch ein größerer Teil Nordamerikas
Natürlich sind auch Brasilien oder Argentinien keine Musterdemokratien. Aber einen Unterschied zwischen diesen und Venezuela sehe ich noch immer. Auch wenn Chavez auf dem Papier das Mitbestimmungsrecht des Volkes verstärkt hat, greift er doch mit staatlicher Lenkung der Wirtschaft und Medien und Repressalien gegen Oppositionelle deutlich stärker in dessen Meinungsentfaltung ein als andere Länder des Kontinents.

In Sachen Morales wird man sehen müssen, inwieweit er sein Versprechen, die Kokabauern zu fördern, ohne dabei letztlich nur den Kokainbossen zu helfen, umsetzen kann, oder ob er doch zum Handlanger letzterer wird. Auch wird er vor dem großen Problem stehen, die separatistischen Bewegungen zu unterbinden.

Lykurg
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Do 12. Mai 2011, 11:36 - Beitrag #10

Ein bißchen mehr zu Chavez' Außenpolitik ;) und humanitären Projekten^^ enthält dieser Artikel. Wie eine detaillierte unabhängige Analyse von vor zwei Jahren erbeuteten Daten von Rechnern der kolumbianischen Terrororganisation FARC zeigt, hat er diese in großem Maßstab unterstützt. Schon interessant...

Und die Iran-Achse hat sich auch gerade wieder verstärkt, im Moment gibt es konkrete Raketenstationierungspläne.

Ipsissimus
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Do 12. Mai 2011, 13:14 - Beitrag #11

1993 stellten die FARC im Rahmen der Plattform für eine Regierung des Wiederaufbaus und der nationalen Aussöhnung einen Zehnpunkte-Plan auf, der als Gesprächsgrundlage mit der Regierung dienen sollte und folgende Forderungen beinhaltete:

die Lösung des Konflikts mit politischen Mitteln;
die Armee darf keine innenpolitischen Funktionen wahrnehmen;
Durchsetzung der Gewaltenteilung zwischen Justiz und Politik, Pressefreiheit und demokratische Mitbestimmungsmöglichkeiten auf allen Ebenen;
Stärkung des internen Konsums, Schutz der einheimischen Industrien vor ausländischer Konkurrenz sowie staatliche Kontrolle über den Energiesektor;
Verwendung von 50 % des Staatshaushaltes für Sozialausgaben und 10 % für die Förderung der Wissenschaften;
Einführung eines progressiven Steuersystems;
Entwicklungsprogramme für ländliche Regionen;
Revision der Energiepolitik und Neuverhandlung der Verträge zum Abbau der Bodenschätze mit den multinationalen Unternehmen;
Aufbau souveräner, auf dem Recht auf Selbstbestimmung basierender Beziehungen zu allen Ländern der Welt;
nicht-militärische Lösung des Drogenproblems.


Artikel FARC, deutsche Wikipedia

da weiß man doch gleich, warum die FARC von Kolumbien, Peru, USA, Kanada und den 27 EU-Mitgliedsstaaten als terroristische Organisation eingestuft wird. Und die entführten Zivilisten waren natürlich ganz streng nur arme, wehrlose Bergbauern, die nicht das geringste mit dem kolumbianischen Unrechtssystem zu tun hatten. Wie überhaupt die Existenz von Unrechtssystemen nichts zur Sache tut, solange die Regierung nur prokapitalistisch regiert, weil das ist wichtiger als das Leid des Volkes, das regiert wird. Wären sie in Nordkorea oder im Iran, würde man sie zu legitimen Freiheitskämpfern erklären, aber doch nicht in diesem folterfreien, nicht vom Militär beherrschten und nicht sein eigenes Volk blutsaugendem Kolumbien^^

Lykurg
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Do 12. Mai 2011, 17:02 - Beitrag #12

Gegenüber der Neutralität des Artikels habe ich massive Bedenken. - Wie ernsthaft diese Absichten waren, ließe sich an der fortgesetzten Entführungstätigkeit, Anschlägen, Überfällen und etwa am Verlegen von Landminen durch die FARC beobachten, durch die dort tausende von Menschen ums Leben gekommen sind. Auch Menschen über Jahre in Gefangenschaft zu halten, um Geld zu erpressen, ist in meinen Augen kein regelmäßiges und regelkonformes Verhalten von verhandlungsfähigen Parteien. Zugegebenermaßen hat man auch mit den beiden großen deutschen Volksparteien bzw. ihren Vorsitzenden immer wieder Verhandlungen geführt. ('33-'90) ;)

Die Forderung nach Einführung einer progressiven Einkommenssteuer und einem 50%igen Sozialhaushalt zeigen allerdings, daß auch die Ersteller dieser Liste den Untergang Kolumbiens betreiben, selbst wenn das nicht ihre Absicht sein sollte. ;)

janw
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Do 12. Mai 2011, 17:41 - Beitrag #13

Lykurg, die Datierung des Programms lässt mich vermuten, daß sich seitdem die Verhältnisse geändert haben können, paramilitärische Intervention der Amerikaner gegen den Kokaanbau lässt die Bauern, die davon am wenigsten profitieren, ganz verarmen, paramilitärisches Vorgehen gegen die FARC lässt diese noch militanter werden - so in der Richtung könnte ich mir eine Entwicklung vorstellen.

Das Programm erscheint mir bis auf den Punkt mit dem Staatshaushalt durchaus sinnvoll, auch unser Steuersystem ist progressiv angelegt.

In meinen Augen gibt es nur eine Lösung für das Drogenproblem, nein, 2:
Legalisierung des Drogenbesitzes zum Eigenbedarf und kontrollierter Vertrieb, oder den Bauern Anbaualternativen eröffnen, mit denen sie gut leben können, und ihre Landrechte garantieren und schützen.
Das Problem ist, daß den Regierungen die Bauern egal sind, sie sind so lange gelitten, wie sie nicht der Ausbeutung unter ihren Feldern befindlicher Rohstoffe im Wege stehen oder ihr Land nicht im Focus von Agrokonzernen liegt.

Ipsissimus
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Do 12. Mai 2011, 17:54 - Beitrag #14

Lykurg, ich erachte die FARC ganz sicher nicht als einen Ableger der Heilsarmee^^ aber ähnlich wie es Jan darstellt, sehe ich auch, wie einfach es möglich ist, eine prinzipiell gesprächsbereite Gruppe zu kriminalisieren und in der Folge zu radikalisieren, wenn es einer Regierung gar nicht daran gelegen ist, zu verhandeln, weil dadurch etwas Essentielles in Frage gestellt würde, die eigene Machtvollkommenheit. Ich verstehe einfach nicht, was so schwer daran zu verstehen ist, dass Menschen, die getreten werden, irgendwann beginnen, sich dagegen zu wehren und dass es ihnen - wenn sie immer weiter getreten werden - dabei irgendwann scheißegal wird, ob sie sich dabei mit ihrer Regierung anlegen oder nicht.

Lykurg
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Do 12. Mai 2011, 18:10 - Beitrag #15

Zu diesem Zeitpunkt hatte die FARC ein paar Jahre des bewaffneten Kampfs hinter sich und steckte, wenn die Darstellung im Wikipedia-Artikel stimmt, in einer Art Sinnkrise. ;) Daß sie in den 50ern als ein wenig relevanter Bauernverband begonnen hat, ist für ihren Zustand in der Gegenwart nicht von wesentlicher Bedeutung für die Einschätzung der Organisation als eine verbrecherische Bedrohung der Zivilbevölkerung.

'Sich dagegen wehren' heißt nicht 'tausende von Menschen entführen, töten und verstümmeln' und 'zehntausende Landminen legen'. Möglicherweise hat in vielen Fällen tatsächlich auch ein Abgleiten aus einer Opfer- in die Täterrolle stattgefunden, aber auch wer früher einmal Opfer war, handelt deswegen noch lange nicht gut (auch wenn es ein zwanzig Jahre altes Dokument friedlicher Absichten gibt, von wem auch immer innerhalb der Gruppe das initiiert und legitimiert sein mag).

janw, daß wir auch eines haben, und sogar noch höhere Sozialausgaben, macht die Idee nicht besser, genau darauf bezog ich mich ja.
;)

Ipsissimus
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Fr 13. Mai 2011, 09:53 - Beitrag #16

'Sich dagegen wehren' heißt zunächst einmal, mit den Mitteln, die möglich sind, Widerstand zu leisten. Die FARC hat nicht von vornherein mit Landminen begonnen, und auch nicht mit Entführungen. Wenn Widerstand, der sich gegen Sachverhalte richtet, die ganze Volksgruppen und selbst ganze Länder ins Leid zwingen und halten, aber kriminalisiert wird, ohne dass die Sachverhalte, gegen die der Widerstand sich richtet, behoben werden, wird er legitim - nicht in einem formalkorrekten Sinne, aber gemäß meiner Ethik^^ und immerhin diskutieren wir noch über die Legitimität der FARC - von den Paramilitärs brauchen wir diesbezüglich gar nicht erst zu reden.

Natürlich ist mit der Verwendung von Landminen und der Rekrutierung von Kindersoldaten eine Grenze überschritten, die die Mittel des Widerstands delegitimiert; allerdings hält sich auch der Human Rights Watch-Report nicht wirklich mit Belegen auf. Und auf die 10 Zeilen Auflistung der Verfehlungen der FARC kommen ebenso 10 Zeilen für die Verfehlungen der Regierungstruppen und ein Vielfaches an Zeilen für die Paramilitärs, nur mal, um das Problem zu wichten. Aber die FARC ist irgendwie links, also sind sie die Bösen aus Sicht der guten westlichen Industriestaaten^^

Lykurg, bei dir habe ich immer den Eindruck, dass eine deiner Grundmaximen lautet: "Egal, was sie macht, es ist die Regierung, also hat das Volk ihr zu gehorchen, bis es sie formalkorrekt abgewählt hat." Das funktioniert - wenigstens einigermaßen - meiner Meinung nach aber nur in Ländern, in denen Wahlen tatsächlich etwas bedeuten, und da zählt Kolumbien bislang nicht dazu.

Lykurg
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Fr 13. Mai 2011, 14:15 - Beitrag #17

'Sich dagegen wehren' kann auch bedeuten: mit legalen Mitteln Widerstand leisten. Meines Erachtens ist das innerhalb eines funktionierenden Rechtsstaats die einzig legitime Form. Daß Kolumbien erhebliche Probleme hat, die Rechtssicherheit zu gewährleisten, sehe ich ebenfalls - das Land hat mit einer sehr freiheitlichen Verfassung, direkter Wahl fast aller relevanten Staatsämter und vollzogener Gewaltenteilung (wenn auch zu starker Präsidialmacht) gute Voraussetzungen, die Ausführung scheitert aber zu erheblichen Teilen an FARC, Paramilitärs und Drogenkartellen. In dieser Lage ist aber jedenfalls die unterstützende Einmischung von Nachbarländern gegen die Regierung dem Frieden wenig hilfreich, darüber hinaus politisch und völkerrechtlich unzulässig.

Ipsissimus, natürlich ließe sich auch eine entsprechende Retourkutsche auf die Fahrt schicken, das wäre mir aber zu simpel. Eher schon: "Es ist eine gewählte Regierung, also sollte man bei Unzufriedenheit ihre Abwahl betreiben." Das hat durchaus auch in Ländern funktioniert, die Wahlen einen geringeren Stellenwert beimaßen, und ich bezweifle, daß eine Organisation, die ihre derzeitige Verhaltensweise in den politisch sehr viel schwierigeren Machtverhältnissen etabliert hat, heute gültige Alternativen bieten kann.

Ipsissimus
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Fr 13. Mai 2011, 14:42 - Beitrag #18

'Sich dagegen wehren' kann auch bedeuten: mit legalen Mitteln Widerstand leisten.
ohne Zweifel, das kann es bedeuten. Wenn aber über die Legalität von Mitteln von denen entschieden wird, gegen die der Widerstand sich richtet, bekommen wir ein Problem. "Vollzogene Gewaltenteilung" ist wohl eher die Theorie eines sich selbst nicht in Frage stellenden korrupten Systems statt gelebter kolumbianischer Realität.

Und wenn ich den Human Rights Watch Report nur einigermaßen richtig verstanden habe, kommen auf eine Menschenrechtsverletzung der FARC eine der Regierung und 10 der Paramilitärs. Geht die kolumbianische Armee mit vergleichbarer Härte wie gegen die FARC auch gegen die Paramilitärs vor? Prangert sie die Paramilitärs wenigstens öffentlich an? Nicht dass es jemand beobachtet hätte. Vielleicht weil die Paramilitärs der verlängerte Arm der Armee, also der Regierung sind? Offiziell wird natürlich niemand zugeben, was alle Spatzen von den Dächern pfeifen.

janw
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Fr 13. Mai 2011, 22:39 - Beitrag #19

Zitat von Lykurg:'Sich dagegen wehren' kann auch bedeuten: mit legalen Mitteln Widerstand leisten. Meines Erachtens ist das innerhalb eines funktionierenden Rechtsstaats die einzig legitime Form.[...]
"Es ist eine gewählte Regierung, also sollte man bei Unzufriedenheit ihre Abwahl betreiben."

Was Widerstand mit legalen Mitteln bringt, kann man bei den Penan auf Borneo sehen. Praktisch ausradiert.

Das Problem ist aus meiner Sicht, daß es den Bauern nicht um eine Schule mehr oder weniger geht, sondern um Existenz.
Für den Belang ihrer Existenzrechte, dafür, daß nicht einfach unter ihrem Land nach Rohstoffen gesucht werden darf, ihr Land an Agromultis verscherbelt werden darf, ihre Flüsse und ihr Grundwasser mit Minenabwässern verseucht werden, werden sie nie eine Wahlmehrheit bekommen, so lange die Masse der Wähler in Städten ist mit eigenen Problemen und so lange die Belange direkt mit den Interessen der Machtzirkel kollidieren - die nämlich mit den Multis verwoben sind.
Es gibt seit ein paar Jahren den Begriff der "good governance", an sich eine gute Entwicklung - wenn sie nur nicht ständig einseitig zugunsten der multinationalen Industrien ausgelegt werden würde, während die Behandlung der Bauern und kleinen Leute niemanden interessiert.

Wenn es der Regierung ernst sein sollte mit der Lösung der Probleme, dann sollte sie die Paras aus dem Verkehr ziehen und mit der FARC Verhandlungen aufnehmen, vielleicht vermittelt durch die uno oder jemanden wie Arundhati Roy. Wie gesagt, der Forderungskatalog enthält viel Bedenkenswertes, über das Steuersystem wäre zu diskutieren wie auch über die Sozialquote des Haushaltes - bzw. was darunter zu subsummieren wäre.
(Das ist meines Wissens überhaupt ein ganz heißes Problem der Statistiker, daß jedes Land seine eigene Mixtur im Sozialtopf braut, zählt Bildung dazu? Medizinische Grundversorgung? Rente? usw.)

Daß mir Chavez nicht gefällt, hab ich schon mal durchblicken lassen, seine Intervention finde ich so bedenklich wie Du.

Traitor
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Mo 16. Mai 2011, 23:08 - Beitrag #20

Auf dem aktuellsten Stand bin ich in Sachen Kolumbien nicht. Aber ich möchte doch anmerken, dass ich im Gegensatz zu Ipsi den verschwommen interpolierten Medien-Gesamteindruck habe, dass die Paras in Deutschland als deutlich "böser" wahrgenommen werden als die FARC, und das auch bei vergleichbaren militanten Rechts-Links-Paaren in anderen Ländern ähnlich aussieht. Linke Guerillas haben doch immer noch einen gewissen Charme, Ché gilt immer noch weitgehend als Held und jeder Guerillero ist doch irgendwo ein bisschen Ché. Wenn sie mit Indios oder anderer Urbevölkerung sympthisieren, macht sie das nochmal sympathischer, denn für die armen Indianer ist ja eh jeder. Rechte Paras dagegen erinnern automatisch sehr an Faschisten (im klassischen Wortsinne) und sind damit deutlich weiter unten durch.
Es kann aber auch sein, dass ich zuviel Spiegel und Zeit lese und mit linken Studenten verkehre, statt Focus und Bild zu lesen und Managern oder Stammtischen zuzuhören, und daher auch hier nur mein übliches Zerrbild der Öffentlichkeit rezipiere.

Konkret in Kolumbien sind beide, plus die Regierung, aber natürlich nur unterschiedliche Bösartigkeitsabstufungen, da scheint hier ja auch weitgehende Einigkeit zu herrschen, insbesondere durch die Drogenverstrickungen beider Seiten.


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