Günter Grass - Ein Denkmal demontiert sich selbst

Das aktuelle politische Geschehen in Deutschland und der ganzen Welt sowie wichtige Ereignisse der Weltgeschichte.
Lykurg
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Mi 16. Aug 2006, 10:43 - Beitrag #21

Feuerkopf, du bist doch nur eifersüchtig, daß du für eure Präsentation kein solches verkaufsförderndes Detail auspacken kannst. :cool:

janw, ich bin (auch aufgrund eigener Erlebnisse^^) der Überzeugung, daß man auch in nichthierarchischen Bewegungen sehr gut ein Mitläufer im Wortsinn sein kann. Viel gehört nun einmal nicht dazu, bei Demonstrationen mitzulaufen, Plakate zu tragen, Parolen zu rufen - und wer das wie Grass zu seiner Rolle macht und ein bißchen besser mit Sprache umgehen kann als andere, macht sich dann vielleicht auch zu einem Wortführer - und ist doch nur ein Mitläufer. Du meinst, wer mit grundlegenden Idealen sympathisierte, gehörte damals dazu - das ist dann also ein Privileg der Linken? Perfekte Indifferenz - wenn man so über die NS-Vergangenheit geurteilt hätte, hätte man tatsächlich das Land entvölkern müssen, um davon frei zu werden.
Und in Anbetracht dieser Sicht wäre noch ein viel weitergehender "'Kult' um 'reine' Lebensläufe" zu erwarten.

Übrigens ist die zurechtrückende Aufgabe meiner diskreditierenden Darstellung als Gegengewicht zu einer auch heute noch sehr verbreiteten Glorifizierung einer gewissen Zeit^^ mE noch lange nicht beendet. Aus den totalitären Randbewegungen eines in einigen Grundzügen berechtigten gesellschaftlichen Korrektivs hat sich damals eine Terrororganisation gebildet, deren Protagonisten noch heute manche Wände schmücken - und die in den Augen vieler eher Opfer als Täter sind. Völlig gewissen- und skrupellos durchgeführte Mordanschläge werden noch heute zur Selbstreinigung einer Gesellschaft idealisiert. Aber das führt hier zu weit.^^
die Tatsache, daß er sich zu einer Zeit um eine Aufarbeitung der NS-Diktatur bemühte, als dies alles andere als en vogue war, spricht für mich eher dagegen.
Wenn man "Die Blechtrommel" einmal kritisch darauf liest, stellt man fest, daß es in diesem Buch praktisch keine Täter gibt. Es ist aus der Sicht eines Unparteiischen (mit Tendenzen zum Mitlaufen in Bewegung und Gegenbewegung) geschrieben, der sich weigert, als Erwachsener selbstbestimmt zu handeln, obwohl seine Einsicht es ihm möglich machen müßte. Für die 'Verarbeitung' Ende der 50er und in den 60ern war das zweifellos eine sehr bequeme Sichtweise. Der NS-Terror war literarisch schon wesentlich eher thematisiert worden (etwa bei Klaus Mann über 20 Jahre früher), aber Oskar Matzerath wußte nichts davon - wie sollte er? Er war ja ein unschuldiges Kind...

janw
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Do 17. Aug 2006, 00:57 - Beitrag #22

Zitat von Lykurg:janw, ich bin (auch aufgrund eigener Erlebnisse^^) der Überzeugung, daß man auch in nichthierarchischen Bewegungen sehr gut ein Mitläufer im Wortsinn sein kann. Viel gehört nun einmal nicht dazu, bei Demonstrationen mitzulaufen, Plakate zu tragen, Parolen zu rufen - und wer das wie Grass zu seiner Rolle macht und ein bißchen besser mit Sprache umgehen kann als andere, macht sich dann vielleicht auch zu einem Wortführer - und ist doch nur ein Mitläufer. Du meinst, wer mit grundlegenden Idealen sympathisierte, gehörte damals dazu - das ist dann also ein Privileg der Linken? Perfekte Indifferenz - wenn man so über die NS-Vergangenheit geurteilt hätte, hätte man tatsächlich das Land entvölkern müssen, um davon frei zu werden.
Und in Anbetracht dieser Sicht wäre noch ein viel weitergehender "'Kult' um 'reine' Lebensläufe" zu erwarten.

Gut, wenn Du Mitwirkung auf Plakate schleppen reduzierst, ist das natürlich möglich, wenn auch in den 70ern wohl nicht so üblich gewesen. Es ging eben schon mehr um den grundlegenden Diskurs als um einzelne Events - zumindest so weit ich es aus meinem Blickwinkel beurteilen kann. Man darf dabei auch die technische Seite nicht vernachlässigen - damals stand noch nicht an jeder Ecke ein Kopierer herum...

Die Indifferenz sehe ich so nicht, immerhin war das sich der linken Bewegung anschließen freiwillig und gesellschaftlich eher "gegen den Strom", während in der NS-Diktatur doch wohl erheblicher Druck ausgeübt wurde auf jene, die sich von Partei und dergleichen fernhielten.
Die Qualität der zugrundeliegenden Ideale ist denke ich offensichtlich nicht gleich zu setzen, wenn man die linken Bewegungen von den totalitären Strukturen der DDR und von den Entgleisungen in Form der RAF trennt.

Übrigens ist die zurechtrückende Aufgabe meiner diskreditierenden Darstellung als Gegengewicht zu einer auch heute noch sehr verbreiteten Glorifizierung einer gewissen Zeit^^ mE noch lange nicht beendet. Aus den totalitären Randbewegungen eines in einigen Grundzügen berechtigten gesellschaftlichen Korrektivs hat sich damals eine Terrororganisation gebildet, deren Protagonisten noch heute manche Wände schmücken - und die in den Augen vieler eher Opfer als Täter sind. Völlig gewissen- und skrupellos durchgeführte Mordanschläge werden noch heute zur Selbstreinigung einer Gesellschaft idealisiert. Aber das führt hier zu weit.^^

Nun, die RAF war, wie Du schon sagst, eine Randbewegung innerhalb des linken Stromes. Der es gelang, - wie ist mW noch nicht ganz geklärt - die linke Bewegung ihren eigentlich völlig entgegengesetzten Zielen unterzuordnen.
Sie leistete damit der kollektiven Brandmarkung der Linken als Staats- und Gesellschaftsfeinde weiteren Vorschub - man lese nur mal die Äußerungen einiger konservativer Politiker aus der Zeit und Äußerungen besonders in der Springer-Presse, ob beabsichtigt oder nur in kauf genommen und warum nicht als Problem erkannt, sind gute Fragen.
Die Linke täte wahrlich gut daran, diese Vereinnahmung kritisch aufzuarbeiten. Daß mannigfach die Ex-Terroristen gewürdigt werden, ist leider so :(

Entnehme ich Deiner Äußerung über die Blechtrommel, daß Du Oskar Mazaerath für ein alter ego von Grass hälst?

Lykurg
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Do 17. Aug 2006, 10:06 - Beitrag #23

Die Indifferenz sehe ich so nicht, immerhin war das sich der linken Bewegung anschließen freiwillig und gesellschaftlich eher "gegen den Strom", während in der NS-Diktatur doch wohl erheblicher Druck ausgeübt wurde auf jene, die sich von Partei und dergleichen fernhielten.
Gegen das Establishment, ja, aber auch innerhalb der jüngeren Generation? Mir als Nachgeborenem fehlt hier natürlich das Wissen aus dem eigenen Erlebten. An heutigen Universitäten jedenfalls wird unterschwellig und offen massiver Druck seitens der Kommilitonen ausgeübt, sich politisch zu engagieren. Ich kann mir kaum vorstellen, daß es damals so anders gewesen sein dürfte - ich würde eher annehmen, daß dieser Anpassungsdruck, als das kritische Bewußtsein bereits in Äußerlichkeiten wie abweichender Kleidung und Lebensart deutlich sichtbar wurde, eher größer war als heute. Natürlich standen den 68ern nicht vergleichbare Druckmittel wie dem NS-Staat zur Verfügung, aber auch ohne diese handelte es sich dabei um eine Massenbewegung mit erheblicher Sogwirkung (in jedem Sinne). Völlige Vereinnahmung gehörte dabei zu den zentralen Waffen: "Ihr habt uns ins KZ gebracht" rief ein damals 20jähriger dem Historiker Ernst Nolte nach einem seiner Vorträge zu. Definiert wurde, wie es einem gerade politisch in den Kram paßte.
Die Qualität der zugrundeliegenden Ideale ist denke ich offensichtlich nicht gleich zu setzen, wenn man die linken Bewegungen von den totalitären Strukturen der DDR und von den Entgleisungen in Form der RAF trennt.
Das sehe ich genauso.
Entnehme ich Deiner Äußerung über die Blechtrommel, daß Du Oskar Mazaerath für ein alter ego von Grass hälst?
So stark würde ich es nicht ausdrücken... In vielerlei Hinsicht weicht Oskar Matzerath völlig vom Autor ab. Es handelt sich ja um einen Schelmenroman mit teilweise märchenhaften Zügen, die mit der Realität schlecht in Einklang zu bringen sind - einer der faszinierenden Aspekte des Buches. Allerdings trägt Oskar, wie sehr viele Romanfiguren auch außerhalb des Grass'schen Oevres, einzelne autobiographische Charakteristika (angefangen bei Oberflächlichkeiten wie Danzig oder der kleinbürgerlichen Herkunft). Es ist mE recht interessant für die Betrachtung der Person Grass, wie er mit Figuren umgeht, für die gewisse Ähnlichkeiten gelten. Bedeutsamer als die mögliche Vorbildfunktion Günters bei der Erschaffung von Oskar finde ich aber die Funktion Oskars für das Selbstverständnis der bundesrepublikanischen Gesellschaft, aus der er sich jedenfalls mit diesem Buch noch nicht allzuweit entfernt hatte. Was Grass selbst für die Linken an Identifikationsmöglichkeiten bieten mochte, gab seine Romanfigur möglicherweise auch den "kleinen Fischen" von früher, die nur zu gerne vergaßen, falls sie etwas getan hatten, und jedenfalls in ihrer Erinnerung niemals Verantwortung für irgendetwas getragen hatten.

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Do 17. Aug 2006, 10:08 - Beitrag #24

Kurzer Schlenker:

In der Online-Ausgabe der Emma rezensiert Alice Schwarzer das Buch der Ulrike Meinhof-Tochter.

Quelle

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Do 17. Aug 2006, 15:43 - Beitrag #25

Zu grass ....
Ich mag ihn politisch nicht so sehr, vieleicht auch weil ich öfters anderen ansicht bin als er. Ich schatze es aber doch hoch ein das er nun mit der Sprache rausgerückt ist, das hätte nicht jeder getan.
Was mich aber stört ist das er in der vergangenheit ziemlich heftig sich immer gegen die nazi zeit und insbesondere gegen die Waffen SS / SS geaussert hat obwohl er sich ja selber dazu gemeldet hat. Ich denke er hat damals echt ne chance vertan hätte er sich damals schon dazu bekannt und dann dagegen geschrieben wäre es in meinen Augen verständlicher gewesen. er hat soweit ich das weiss 1985 bei staatsbesuch von Reagan bei Kohl anlässlich des programmpunktes einen Gefallenfriedhofs lieber schweigen sollen, anstatt dagegen zu motzen oder wie gesagt sagen das er auch dabie war.
Ich habe heute in unserer lokal zeitung einen leserbrief gelesen das man in die Waffen ss nicht gezwungen worden ist sonder sich freiwillig melden musste. Demnach hat grass auch der Ideologie der Nazi angehangen, ich finde es aber gut das er sich geändert hat und diese verbrechen nun verurteilt aber wie gesagt man sollte von anfang an zu seinen Fehlern stehen.

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Fr 18. Aug 2006, 11:10 - Beitrag #26

Eine sehr gute, nachdenkenswerte Stellungnahme hat John Iriving in der Frankfurter Rundschau abgegben.

janw
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Fr 18. Aug 2006, 12:37 - Beitrag #27

Zitat von Lykurg:An heutigen Universitäten jedenfalls wird unterschwellig und offen massiver Druck seitens der Kommilitonen ausgeübt, sich politisch zu engagieren. Ich kann mir kaum vorstellen, daß es damals so anders gewesen sein dürfte - ich würde eher annehmen, daß dieser Anpassungsdruck, als das kritische Bewußtsein bereits in Äußerlichkeiten wie abweichender Kleidung und Lebensart deutlich sichtbar wurde, eher größer war als heute. Natürlich standen den 68ern nicht vergleichbare Druckmittel wie dem NS-Staat zur Verfügung, aber auch ohne diese handelte es sich dabei um eine Massenbewegung mit erheblicher Sogwirkung (in jedem Sinne). Völlige Vereinnahmung gehörte dabei zu den zentralen Waffen: "Ihr habt uns ins KZ gebracht" rief ein damals 20jähriger dem Historiker Ernst Nolte nach einem seiner Vorträge zu. Definiert wurde, wie es einem gerade politisch in den Kram paßte.

Gut, es gibt sicher Leute, die versuchen, andere zur politischen Betätigung zu überreden und gab es sicher damals auch. Aber das bedeutet nicht, daß es eine generelle Rekrutierungsinfrastruktur für Mitläufer gab bzw. gibt - wer mitmacht, der soll auch dafür sein.
Was der 20jährige da sagte...nun, Ernst Nolte stand für ihn wohl für das System, das für die Verbrechen verantwortlich war und für die Gesellschaft, die bis in die kleinsten Gliederungen daran mitwirkte. Oder war er vielleicht gar einer der Überlebenden? Ich sehe Beurteilungen wie "völlige Vereinnahmung" oder Definition, wie es einem politisch in den Kram passt", wie sie sie sinngemäß ofters aus konservativer Feder zu lesen sind, eher als Versuch, der eigentlich dringend notwendigen Hinterfragung auszuweichen, der das bürgerliche Lager in Deutschland sich eigentlich viel früher hätte stellen müssen. Wie gesagt, hochrangige Größen der Nazidiktatur konnten ihre Karrieren in der Bundesrepublik fast nahtlos fortsetzen, darunter auch Richter vom Volksgerichtshof.

Was Oskar Matzerath betrifft, hat Grass sich in dem Interview dazu geäußert - ich kriege es jetzt nur nicht mehr ganz zusammen.

@Meinhof: Die Vereinnahmung der Linken durch eine eigentlich ideell völlig entgegen gesetzt "gestrickte" Gruppe wird da recht deutlich, wie auch die unerklärliche Vereinnahmung eigentlich recht eigenständiger Personen, wie Ulrike Meinhof eine wohl doch war.

Das Interview von Wickert mit Grass gestern war recht aufschlussreich, fand ich.
Zum einen müssen wir wohl die Sache mit dem "Teaser" begraben, die Veröffentlichung durch die FAZ erfolgte wohl ungeplant.
Dann hat Grass für mich recht nachvollziehbar dargestellt, wie es zu der Sache gekommen ist, zu der Mitgliedschaft wie auch zu dem jahrzehntelangen Schweigen darüber. ich empfand ihn dabei als durchaus selbstkritisch, als jemanden, der auf sein Leben zurück blickt und dabi sagt: "Heute würde ich dies und jenes anders machen, eher schon berichten, worin ich verstrickt war. " Aber nun, jedes Alter hat seine Attitüden, sage ich - als Jugendlicher handelt man anders, als man es mit 25 täte, mit 35 oder 60.
Bemerkenswert auch, daß er in diesem Zusammenhang auch Walter Jens nannte, der wahrlich nicht unkritisch gesehen wird ob seiner Nazi-Verstrickungen, und diesen dabei auch in Schutz nahm, wohl nicht zum ersten Mal.
Hierzu weiß ich jedoch zu wenig, um es beurteilen zu können.

@Frank Irving: Im Grunde mein Reden.
Die zeitlich langsame Verarbeitung muss einem Menschen wohl zugestanden werden - wenn es nicht um wirkliche Mitwirkung in einem verbrecherischen System oder um Verbrechen geht oder dadurch andere in ihren Rechten beschnitten werden.
(Hiermit lege ich andere Maßstäbe an an jene, die mit 25, 30 oder älter in die NS-Diktatur hinein gingen, in einem Alter also, wo sie von Anfang an tätig mitwirken konnten, als an jene, die eben erst mit 15 oder 17 in den Endkampf verstrickt wurden - erstere müssen sich da deutlich peinlicher befragen lassen.)

Bedenkenswert auch dieses:
Zitat von John Irving:Ein anderer renommierter deutscher Schriftsteller, Thomas Mann, schrieb einmal über die "Verwundbarkeit" von bekannten Autoren "angesichts von niederträchtiger Verachtung und boshafter Schmähung ... selbst wenn diese nur von privatem Groll angefacht werden." Mann fügte hinzu, dass "Feinde notwendige Begleiter eines jeden widerstandsfähigen Lebens…und oft auch der eigentliche Beweis unserer Stärke sind."

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Fr 18. Aug 2006, 15:23 - Beitrag #28

Ich fand den Brief von Irving ebenfalls sehr beeindruckend und nachvollziehbar, aber natürlich auch durch eine - wie dargestellt - langjährige Freundschaft geprägt. Was ich daran aber nicht ganz verstand, oder jedenfalls nicht als Argument teilen kann, war der Absatz
Zitat von John Irving:Es hieß, ich wollte mit diesen Enthüllungen vor allem den Verkauf meiner Bücher ankurbeln. Was glauben Kritiker und Journalisten eigentlich, wie naiv die Leser von komplexer Fiktion sind? Grass und mir sind bislang nicht die Leser davon gelaufen.
Ich halte es selbst für fragwürdig, einem wohlversorgten Mann seines Alters Geldgier zu unterstellen - weit eher dürfte es sich, wenn, um Öffentlichkeitswirkung und noch weitere Steigerung des Bekanntheitsgrades handeln. Immerhin erlebt die gehäutete Zwiebel jetzt Anfangsverkaufszahlen wie kein anderes seiner Bücher. Ich bezweifle, daß Irving vollständig in Betracht gezogen hat, wie naiv, vor allem aber sensationsgeil viele Leser tatsächlich sind.
Zitat von janw:Ich sehe Beurteilungen wie "völlige Vereinnahmung" oder Definition, wie es einem politisch in den Kram passt", wie sie sie sinngemäß ofters aus konservativer Feder zu lesen sind, eher als Versuch, der eigentlich dringend notwendigen Hinterfragung auszuweichen, der das bürgerliche Lager in Deutschland sich eigentlich viel früher hätte stellen müssen
liest sich, als wäre '68 nicht gewesen. Daß nach '45 in großer Breite weitergewurschtelt wurde, ist mir durchaus bekannt - die ideologische Verblendung der 68er scharf abzulehnen heißt nicht, vor ihren Ergebnissen die Augen zu verschließen, wie manche von ihnen vor denen anderer. Die von dir eingeforderte Hinterfragung ist bereits damals so weit gegangen, daß heutzutage kein bürgerliches Lager mehr existiert, das sich mit einigem Gewissen so nennen könnte. Und siehe! Geht es unserer Gesellschaft gerade moralisch besonders gut?

Thomas Mann, der zu einer Zeit lebte, für die das nicht galt, kannte sich mit persönlichen Fehden zwischen Schriftstellern tatsächlich aus... irgendwann wußte ich mal, in welchem Zusammenhang das Zitat steht - habe aber im Moment keine Möglichkeit, das zu überprüfen.

janw
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Fr 18. Aug 2006, 16:10 - Beitrag #29

Das könnte man Irving enthalten halten, ja... Bei Grass scheint mir, die "Enthüllung" war nicht geplant, so, wie es gestern bei Wickert durchschien.

Zitat von Lykurg:liest sich, als wäre '68 nicht gewesen. Daß nach '45 in großer Breite weitergewurschtelt wurde, ist mir durchaus bekannt - die ideologische Verblendung der 68er scharf abzulehnen heißt nicht, vor ihren Ergebnissen die Augen zu verschließen, wie manche von ihnen vor denen anderer. Die von dir eingeforderte Hinterfragung ist bereits damals so weit gegangen, daß heutzutage kein bürgerliches Lager mehr existiert, das sich mit einigem Gewissen so nennen könnte. Und siehe! Geht es unserer Gesellschaft gerade moralisch besonders gut?

Nun, wenn ich denn dochmal Dein Lieblingsorgan unter die Augen bekomme, scheint mir, es habe die kritische Reflexion der Linken über ihre dogmatischen Verleitungen und Entfremdung von ihren Idealen nicht gegeben bzw. als seinen sie kollektiv ferngesteuerte Marionetten der DDR gewesen. Vielleicht lese ich da aber nur, was ich lesen will? ;)

Was den moralischen Zustand unserer Gesellschaft betrifft, stimme ich Dir weitgehend zu, vielleicht mit der Einschränkung, daß die Hochzeit der bürgerlichen Gesellschaft zwar durch ein vordergründig hochgehaltenes hohes moralisches Niveau gekennzeichnet war, das aber hinter den Kulissen sich als Fassade entpuppte, hinter den Kulissen wurde getratscht und rufgemordet, was das Zeug hielt, das Fremde beäugt und sonntags den als Sonntagsreden bekannten Entäußerungen halbangetrunkener Gewählter zugetrunken. Gut, mag sein, ich karikiere etwas.
Jedenfalls, worauf ich hinaus will ist, daß in meinen Augen die Verantwortung des bürgerlichen Lagers für den Verfall ihres (und meines) grundlegenden Wertesystems wesentlich auch ihre eigene ist. Wo blieb der Sturm der Entrüstung der konservativen Moralisten, als Kohl die Hilfe bei der Aufklärung einer Straftat - Nichtanzeige von Parteispenden,... - verweigerte, als dieser (oder war es Kanther?) zur Erklärung gar auf "jüdische Vermächtnisse" auswich? Jener Helmut Kohl, der einst eine "geistig-moralische Wende" eingefordert hatte?

Ich würde sagen, daß parallel zur Abnahme kollektiv bindender moralischer Codices die Reflexion über ihre Implikationen und die von ihnen ausgelösten Chancen (wertfrei gebraucht) und über den eigenen Status im Verhältnis zur Außenwelt zugenommen hat.
Auf gut deutsch: "Wir" sind unserer Selbst bewusster und weltoffener geworden. Ist das nichts?

Lykurg
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Fr 18. Aug 2006, 17:28 - Beitrag #30

Nun, wenn ich denn dochmal Dein Lieblingsorgan unter die Augen bekomme, scheint mir, es habe die kritische Reflexion der Linken über ihre dogmatischen Verleitungen und Entfremdung von ihren Idealen nicht gegeben bzw. als seinen sie kollektiv ferngesteuerte Marionetten der DDR gewesen. Vielleicht lese ich da aber nur, was ich lesen will? ;)
:boah: Hat es die denn gegeben?^^ - Vor allem aber: Waren sie es denn nicht alle? -> Emma-Artikel;)

Den Fall Kohl und das sogenannte "bürgerliche" Lager sehe ich als verspätete Nachwehen der Epoche des Bürgertums, des 19. Jh. - Kohl, wenn man ihn auf die Parteispenden reduziert (wie von manchen noch mehr gewünscht als von anderen, Grass auf seine SS-Mitgliedschaft zu reduzieren^^) als ein Beispiel der Verlockung durch Macht, wie sie zu allen Zeiten vorkam. Wobei das Bürgertum in seiner Ausgangsphase aufgrund der massiven Nachrangigkeit tatsächlichen Reichtums gegenüber der entscheidenden Bedeutung des guten Namens eine recht effiziente Selbstreinigung betrieb. Diese Mechanismen versagten zunehmend mit dem Aufkommen der Parvenüs im Gründerzeitboom ab den 1870ern (und wieder in den "goldenen 20ern"). Der Untergang des Bürgertums dauerte somit etwa 100 Jahre. Seine militärischen Ambitionen endeten auf den Schlachtfeldern von Verdun; die finanziellen Rücklagen wurden in den Inflationsjahren um 1923 vernichtet, Aktien und private Firmen gingen in Massen 1929 unter. Die kulturelle Elite wurde 1933 ins Exil getrieben, wenn nicht später ins Gas, während ihre Bürgerhäuser wie die der Nichtjuden im Feuersturm des zweiten Weltkriegs untergingen. Wer aber 1918, 23, 29, 33, 38 und 45 überlebt hatte, an dem mußte ja etwas faul sein. Die letzten Reste einer Kultur, die Deutschland einmal vertreten hatte, wurden '68 zum Feind erklärt, diffamiert und gezielt zerstört, bis sich nichts mehr zu regen wagte - und auch bald nicht mehr konnte.

Ich kann und will nicht darüber hinweggehen, daß erhebliche Teile des nach 1929 verbliebenen Bürgertums Anhänger des NS-Regimes waren - allein schon aufgrund der Angst vor dem Bolschewismus und aus dem Bestreben heraus, schnellstmöglich Stabilität zu erreichen - eine Hoffnung, die bitter enttäuscht werden sollte. Daneben darf aber auch nicht übersehen werden, daß auch der Widerstand sich wesentlich aus dem alten Bürgertum oder dem niederen Adel herausbildete - während für Kleinbürger und Proletariat sich im 3. Reich große Aufstiegschancen ergaben, war für die ehemals dominierende Schicht des späten Kaiserreichs nun höchstens die Gelegenheit vorhanden, sich zu bereichern oder in manchen Fällen auch die zweite Reihe zu erreichen; die alte Bedeutung blieb ihm aber verwehrt.
Dennoch mußten seine verbleichenden Reste '68 hervorgekramt werden, weil laut Marx und seinen Erben hier die Wurzel allen Übels zu finden war...

Schlagen wir den Bogen zurück - für "bürgerlich" sollte man sich einen anderen Begriff einfallen lassen. Für eine per se im Wesentlichen machtbezogene Parteiorganisation paßt eine solche Bezeichnung nicht wesentlich besser als für die eben nur gut gemeinte Verschwiegenheit des Altbundeskanzlers. Und was Grass damit zu tun hat? Ziemlich wenig, würde ich sagen. Aus Prinzip. Falls es ein solches gibt.

janw
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Fr 18. Aug 2006, 17:57 - Beitrag #31

Nun bist Du auch noch feuilletonistisch zum Zuge gekommen..^^

:boah: Hat es die denn gegeben?^^ - Vor allem aber: Waren sie es denn nicht alle? -> Emma-Artikel ;)

Nun, diverse Biographien über die RAF-Aktivisten, letztlich auch die Rezension von Alice Schwarzer können als Teil jener Reflexion durchgehen, die ich sehe. Ob sie ausreichen, ob es je ein hinreichendes Maß an Reflexion geben kann und wird, das ist der Stoff, aus dem Diskussionen sind. ;)
Was die DDR betrifft, nun, "Des Brot ich ess, des Lied ich sing", das galt da eben nicht unbedingt, die Finanzierung durch die DDR führte nicht zur bedingungslosen Folgsamkeit der Linken in toto. Leider fehlte jedoch auch die Enttarnung der DDR als selbst faschistoides System, wie ich es in ihr zumindest erblicke.

Wenn Du das mit der Vernichtung der Bürgerlichkeit meinst, dann kann ich dem durchaus zustimmen. Wäre nur die Frage, ob jene Hülle von ihr in 1949 noch überlebt hätte, wenn es die Linke und den Ost-West-Gegensatz nicht gegeben hätte.
Ist für die Zukunft alles gelaufen? Well, I don´t think so, I saw some grass growing through the pavement today...

Lykurg
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Fr 18. Aug 2006, 19:12 - Beitrag #32

Ich hatte ganz vergessen, noch kurz auf deinen letzten Absatz einzugehen...
Ich würde sagen, daß parallel zur Abnahme kollektiv bindender moralischer Codices die Reflexion über ihre Implikationen und die von ihnen ausgelösten Chancen (wertfrei gebraucht) und über den eigenen Status im Verhältnis zur Außenwelt zugenommen hat.
Auf gut deutsch: "Wir" sind unserer Selbst bewusster und weltoffener geworden. Ist das nichts?
Eine sehr spannende Feststellung, finde ich - und mE nur allzu wahr. Wobei die Diskussion, die wir hier beobachten können, die wir auch selbst geführt haben, in erheblichem Maße dadurch bestimmt ist, daß wir uns ihrer moralischen Grundlagen eben nicht mehr sicher sind. In gewisser Weise führt das auch mit zum Profilverlust der politischen Parteien dieser Tage. Das klare Weltbild der 70er scheint sich in multipolare, weitgehend entideologisierte Sammelbecken Ähnlichdenkender aufgelöst zu haben; die kleinen Probleme des privaten Alltags sind in den Vordergrund gerückt. Man konsumiert - oder auch nicht, lebt und läßt leben.

In meinem "Lieblingsorgan" fanden sich von Anfang an auch umfangreiche Verteidigungen von Grass' Verhalten, so auch der Leitartikel am Tag nach dem FAZ-Interview. Die Streitfrage um die Vergangenheitsbewältigung zieht sich, wie auch die hier vertauschten Positionen zeigen, nun einmal quer durch die Lager und ist ihrerseits gekennzeichnet durch den Verlust an allgemeinverbindlichen Verhaltensmaßstäben - gerade wenn es um eine der gewichtigsten Maßstabsetzer der Vergangenheit geht.
Wenn Du das mit der Vernichtung der Bürgerlichkeit meinst, dann kann ich dem durchaus zustimmen. Wäre nur die Frage, ob jene Hülle von ihr in 1949 noch überlebt hätte, wenn es die Linke und den Ost-West-Gegensatz nicht gegeben hätte.
Ist für die Zukunft alles gelaufen?
Ob das Verbliebene in dieser Weise überhaupt erhaltenswert gewesen wäre, weiß ich nicht - auch durch das Wirtschaftswunder war da jedenfalls viel Potential zu neuerlichem inneren Verfall... Vielleicht bestand die 'Hülle' tatsächlich nur noch dem Namen nach aus Bürgern, in geistig-moralischer Hinsicht aber schon damals nicht mehr.

Ob alles gelaufen ist? Ich denke, daß die Veränderungen unumkehrbar sind. Kulturverlust kann (über-)kompensiert, aber nicht rückgängig gemacht werden. Eine breitere Gesellschaft, in der die Beherrschung von Musikinstrumenten und Sprachen; profunde literarische, kunsthistorische und geschichtliche Kenntnisse; Erkenntnisdrang und gemäßigte Experimentierfreude, aber auch das unbedingte Einhalten des guten Tons und die Wahrung des persönlichen Ansehens einen derart hohen Stellenwert haben, ist auch auf lange Sicht wohl kaum zu erwarten.

Wobei ich nicht behaupten kann, mit unserer Gesellschaft und ihren kleineren und größeren Schwächen völlig unzufrieden zu sein. Zweifellos sind wir mit dem gesamten Haar auch einige Zöpfe losgeworden.

janw
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Fr 18. Aug 2006, 20:40 - Beitrag #33

Tja, da sind wir im Eingemachten der deutschen Kulturentwicklung gelandet - wer hätte das gedacht?

[quote="Lykurg"]Das klare Weltbild der 70er scheint sich in multipolare, weitgehend entideologisierte Sammelbecken Ähnlichdenkender aufgelöst zu haben]
Mit Marx gesprochen, könnte man sagen, nach These und Antithese, dem Primat des Diskurses, sei jetzt die Zeit der Synthese erreicht^^

Natürlich liegt es ebenso nahe, die erreichte mögliche Vielfalt der individuellen Kultur- und Lebensentwürfe als Beliebigkeit zu geißeln. Die Wahrheit liegt wohl irgendwo dazwischen - ich sehe vor allem auch die Verbreiterung der möglichen Teilhabe an Kultur - sie ist nicht mehr nur jenen vorbehalten, die über die notwendige Freizeit und das notwendige Kleingeld verfügen - ob sie allerdings die Freiheit angemessen zu nutzen und zu schätzen wissen... :rolleyes:

Aber um noch etwas beim Thema zu bleiben, wie stehen wir zu anderen Verführten, genannt seien nur mal Walter Jens und Christa Wolff als von Grass selbst Verteidigte ?

fanvarion
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Fr 18. Aug 2006, 20:41 - Beitrag #34

Zitat von Lykurg:@Windsbraut: Die Waffen-SS war nun wirklich nicht gerade ein Kulturverein. Sie verstand sich als Sammelpunkt der NS-Elite (man meldete sich freiwillig, woraufhin man einem intensiven Eignungsverfahren unterzogen wurde) - und verantwortete die schrecklichsten Greuel. Auch wenn er sagt, keinen Schuß abgefeuert zu haben, ist die Mitgliedschaft darin kein Pappenstiel. Zwei Jahre früher hatte er sich übrigens (erfolglos) zu den U-Booten gemeldet - das wäre aber eine ganz andere Sache gewesen.


@Lykburg
ab dem Jahr 1943 war es mit der freiwilligkeit vorbei da wurde man gezogen ob man wollte oder nicht.

Bedenke auch das die WaffenSS so ab dem Jahr 1942 -43 immer mehr Ausländerdivision aufstellte.

Die Waffen SS ist das wußte ich auch nicht ein Richtiges Wirtschaftsunternehmen gewesen. Die meisten Menschen wissen nur von dem Totenkopf und WaffenSSeinheiten.

Desweiteren ist es mir schon aus dem Grund ziemlich egal ob Grass bei der Waffen SS war oder nicht. ER wurde gezogen weil er die Gardemaße erfüllte.

Das er es überhaupt gestanden hat verwundet mich allerdings schon, denn diese Diskussion zeigt mir persönlich das wir mit gewissen Schuldzuweisungen schnell bei der Hand sind.

Und Wenn die Kriterien des dritten Reiches immer noch gelten würden wäre ich durch meine Statur und Aussehen auch bei der Waffen SS gelandet wahrscheinlich mit 16 Jahren total verblendet, von der doch ziemlich ²hervorragenden" Kaderschulung der Nazis.
Diese hätte mir vorgegaukelt wie toll das alles ist und was ich damit alles für mein Vaterland getan hätte.
Grass ist ab dem 6 Lebensjahrdurch diese Propaganda berieselt worden.


Daher schaut mal in eure Eigene Vergangheit die ist garantiet nicht sauberer. Es gibt nur nicht mehr ein Regime wie das dritte REich das uns so vereinnahmen würde.

Lykurg
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Fr 18. Aug 2006, 22:42 - Beitrag #35

@janw:
Bei Walter Jens und Christa Wolf liegt der Fall jeweils anders. Anders als Grass und Wolf hat Walter Jens seinen schwarzen Fleck zu verbergen versucht bzw. bestritten. NSDAP-Mitglied zu werden war offenbar recht einfach, und schon im April 1933 gab es zweieinhalb Millionen davon. Ähnlich wie in der SS muß auch hier deutlich differenziert werden, was jemand gemacht hat (/haben kann); Jens war wohl ebenfalls ungefähr 17, als er 1940 Mitglied wurde, ihmzufolge 'automatisch' infolge seiner HJ-Mitgliedschaft. Ich muß gestehen, bisher keinen seiner Texte gelesen zu haben (abgesehen von Kindlers Literaturlexikon, das er herausgegeben hat^^), kann ihn daher 'charakterlich' schlecht einschätzen.

Christa Wolf hat über ihre IM-Vergangenheit recht bald und bereitwillig gesprochen, was ihr hoch anzurechnen ist. Ihrzufolge handelte es sich nur um drei Jahre; und so schwerwiegend diese Tätigkeit auch ist - in der DDR scheint ja ein erheblicher Teil der Bevölkerung damit beschäftigt gewesen zu sein, Berichte übereinander zu schreiben, und warum sollte eine Schriftstellerin sich dabei zurückhalten?^^ Sie war allerdings, was den Fall wieder erschwert, 30 Jahre alt, als sie damit anfing - nicht gerade gut. Und ihre Rolle beim Mauerfall war zumindest zwiespältig...


@fanvarion
Grass sagte im Wickert-Interview, er sei gezogen worden, ja. Das verträgt sich allerdings schlecht mit seiner U-Boot-Meldung, für die er zuvor noch zu jung gewesen war - bei der Waffen-SS spielte aber die Einwilligung der Eltern keine Rolle. Ich weiß es schlicht und einfach nicht.
Daß die SS "ein richtiges Wirtschaftsunternehmen" war, wußte ich dagegen sehr wohl. Rund um die großen Konzentrationslager befanden sich Industrieparks, in denen die Häftlinge Zwangsarbeit verrichteten. Diese gehörten teils großen deutschen Unternehmen, teilweise auch der SS - außerdem wurden die Häftlinge von ihr 'vermietet'. Ferner verdiente sie massiv am Holocaust - durch den Verkauf der persönlichen Besitztümer der Ermordeten (von Kleidung bis zu Schmuck und Zahngold) und zuletzt der Verwertung ihrer sterblichen Überreste (Haare, Haut etc.), soweit sie nicht verbrannt wurden. Besser macht sie das in meinen Augen nicht. :boah:
Die Division Frundsberg, bei der sich Grass befand, hatte wohl damit nichts zu tun. Aber mit vorschnellen Entschärfungen des Wirkens der Organisation (das ziehe ich aus "schon aus dem Grund") sollte man sich zurückhalten.

Ich kann unmöglich beurteilen, was ich damals gemacht hätte (allerdings wäre ich wohl bei meinen Urgroßeltern in Brasilien aufgewachsen; hätte also auch den besonderen Fanatismus der Auslandsdeutschen miterlebt...) Wie ich mich dagegen, wäre ich hier aufgewachsen, entwickelt hätte, kann ich nicht einmal vermuten.
Meine eigene Vergangenheit ist sauberer, eben weil es hier und heute keine vergleichbare Situation gibt.

Jatrix
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Sa 19. Aug 2006, 13:08 - Beitrag #36

Zitat von Windsbraut: Und wieviel wussten er und alle anderen während des Krieges von den Untaten der SS?


Da fällt mir doch glatt ein Buch von Peter Longerich ein: "Davon haben wir nichts gewusst!". Gelesen hab ichs noch nicht, werds aber bald tun.

(Durch den Rest des Themas werd ich mich erst noch durchwursteln, war zwei Wochen im Urlaub :D )

fanvarion
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Sa 19. Aug 2006, 13:10 - Beitrag #37

@lykburg

Ich entschärfe die Situation nicht, es ist menschenverachtend was dort passierte.
Ich habe nur versucht mich in die Sicht eines damals 16jährigen mit Propagande vollgeballerten jungen Mann zu versetzen.
Von diesen Propagandisten wurde schließlich die Maße vereinnahmt und ein Mensch der sich gerade versucht zu entwickeln ist diesen Ansturm häufig unterlegen.

Lykurg
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So 20. Aug 2006, 10:26 - Beitrag #38

Sicher, das unterschätze ich nicht und sehe es ähnlich. Es geht mir (wie dem Großteil der Kritiker) ja auch weniger um seine eigene Verwicklung als um die scheinheilige Nichteinsicht, daß andere ebenfalls durch die Umstände hineingezogen werden konnten.

Offenbar erwähnt Grass in der gehäuteten Zwiebel auch, er habe in amerikanischer Kriegsgefangenschaft "die erstbeste Gelegenheit" genutzt, "auf einen dort beschäftigten jüdischen Jungen, eine 'displaced person', loszugehen" (so die Besprechung in der heutigen "FAZ am Sonntag"). Das wirft auch ein Schlaglicht auf Grass' problematisches Verhältnis zu Israel - wie besonders in diesem n-tv-Artikel genauer beleuchtet, auch wenn darin von Gewalt noch nichts bekannt war. Die erwähnte Studie Leo Ginsters zu Grass' Antisemitismus finde ich faszinierend - ob wohl noch mehr Doyens der linken Kritik einen ähnlich tief verwurzelten Ursprung dieser Haltung haben?

janw
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So 20. Aug 2006, 14:02 - Beitrag #39

Zitat von Lykurg:scheinheilige Nichteinsicht, daß andere ebenfalls durch die Umstände hineingezogen werden konnten.

Ich bin mir jetzt nicht sicher, wie Du das meinst, meinst Du jetzt, Grass habe diese Nichteinsicht gehabt? Eher doch wohl nicht, wenn er Walter Jens und Christa Wolff (für die nächste Diktatur) gleichfalls in Schutz nimmt...oder?
Andererseits war das Betonen der Hineinziehbarkeit junger Menschen doch auch mein Reden, dem Du heftig widersprochen hast, denn es bedeute kompletten Relativismus usw.
*Etwas verwirrt bin*

Zum Rest:
O_o nun ja...

Das erstere Ereignis in der Gefangenschaft ist unschön, steht aber wie alle seine Erlebnisse in der NS-Diktatur unter dem Umstand der Vorzeitigkeit vor den Nürnberger Prozessen, die Grass die Augen öffneten - wie er sagt.
Das weitere ist gleichwohl bedauerlicher, wenn auch die Materie eine schwierige ist.
Zitat von ntv:1967, bei einer Lesung in Tel Aviv empört er sich, dass der "Antisemitismus der Eltern ... den Kindern zum gegenstandslosen Philosemitismus" geriet. Auschwitz relativierend, sagte der deutsche Schriftsteller: "Kaum eine europäische Nation hat es gegeben, die sich nicht zeitweilig das Verbrechen zum politischen Verbündeten gewählt hatte."

Die erstere Äußerung ist differenziert zu betrachten - "gegenstandsloser Philosemitismus" impliziert für mich den Vorwurf des Fehlens von "Herz bei der Sache", bloße politische Korrektheit, der Mode folgend. Das mag gewiss für etliche Beteiligte stimmen, bis heute, doch war damals dies schon viel und die Äußerung leugnet das Engagement gleichfalls Vieler, das es gleichfalls gab, bis heute, das letztlich die Grundlage schuf dafür, daß jüdisches Leben in Deutschland heute wieder ein Stück "normal" geworden ist.
Zum anderen...gewiss, Blut klebt an allen europäischen Händen, ob vom Kolonialismus, der Ausrottung fremder Kulturen, ob vom Holocaust, ob auch von dessen schleichender Unterstützung, indem England gezielt die Gleise dorthin nicht bombardierte - obwohl man wusste, was in Deutschland geschah, indem Amerika sehr zögerlich nur die Flüchtlinge aufnahm, gleichfalls die Schweiz.
Die Helfershelfer zu benennen, darf jedoch nie darin einmünden, die Täter zu entlasten, und hier ist Grass dem Abgrund nahe, wenn nicht schon darüber.
Wenn Grass 1971 gesagt hat:
"So hat Israel durch die schleichende Annexion der besetzten Gebiete den arabischen Staaten einen Vorwand für deren Angriff geliefert."

So ist dies ein Satz, der beispielhaft jenen Zwiespalt beschreibt, der das Verhältnis vieler Linker nach 1967 zu Israel bestimmt, bis heute.
Angesichts der Tatsache, daß Israel tatsächlich und von der Völkergemeinschaft als faktisch erkannt ihm nicht gehörende Gebiete gegen geltendes Recht besetzt hält und angesichts der Polarisierung Israels gegen die arabische Welt et vice versa muss jede Kritik an Israel dort zwangsläufig als Angriff gewertet werden - "wer nicht für uns ist, ist gegen uns" und einen antisemitischen touch haben, wo ausgewiesene und bekennende Antisemiten sich in gleicher Weise äußern. Zumal Israel erst jetzt allmählich intern die Trennung hinbekommt zwischen Staat und Volk, die politische Säkularisierung gewissermaßen, bis dato das "Staat der Juden", der verfolgten zumal, Sein also Teil der Staatsidentität war.
Dieses Problem zu erkennen und die richtigen Worte zu finden ohne abzugleiten, will manchem in dieser Frage nicht gelingen, einem Grass hingegen hätte derlei nicht passieren dürfen, oder er hätte sich um Klarstellung bemühen müssen. "Si tacuisses!" möchte man ihm beinahe zurufen...

Die Diskussion mit Kaniuk erscheint gleichfalls unerfreulich - wenn ich von Kaniuk auch selbst nichts kenne, nicht weiß, wie er seine Thesen vertritt, mit seinen Kritikern umgeht.
Die Äußerung Kaniuks
"...nach etwa zwanzig Minuten also kam der Junge zum Vorschein, der einst der Hitlerjugend angehört, jener junge Mann, der tief fliegende amerikanische Flugzeuge beschossen hatte]Die erwähnte Studie Leo Ginsters zu Grass' Antisemitismus finde ich faszinierend - ob wohl noch mehr Doyens der linken Kritik einen ähnlich tief verwurzelten Ursprung dieser Haltung haben?[/QUOTE]
Nun, wenn Du auf Kaniuks Äußerung "ich war mein Großvater, er sein Großvater, der Deutsche gegen den Juden." abzielst, dann würde ich auf die von mir erwähnte "ideologische Schizophrenie" bzw. das unweigerlich Geisel des kollektiven Erlebnisses in diesem Falle sein verweisen, was dann aber für beide Seiten gilt, auch der Überlebende kann nicht aus seiner "Rolle".
Wobei andererseits genügend andere Menschen überzeugende Wendungen ihres Lebens geschafft haben, könnte man dagegen halten. Waren sie vielleicht in ihrer Jugend anders geprägt, in einem etwas anderen Zeitfenster sozialisiert?
Wie dem auch sei, diese Zuweisung kann nur für jene gelten, die in den 30ern Kinder und Jugenliche waren, auf der linken Seite entsprechend für jene, die in der DDR aufwuchsen, vorrangig in deren idealistischer Anfangszeit, vielleicht bis 1975. Für einen großen Teil der Linken in Deutschland gilt dies jedoch nicht.
Ob ich aus den genannten Äußerungen auf einen wirklichen Grass´schen Antisemitismus schließen kann - ich glaube nicht, wie schon gesagt, ein Israel-Kritiker gewiss, doch Kritik am Staat mit Antisemitismus gleichzusetzen, das geht für mich in Richtung "wer nicht für uns ist, ist gegen uns", macht außerdem die Klinge stumpf gegen jene, die wirklich Hass im Munde führen gegen Juden auch hierzulande.
So sehe ich es auch mit der Linken - der widerrechtliche Übergriff auf palästinensische Gebiete wird direkt und als Imperialismus gebrandmarkt, Israel so als "normaler" Staat wahrgenommen, der sich an seine Grenzen zu halten hat, die Palästinenser als bedrängte Volksgruppe, wie die Kurden auch, die Indios, die Penan,... Daß Juden in Deutschland leben, wieder und in wachsender Zahl, als Teil der Gesellschaft, wird, so weit ich die Linke überblicke, durchweg begrüßt und gern gesehen.

Die Maschine
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So 20. Aug 2006, 16:23 - Beitrag #40

Also ich kann den ganzen Aufruhr nicht verstehen.
Ich denke, er war im jungen Alter und auch sein Blick aufs Richtige wurde getrübt und er hat nen Fehler gemacht. Den einzusehen, ist nicht immer einfach. Außerdem hat jeder seine eigene Art, gerade mit Kriegserfahrungen umzugehen. Und das ist im ganz Speziellen auch damit verbunden, wem man sich anvertraut.
Zwar steht Grass in der Öffentlichkeit, und diese empört sich, dass sie das hätte wissen müssen (vllt. auch wegen Nobel-Preis?).

Aber gerade das Einsehen von Fehlern, oder zumindest das Machen von Fehlern zeigt doch nur, dass er auch nur ein Mensch ist, der wie jeder andere nicht ohne Fehl und Tadel ist!

Nebenbei: Hat sich eigentlich wer ernsthaft aufgeregt (außer den Briten Bild), als Ratzinger in der SS war??

Ich denke, die Offenbarung hat an Grass' Wesen kein Schaden genommen. Zumindest nicht in meiner Meinung (über ihn).

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