Günter Grass - Ein Denkmal demontiert sich selbst

Das aktuelle politische Geschehen in Deutschland und der ganzen Welt sowie wichtige Ereignisse der Weltgeschichte.
Feuerkopf
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Mo 14. Aug 2006, 10:57 - Beitrag #1

Günter Grass - Ein Denkmal demontiert sich selbst

Was sagt man denn dazu? Ganz ohne Not rückt Günter Grass seine eigene Biografie zurecht und gibt zu, als 17jähriger in der Waffen-SS gewesen zu sein.

Jetzt wallt es heftig in den Feuilletons und es bietet sich alles, von Verständnis bis zu süffisanten Nachrufen.

Traitor
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Mo 14. Aug 2006, 11:55 - Beitrag #2

Hey, den Thread wollte ich eröffnen! Und passt er nicht besser unter Literatur, Herr Grass ist doch weiterhin primär Literat als eine Person der Geschichte.

Für den Sachverhalt an sich ist Grass meines Erachtens nicht zu verurteilen, schließlich war ja anscheinend schon lange bekannt, dass er bei der Wehrmacht war, und da hat sich niemand dran gestört. Die SS, solange er dort, wie er sagt, ebenfalls nur untätiger Mitläufer war, ist dann keine neue Qualitätsstufe.
Fragwürdig ist aber das lange Zurückhalten dieser Information bei gleichzeitigem starkem gesellschaftlichem Engagement von links her. Er hätte es längst mitteilen müssen. Allerdings verdient es auch einen gewissen Respekt, dass er das jetzt doch noch getan hat und seinen Fehler des Verschweigens somit einräumt, nicht jeder hat den Mut, mit 78 (so alt wirkt er eigentlich auch noch nicht) an seinem eigenen Denkmal zu rütteln.

Windsbraut
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Mo 14. Aug 2006, 12:10 - Beitrag #3

Günter Grass war bei Kriegsende 18! Man sollte wirklich den Blick für die Relationen nicht verlieren. :rolleyes:

Mein Vater ist zwei Jahre jünger als er und musste in Frankreich Schanzen. Ist er daher auch ein Kriegsverbrecher?

Ich halte die Aufregung über Grass' "Geständnis" für unendlich dumm.

Maurice
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Mo 14. Aug 2006, 12:23 - Beitrag #4

Grass war bei der SS - Na und?

Also ich habe kein Problem damit, denn ich finde, dass es für die Bewertung eines Buches keine Rolle spielen sollte, was der Autor macht oder getan hat. "Katz und Maus" wird plötzlich keine bessere oder schlechtere Geschichte, nur weil Grass in der SS war. Die Diskussion verstehe ich als einen mal wieder aufflammenden NS-Verfolgungswahn. Klar die Ereignisse dieser Zeit müssen in Erinnerung bleiben, aber jedes Mal so einen Wirbel zu machen, halte ich für maßlos übertrieben.

Fragwürdig ist aber das lange Zurückhalten dieser Information bei gleichzeitigem starkem gesellschaftlichem Engagement von links her.

Wieso? Mir leuchtet das ein. Schau mal, was für ein Trara darum gemacht wird, hätte er dieses Detail früher erwähnt, hätte das seine Karriere bestimmt negativ beeinflusst. Aber auch selbst wenn es nicht aus wirtchaftlichen Gründen war, kann ich es nachvollziehen, wenn er einfach aus Angst um seinen sozialen Status geschwiegen hatte. Möglicherweise hätte man ihm sein Engagement nicht mehr geglaubt, nur weil er bei der SS war, obwohl er es ernst meinte.

Er hätte es längst mitteilen müssen.

Diesen Satz verstehe ich nicht. Meinst du er war irgendwie "verpflichtet" diesen Teil seiner Vergangenheit schon früher zu äußern? Wenn ja, warum und vor allem wem gegenüber?

Lykurg
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Mo 14. Aug 2006, 12:44 - Beitrag #5

@Windsbraut: Die Waffen-SS war nun wirklich nicht gerade ein Kulturverein. Sie verstand sich als Sammelpunkt der NS-Elite (man meldete sich freiwillig, woraufhin man einem intensiven Eignungsverfahren unterzogen wurde) - und verantwortete die schrecklichsten Greuel. Auch wenn er sagt, keinen Schuß abgefeuert zu haben, ist die Mitgliedschaft darin kein Pappenstiel. Zwei Jahre früher hatte er sich übrigens (erfolglos) zu den U-Booten gemeldet - das wäre aber eine ganz andere Sache gewesen.

@Maurice: Tatsächlich hätte er vermutlich, wäre es in den 90ern zufällig herausgekommen, den Nobelpreis nicht erhalten. Ein offenes Bekenntnis dazu in den 50ern z.B. hätte aber wohl weniger ausgemacht.
Und zur 'Verpflichtung': Gerade Günter Grass hat sich in besonderer Weise als moralisches Gewissen profiliert, vielfach in politischen Fragen Stellung bezogen, gerade auch zum Umgang anderer mit ihrer NS-Vergangenheit sich geäußert. Daß er dabei nicht mit offenen Karten spielte, ist so verständlich wie unfair. Manche der Kritisierten werden nicht mehr davon erfahren. Sie hätten mE ein Anrecht darauf gehabt.

Ich las einen Kommentar, der darauf hinwies, wie totalitär auch heute noch (bei dem Interview, in dem er sich zu seiner Vergangneheit äußerte) etwa seine Verurteilung Adenauers ist. Man kann das als Überinterpretation sehen, aber ich meine, daß sich die Extreme hier nicht viel geben. Man hat genügend Bäumchen-wechsel-dichs dieser Art gesehen (z.B. Horst Mahler).

Seine Literatur, insbesondere sein genialer Erstling, verliert dadurch kein Stück an Wert. Bedenklich finde ich aber, daß dieser Pressewirbel natürlich eine hervorragende Reklame für sein jetzt erscheinendes Buch über seine Erlebnisse darstellt. Das dürfte dabei in seiner Absicht liegen.

Ich würde ebenfalls "Literatur" bevorzugen, auch wenn dahinter natürlich auch eine gesellschaftliche Relevanz steht.

Feuerkopf
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Mo 14. Aug 2006, 13:04 - Beitrag #6

Ich habe überlegt, in welche Kategorie dieser Thread gehört. Ich denke, es geht hier nicht um Grass, den Schriftsteller, sondern um Grass, den politischen "Einmischer". Außerdem ist Vergangenheit und der Umgang damit das Thema, also durchaus Geschichte und Politik, zumal gerade seine politischen Gegner jetzt vollmundige Reden schwingen.
Deshalb plädiere ich für den Verbleib im Politikbereich.

Windsbraut
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Mo 14. Aug 2006, 14:28 - Beitrag #7

Zitat von Lykurg:@Windsbraut: Die Waffen-SS war nun wirklich nicht gerade ein Kulturverein. Sie verstand sich als Sammelpunkt der NS-Elite (man meldete sich freiwillig, woraufhin man einem intensiven Eignungsverfahren unterzogen wurde) - und verantwortete die schrecklichsten Greuel. Auch wenn er sagt, keinen Schuß abgefeuert zu haben, ist die Mitgliedschaft darin kein Pappenstiel. Zwei Jahre früher hatte er sich übrigens (erfolglos) zu den U-Booten gemeldet - das wäre aber eine ganz andere Sache gewesen.


Grass war fünf, als Hitler an die Macht kam. Sein ganzes junges Leben war also sicher von der Nazi-Propaganda geprägt. Ist es nicht natürlich, dass ein Junge, bzw. junger Mann, zur "Elite" gehören möchte? Und wieviel wussten er und alle anderen während des Krieges von den Untaten der SS?

Wenn mein Vater erzählt, wie er den Krieg erlebt hat, so war dies - neben allem Schrecklichen, was er erleben musste - auch sehr abenteuerlich. Sein Vater war Soldat, sein Bruder ebenfalls - er kannte es gar nicht anders.

Man sollte immer auch überlegen, wie es wäre, wenn man selbst bis zu seinem 18 Lebensjahr immer nur eine "Wahrheit" kennengelernt hätte...

Ich habe Geschichte studiert, aber auch viele Zeitzeugen persönlich kennengelernt (Eltern, Großeltern, Verwandte in Polen...) und dadurch unterschiedlichste Sichtweisen erfahren. Ich will nichts beschönigen oder entschuldigen, ich denke nur, dass ein Verurteilen immer sehr leicht ist, wenn man ein historisches Ereignis aus dem heutigen Kontext heraus bewertet.

Traitor
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Mo 14. Aug 2006, 14:57 - Beitrag #8

@Maurice:
Also ich habe kein Problem damit, denn ich finde, dass es für die Bewertung eines Buches keine Rolle spielen sollte, was der Autor macht oder getan hat.
Wie Lykurg es schon ausführte: Grass ist nicht nur ein Autor, sondern auch eine Person, die stark an der öffentlichen Meinungsbildung mitwirkt und gerne eine Rolle als Mahner und Kritiker einnimmt. Für die Bewertung des Autors sind Biographiedetails irrelevant, dem stimme ich zu, aber nicht für die Bewertung seines gesellschaftlich-politischen Einflusses.
Wieso? Mir leuchtet das ein. Schau mal, was für ein Trara darum gemacht wird, hätte er dieses Detail früher erwähnt, hätte das seine Karriere bestimmt negativ beeinflusst.
Ebenfalls dito zu Lykurg (hey, jeniger, was fällt dir ein, mir immer meine Argumente wegzunehmen? ;)) Auf dem Höhepunkt seiner Karriere wäre es vielleicht schlecht gewesen, aber wenn er von vornherein klar gesagt hätte "ich war bei der SS, habe aber nichts gemacht und war halt verblendet", denke ich nicht, dass das für seine Karriere irgendeinen Unterschied zu "ich war bei der Wehrmacht, habe aber nichts gemacht und war halt verblendet" gemacht hätte.
Diesen Satz verstehe ich nicht. Meinst du er war irgendwie "verpflichtet" diesen Teil seiner Vergangenheit schon früher zu äußern? Wenn ja, warum und vor allem wem gegenüber?
Natürlich gibt es keine höhere Instanz, die ihn wirklich dazu verpflichtet haben könnte. Aber eben in Anbetracht seiner gesellschaftlichen Rolle (s.o.) wäre es gut gewesen, die Tatsachen auf den Tisch zu legen. "Müssen" nicht im Sinne eines physischen/rechtlichen Zwanges, sondern im Sinne, dass es besser für seine Rolle und deren Wahrnehmung gewesen wäre. Er hätte sich eben den Streit jetzt erspart.
Wobei natürlich das Verkaufszahlensteigerungsargument nicht vergessen werden darf, aber er wird wohl kaum vor 60 Jahren darauf spekuliert haben, heute mehr Biographien zu verkaufen, als er sich ursprünglich entschied, das Geheimnis zurückzuhalten. Lediglich wird es verhindert haben, dass er es mit ins Grab nimmt.

@Feuerkopf: Da ich "gegen" Maurice selbst mit seiner politischen Rolle argumentiere, ziehe ich den Verschiebungsantrag zurück. ;)

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Mo 14. Aug 2006, 15:01 - Beitrag #9

@Traitor: Jetzt merkst du mal, wie es mir immer geht (frei nach aleanjres netter Nachbarin^^)

@Windsbraut:
Die Frage, was "man" wußte, halte ich für eines der schwierigsten und spannendsten Probleme der deutschen Geschichte. Ich bin ganz deiner Meinung dahingehend, daß es schwer gewesen sein muß, sich dem Sog der "Bewegung" zu entziehen, insbesondere wenn man, wie er, aus kleinbürgerlichen Verhältnissen stammend durch diese Mitgliedschaft eine einzigartige Möglichkeit zum sozialen Aufstieg hatte. An der Möglichkeit, am "großen Abenteuer" Krieg teilzunehmen, dürften in den letzten Kriegsjahren wenige Wege vorbeigeführt haben. Warum mußte es die Waffen-SS sein? Wie groß der Unterschied in der Tragweite der Entscheidung war, zeigt sich nicht zuletzt darin, daß er sechzig Jahre lang behauptete, ein Flakhelfer gewesen zu sein. Schon möglich, daß das, was er getan hat, wirklich nicht viel mehr war. Aber er hätte dann auch eher darüber reden können. Schon immer wurde Einsicht als Vorbedingung für das Verzeihen gewertet.

[Mein Großvater war Offizier der Wehrmacht - und er hat kaum je darüber gesprochen. Aber er hat zu Anfang der 80er eine ausgedehnte Reise in die Sowjetunion unternommen, um mit den einfachen, guten Menschen, die er erinnerte, seinen persönlichen Frieden zu machen.]

Windsbraut
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Mo 14. Aug 2006, 15:26 - Beitrag #10

Man könnte aber doch Herrn Grass zugute halten, dass er es immerhin doch noch erzählt hat. Spät - aber eben doch. Es ist nicht erst posthum herausgekommen.

[Mein Onkel war sechs Jahre in russischer Kriegsgefangenschaft, von seinem 18. bis zu seinem 24. Lebensjahr. Über die Zeit hat er nie wirklich gesprochen, wohl aber darüber, dass die Russen, mit denen er zu tun hatte, ihn zumeist gut behandelt und sogar das wenige, das sie hatten, geteilt hätten.]

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Mo 14. Aug 2006, 16:31 - Beitrag #11

Sicher, ja - das sehe ich auch so, der Schritt wird ihn wohl unheimliche Überwindung gekostet haben. Die Aufregung dürfte sich bald wieder legen - spätestens ein, zwei Monate nach Erscheinen von "Beim Häuten der Zwiebel."

[Ein Großonkel von mir hat seine ziemlich ambivalenten Erfahrungen in der amerikanischen und britischen Kriegsgefangenschaft in einem (sehr lesenswerten, aber mW unpublizierten) Buch verarbeitet.]

Maurice
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Mo 14. Aug 2006, 19:20 - Beitrag #12

Sorry Traitor hast Recht, dass es etwas zu verkürzt war nur den Autor Grass zu sehen. Wobei mich "der andere Grass" auch noch weniger interessiert als "der Autor Grass".
Eine Frage hätte ich: Wenn man den Literaturnobelpreis bekommt, weil man ein besonders guter Autor ist, warum spielt es dann eine Rolle, wie die eigene politische Vergangenheit aussieht? :rolleyes:

Lykurg
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Mo 14. Aug 2006, 19:59 - Beitrag #13

Den Augenroller übernehme ich aus vollem Herzen. :D

Allerdings ist der Nobelpreis eine Auszeichnung von solchem Rang, daß es eine Berechtigung hätte, ihn ausschließlich Persönlichkeiten, an deren Integrität kein Zweifel bestehen kann, zu verleihen. Dagegen ist gelegentlich verstoßen worden, deswegen braucht man die Standards aber nicht aufzugeben.

janw
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Di 15. Aug 2006, 03:10 - Beitrag #14

Ich meine mich zu erinnern, daß Hannah Arendt es war, die für die Lüge im Raume des Politischen den Begriff der "Regie der Wahrheit" prägte.
Ob sie es nun war oder ein anderer, ich verstehe den Satz so, daß auf dünnem Eise geht, der von politischen Menschen Wahrheit verlangt, Wahrheit im Sinne dessen, was die objektivistischen Wissenschaften uns als existent suggerieren.

Günter Grass ist zweifellos ein Vertreter dieser Gattung, ein "zoon politikon" in dem, wie er Gesellschaftliches, Angelegenheiten der Gemeinschaft zum Thema seiner Literatur macht und gemacht hat.
Von Anbeginn war Einmischung für ihn Programm, das Einnehmen von Position und das Durchhalten dieser auch in Zeiten des Gegenwindes, einer durchaus ehrenhaften Position dazu, für Freiheit und Ablehnung von Totalitarismen, auch gegen deren Fortdauer in der Demokratie durch nahtlose Übernahme einschlägig bekannten Personals.

Ein Denkmal wurde so geschaffen, in den Augen der Betrachter, die jenes zu erblicken glaubten, was doch praktisch ausgeschlossen ist in einem Jahrhundert zweier Weltkriege, vierer Staaten und zweier Diktaturen auf deutschem Boden, einen Streiter ohne Tadel.

Dieses Denkmal ist gestürzt, so will es manchem scheinen, und manchem andern schwankts erheblich, gar manchem, weil es weichen soll.

Gemach, gemach, so möchte man ihnen zurufen, denn gar so einfach ist die causa nicht.
Was ist passiert?
Ein Jugendlicher, erfüllt vom jugendlichen Tatendrang, geprägt von der Ideologie, die sein bisheriges Werden als Teil der Gesellschaft bestimmte, geplagt von der Enge seines bürgerlichen Elternhauses, bewirbt sich in der Mitte des Krieges bei der U-Boot-Flotte. Einer von vielen seines Alters, zum ersten Mal in der Situation, selbst etwas in ihrem Leben zu bestimmen, ausbrechen zu wollen aus ihrer Enge, der gewohnten.
Er wird nicht genommen, erhält aber etwas später einen Einberufungsbefehl zu einer Truppe, die Not und Schrecken verbreitete - wie wir heute wissen. Er wusste es wohl nicht und erfuhr erst nach und nach, während des Zusammenbruchs der Diktatur, wo er gelandet war.
Der erlebte Schrecken und was über die Diktatur bekannt wurde nach ihrem Ende, das machte ihn zu jenem Streiter, als der Günter Grass bekannt geworden ist. Das Wissen um die eigene Teilnahme an dem Grauen, so ist dem Interview zu entnehmen, belastete ihn mit einem Gefühl der Schuld.

Zitat von Günter Grass in der FAZ:Währenddessen? Nein. Später hat mich dieses Schuldgefühl als Schande belastet. Es war für mich immer mit der Frage verbunden: Hättest du zu dem Zeitpunkt erkennen können, was da mit dir vor sich geht? ...


Belastete ihn über nunmehr 60 Jahre, bis er nun das Schweigen brach über dies, das gewiß Teil seines Lebens ist.
Und doch Teil einer Zeit des Lebens, die eher zum Unfertigen noch zu rechnen ist.

Den Fehltritt dennoch als Schuld zu empfinden ab dem Moment der Offenbarung des wahren Wesens der Dikatur, und diese Schuld vor sich und vor der Welt zu hüten, das ist zum ersten konsistent im Zusammenhang mit Grass´Wirken in der Zeit, zum zweiten psychologisch nicht unverständlich - wie der Welt erklären, worüber man sich selbst eine Erklärung schuldig bleiben muss?
Gewiss, 60 Jahre sind viel Zeit, doch liegt es im Ermessen anderer, zu bestimmen, wieviel Zeit erlaubt ist?

Gewiss, die Zeit scheint gut gewählt, die Biographie steht vor der Tür, die, wie das Interview verheißt, aber nicht ohne dieses Stückchen Leben zu denken ist, es ist wohl, was dem Buche Leben einhaucht, so verstehe ich Grass unterschwellig.

Verständlich durchaus, daß der Biograph ob dieser Nachricht, uneingeweiht, wenig amüsiert ist. Man mag dies geißeln und zumindest diesem gegenüber Offenheit einfordern.
Doch, wiederum gemach. Ist nicht stets der Biographent Herr der Geschichte wie seines Lebens, entscheidet nicht er allein, was erscheint und was der Welt verborgen bleibt, auch, wie es dann erscheint?

Nun zu der Wirkung, die Grass entfaltete in jenen 60 Jahren, leidet sie darunter, was nun geschicht?
Es lohnt sich, genau zu sehen, was und wen Grass da kritisierte in den 50ern und später - einen Kanzler, Adenauer, der im vollen Leben die Diktatur durchlebte, als Opfer? [weiß ich leider gerade wirklich nicht] Der hernach den niedren Schergen zu neuer guter Position verhalf, es zumindest nicht unterband.
Dessen Programm offen "Keine Experimente!" war, was Kontinuität in vielerlei Personen und manchem Geiste bedeutete.
Die Zahl der NS-Richter in den Gerichten der damaligen Zeit ist Legion, wie auch der Beamten in Verwaltung, auch in sensiblen Bereichen. Die Verschleierung der 12 Jahre als "die dunklen Jahre", wo finstere Gesellen ungesehen die Macht im Staate an sich rissen, war Programm in jener Zeit, und Grass ist einer, der den Schleier riss von jenem Trugbild.

Dies getan zu haben und manches mehr, auch wenn mit 17 fehlgetreten und durch das Schicksal von Schlimmrem noch verschont, das ehrt ihn weiterhin in meinen Augen.
Gewiss, man mag sich fragen, ob sein Protest beim Staatsbesuche von Reagan bei Kohl in Bitburg in diesem Lichte angemessen war, doch galt gewiss der Besuch dort nicht den 17jährigen Irregeleiteten der Rückzugsgefechte. Die Mehrzahl derer, die dort liegen, sind Täter, die aktiv unterstützten und ausführten, wofür ihrer Truppe gräulich Ruhm vorausging. Ausgerechnet sie beim Staatsbesuch zu ehren, ist instinktlos, nach wie vor.

So diente denn letztlich am Denkmale zu kratzen dazu, jene zu rehabilitieren, die wahrhaft unrühmlichen Angedenkens sind, sein sollten zumindest meinethalben.
Vielleicht ergibt jedoch die Frage sich, ob faul nichts ist in einem Staate, da Menschen denkmalsgleich erhoben werden.

Feuerkopf
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Di 15. Aug 2006, 10:29 - Beitrag #15

Ich ernenne Jan hiermit zum offiziellen Matrix-Feuilletonisten. ;)

Vor vielen Jahren hatte ich (wenn ich nicht irre, war die Windsbraut auch dabei) Gelegenheit, Günter Grass in kleinem Rahmen als Vorleser anlässlich der Buchpremiere von "Das Treffen in Telgte" und als Grafiker von ganz hervorragenden Lithografien zu erleben.
Ein guter Interpret seiner Texte, sehr selbstbewusst, nicht unsympathisch. Aber schon ziemlich überlebensgroß. Die "Blechtrommel" war im Grunde sein Oberkracher, ein richtungsweisendes Buch, dessen barocke Wucht er - meiner Meinung nach - nie wiederholen konnte. Seitdem stand (und steht) er halt auf dem Podest und seine Zugehörigkeit zur Gruppe 47 tat noch ein Übriges.
Möglicherweise leidet da im Laufe der Zeit die Selbstwahrnehmung, wenn man national und international nur mit den echten und vermeintlichen Entscheidungsträgern zu tun hat.
Als dann die Verfilmung auch noch den Auslandsoscar gewann, stieg er in der öffentlichen Wahrnehmung endgültig in den Schriftstellerolymp auf. (Das Buch zum Film kennen wahrscheinlich gar nicht so viele...;) )

Ist es vielleicht ein bisschen einsam geworden da oben? Geachtet, aber nicht geliebt zu sein, reicht vielleicht nicht.

Ohne Grund hat er jedenfalls nicht über seine SS-Zeit gesprochen, denn sie war, wenn wir sie mal nüchtern betrachten, eher minimal und unspektakulär. Mit 17 ist man innerhalb von 2 - 4 Monaten nicht besonders wichtig in der Hierarchie. Das Spannendste ist noch, dass er wohl mit dem heutigen Papst während der Gefangenschaft geknobelt hat.

Broder vom Spiegel hat in seinem Kommentar etwas geschrieben, was ich wirklich nachdenkenswert finde:

Produkt der Exegeten

Grass ist mindestens genauso das Produkt seiner Exegeten, Propheten und Apologeten wie seiner eigenen Umtriebigkeit. Als Dichter aus Mangel an Konkurrenz auch dann gefeiert, wenn er schwache Werke vorlegte, als politischer Denker maßlos überschätzt, der kleine Mann im Ohr von Gerhard Schröder, der Herr der Binse.

Dass er vor 60 Jahren der Versuchung nicht widerstehen konnte, der Waffen-SS beizutreten, erklärt er heute damit, dass ihn das "Antibürgerliche" anzog. Die Waffen-SS war die Prätorianer-Garde der Nazis, eine Elite-Einheit. Grass hatte schon früh ein Faible für das Elitäre. Daran hat sich bis heute nichts geändert.

Ärgerlich an der Affäre ist nur eines: Dass auf dem Umweg über Grass die Waffen-SS rehabilitiert wird. Wenn Grass dabei war und sich die Hände nicht schmutzig gemacht hat, können die Jungs so schlimm nicht gewesen sein, eine kämpfende Truppe eben, mit einem etwas abgehobenen Bewusstsein, der Rohstoff aus dem Romane geformt werden. Das Denkmal ist gestürzt. Der Sockel bleibt.
(Hervorhebung von mir)

Quelle: Spiegel Online

janw
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Di 15. Aug 2006, 18:37 - Beitrag #16

Zitat von Feuerkopf:Ohne Grund hat er jedenfalls nicht über seine SS-Zeit gesprochen, denn sie war, wenn wir sie mal nüchtern betrachten, eher minimal und unspektakulär.

Du meinst also, er hat mit Grund darüber gesprochen, eben aufgrund der von Dir genannten Selbstüberschätzung?

Gemessen an ihrem zeitlichen Umfang, ihrer zeitlichen Lage und dem Geschehen, in das Grass eingebunden war, kann man das Faktum seiner seiner Mitgliedschaft in diesem Truppenteil als Petitesse ansehen, eben einige Monate der Irrungen und Wirrungen im Leben eines Jugendlichen in einer Zeit des Durcheinanders.
Ich denke aber, es zählt da eher, was diese Zeit für ihn bedeutete - eben eine Phase, die ihn mit einem Schuldgefühl sich selber gegenüber zurück ließ - und eine Episode, die Menschen zu Ikonen stilisierende Menschen elektrisiert.
In diesem Sinne gewinnt die Sache an Bedeutung, als biographisches Detail und indem sie - gewiss ungewollt - den idealisierenden Tendenzen Vieler den Spiegel vorhält. "Wer nie gefehlt, der nie gelebt", so könnte man es provozierend ausdrücken.
Zudem, man stelle sich vor, was geschehen wäre, wäre ein Historiker bei Arbeiten über die Waffen-SS auf seinen Namen gestoßen...

Die Rehabilitierung der Waffen-SS, wie Broder sie beschreibt, sehe ich so nicht ganz: Es ist eigentlich bekannt, daß sie, vor allem in der Schlussphase, alle möglichen jungen Männer aufnahm, die erst dort ideologisch gedrillt wurden. Das macht die Truppe für mich keinen Deut besser, denn die ihr zugrunde liegende Ideologie und die von den Verantwortlichen getätigten Untaten reichen für mich aus, sie zu dem zu machen, als was sie zu Recht gesehen wird.
Eher sehe ich es so, daß man die Menschen, die dort waren, differenzierter beurteilen muss. Die Frage des Alters, des Wann und des Warum stellen sich da an jeden Einzelnen, ferner das Was derjenige dort getan hat. Wesentlich, gerade bei diesen jungen "Schlusseinsteigern", wie sie in ihrem weiteren Leben mit dem Erlebten umgegangen sind. Konsequente Umkehr oder halsstarriges Dazustehen und einen Landserroman darüber schreiben, wie Schönhuber es getan hat, das sind die Pole, zwischen denen es zu bewerten gilt.

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Mi 16. Aug 2006, 01:02 - Beitrag #17

Diese Differenzierung wurde durchaus früh vorgenommen. Im Rahmen der Nürnberger Prozesse wurde die SS als verbrecherische Organisation verurteilt, alle ihre Mitglieder galten als Verbrecher - ausgenommen diejenigen, die unter bei Kriegsende unter 20 waren und nachweislich keinen Anteil an den Greueltaten der SS hatten. Insofern wäre Grass auch damals wohl nicht belangt worden

Das "Denkmal" Grass habe ich nie gesehen - nur einen großartigen Literaten, der mir persönlich stets äußerst zuwider war, was ich aber strikt voneinander trenne. Ich neige nicht dazu, Lebenden Denkmäler zu errichten.

janw, so hübsch du das auch ausgedrückt hast, an einigen ganz wesentlichen Punkten vorübergegangen - etwa an der schmerzlichen Einsicht, daß sich vielleicht eben doch gar nicht so viel geändert hat; daß unter der Kruste des linksintellektuellen selbsternannten Gewissens der Nation eben immer noch der fanatische Mitläufer von einst steckt - ob nun "einst" in den 40ern oder in den 70ern zu suchen ist.
"Wer nie gefehlt, der nie gelebt", so könnte man es provozierend ausdrücken.
Na klasse - man muß schon mal Steine auf Polizisten geworfen haben, um sich als Minister zu eignen, und so eine kleine SS-Mitgliedschaft - egal, war ja nur kurz, und damals wußte eh niemand mehr, was er tat. Schon klar. Wann gründen eigentlich die RAF-Überlebenden eine neue Partei? Die haben doch ebenfalls genügend stark gebrochene Biographien für so etwas... Ausreden wie diese machen mich einfach wütend. Verzeihen ist eine gesellschaftliche Aufgabe, auf die es keinen Rechtsanspruch geben kann.

Und zu Konrad Adenauer, Grass' "braunem" Lieblingsfeind:
Der wurde noch im Frühjahr 1933 seines Amtes als Bürgermeister von Köln enthoben, weil er sich geweigert hatte, einer NS-Größe die Hand zu schütteln. Er hielt sich mehrere Jahre an wechselnden Wohnsitzen auf, wurde enteignet (im Rahmen des Röhm-Putsches auch kurz verhaftet), kam nach dem Attentat des 20. Juli in ein KZ, es gelang ihm aber nach einem Monat die Flucht. (Später wurde er noch einmal ergriffen, letztlich aber freigelassen.)
Jedenfalls ist seine Rolle mit der seines "roten" Kritikers nicht im Geringsten zu vergleichen.

janw
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Mi 16. Aug 2006, 02:23 - Beitrag #18

Ein "selbsternanntes Gewissen der Nation", ist er das, oder ist dies nicht nur wieder eine Zuschreibung, gemünzt auf jemanden, der einfach nur den Finger in eine Wunde gelegt hat, weil er da eben eine Wunde sah?
Man muss Grass persönlich nicht mögen.^^ Feuerkopfs Schilderung trifft in etwa das, was ich auch empfand bei den Anlässen, wo ich ihn mal im Fernsehen erlebte. Dennoch sehe ich bei ihm so etwas wie ernsthaftes Bemühen um die Sache primär um dieser Sache willen, nicht primär aus eigennützigen Motiven heraus.
Ob er ein gewissermaßen gewohnheitsmäßiger Mitläufer ist, wage ich nicht zu beurteilen, die Tatsache, daß er sich zu einer Zeit um eine Aufarbeitung der NS-Diktatur bemühte, als dies alles andere als en vogue war, spricht für mich eher dagegen. Was ihn letztlich dazu trieb, ist IMHO wieder schwer zu sagen - war es objektives Erkennen eines Mangels, war er getrieben von seinem eigenen "Schuld-Komplex" wegen seines Nicht-Erkennens, bei welcher Truppe er da gelandet war? Wahrscheinlich von allem etwas, wie menschliches Handeln so gut wie immer Ausfluss verschiedener Gegebenheiten ist. Letztlich, was die 70er Jahre betrifft, gab es dort eine breite gesellschaftliche Strömung, in der jeder, der mit ihren grundlegenden Idealen und Zielen sympathisierte, willkommen war und sich ihr anschloss. Im Wort des "Mitläufers" sehe ich hier die Tendenz, die Bewegung und ihre Ideale per se zu diskreditieren, wie es unter zahlreichen Konservativen noch immer üblich ist. Hier wird geflissentlich vernachlässigt, daß es eben eine Bewegung Bewusster war, deren Zielmodulationen und ideologische Detaillierung aus sich selbst entstanden, nicht von einigen "Führern" vorgegeben wurden. Dieser Punkt offenbart immer wieder ein fundamentales Mißverständnis vom Funktionieren linker Bewegung bei Konservativen, die sich Gesellschaft immer nur von oben her denken können - aber das ist eine andere Geschichte.

Zitat von janw:"Wer nie gefehlt, der nie gelebt", so könnte man es provozierend ausdrücken.

ist selbstverständlich so nicht meine Meinung, wie schon der Konjunktiv und das "provozierend" ausdrücken.
Ich wollte damit lediglich ausdrücken, daß Biographien in den seltensten Fällen geradlinig verlaufen und ein ereignisreiches und gesellschaftlich eingebundenes Leben wohl praktisch immer eines ist, in dem Positionsbestimmungen und Kurskorrekturen gehörigen Raum einnehmen. "Es irrt der Mensch, so lang er strebt..."
Der beinahe "Kult", der hierzulande um vermeintlich "reine" Lebensläufe gemacht wird, gewiss wohlmeinend, ist da IMHO selbst ein Stück weit unmenschlich in meinen Augen, getrieben von einem Idealismus, der die griechischen Tempel in makellosem Weiß erstrahlen lassen musste, auch wenn farbige Reste beredtes Zeugnis einer anderen Wirklichkeit ablegten. ]pars pro toto[/I].

Was Adenauer betrifft: Danke für die Aufklärung :) Daß er kein echter Nazi war, war mir klar, doch genaues wusst´ich nicht in dem Moment.
Gewiss, Grass´Verdikt in diesem Punkt ist überzogen, wenn ich auch die Restauration und die personalen Kontinuitäten unter seiner Ägide - gegen die er sicher nicht immer etwas tun konnte - sehr kritisch und belastend sehe.

Feuerkopf
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Mi 16. Aug 2006, 09:17 - Beitrag #19

Völlig verschwiegen hat Grass seine SS-Zugehörigkeit übrigens nicht, wie man jetzt verschiedenen Ortes nachlesen kann.
In seinen Unterlagen im Kriegsgefangenenlager war es vermerkt, es gibt einige Freunde und Kollegen, die es wussten.

Ich muss leider sagen, nachdem ich gestern einen Ausschnitt aus dem Interview mit Uli Wickert gesehen habe, dass wohl am Donnerstag gesendet wird, habe ich das Gefühl, dieses Biografie-Detail wird tatsächlich von Grass als "Teaser" für sein neues Buch, seine Autobiografie missbraucht.
Ich hoffe, ich irre mich. :rolleyes:

Windsbraut
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Mi 16. Aug 2006, 09:40 - Beitrag #20

Ach, Feuerkopf hat immer noch nicht den Glauben an das Gute im Menschen verloren... ;)

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