Wayü hatte schon eine ganze Weile vor sich hingestarrt und geschwiegen. Er lehnte mit dem Rücken an einem Palisadenpfahl und machte ab und zu eine Handbewegung, um die Fliegen von seinem Gesicht zu verscheuchen. Die sollten lieber das Aas fressen, das da neben ihm hing - er blickte nicht einmal hin. Seine Aufgabe bei der Wache befreite ihn vom Zwang, Beute zu machen - und er war froh darüber. Daß weniger glückliche Stammesbrüder neben ihm verfaulten, nahm er gern in Kauf - und roch sie kaum noch. Außerdem machten sie seine Aufgabe einfacher - Fremde kamen selten nach Dsiadou. Und wenn, handelte es sich meist um Verzweifelte, denen er ihre letzten Habseligkeiten abnehmen konnte, bevor er sie einließ. Davon ließ es sich leben - seine Hütte lag nahe am Markt und war mit Pferdeköpfen verziert, wie die Alten sie gebaut hatten. Aber an den meisten Tagen verlangten nur die Qidankrieger von ihm Einlaß. Das Tor stand daher tagsüber stets offen, denn zusammen mit seinem Pferdeknecht konnte er es bei Annäherung größerer Gruppen rechtzeitig schließen.
Als er eine Bewegung am Rande seines Blickfelds bemerkte, blickte er auf. Drei Fußgänger kamen auf sie zu - ein erbärmlicher Anblick. Obwohl es ihnen nicht so schlecht zu gehen schien, daß sie ihre Pferde gegessen hätten - vielleicht waren sie ihnen gestohlen worden. Das konnte passieren - er unterdrückte ein Grinsen. Es galt nun, streng dreinzublicken, um den Preis nicht zu verderben. Bei den Fremden handelte es sich um einen Mann und zwei Frauen. Auf den ersten Blick fiel ihm der schäbige Umhang der etwas abseits gehenden Frau unbestimmbaren Alters auf - ihr Gesicht wirkte streng auf ihn, beinahe herrschaftlich. Ob bei ihr etwas zu holen sein mochte? Sie trug eine hölzerne Figur in den Händen - vielleicht ein paar Kupferstücke wert, ansonsten hatte sie wohl nichts zu verschenken. Eher vielleicht der kleinwüchsige Mann - denn dessen lederne Hosen waren in deutlich besserem Zustand, außerdem trug er einen großen, gepflegten Bogen auf dem Rücken. Wayü überprüfte mit einem nervösen Seitenblick und einem Griff, daß sein Schild neben ihm stand und er seine Messer griffbereit hatte. Wie er sah, hatte sich sein Knecht Litu inzwischen erhoben und auf stand nun abwartend auf der anderen Seite des Tors.
Die rothaarige Frau schien zu dem Mann zu gehören, obwohl sie eher bäuerlich-plump wirkte und ein Stück größer war als ihr Begleiter. Und selbst wenn die anderen nichts haben mochten - sie hatte eine lederne Tragetasche bei sich, die sicherlich etwas enthielt, das sie ihm würde geben müssen, frische Feldfrüchte vielleicht. Er merkte, daß er Hunger hatte - auf irgendetwas Saftiges. Als sie nur noch wenige Schritte entfernt waren, rief er in der Hochsprache, um besser verstanden zu werden: "Zhanzhou! Ni gei wo shenme?" Die Fremden sahen ihn verwundert an - wobei er das unbestimmte Gefühl hatte, daß die Frau mit dem langen schwarzen Haar ihn zwar verstanden hatte, aber nicht antworten wollte.
Aber er mußte den Blick von ihr abwenden und dem Mann in die Augen sehen, er merkte, wie gut es ihm tat, ihn anzublicken, er fühlte sich wie auf Wolken, es war so leicht, zu sehen, wie die Dinge lagen. Die Reisenden mußten hinein, natürlich, sie hatten eine wichtige Aufgabe, da gab es keinen Zweifel. "Willkommen!" sagte er zu der Frau im Leinenkleid, ohne zu wissen, was das Wort bedeuten mochte. Dabei zog er die Mundwinkel in die Höhe, und wußte, daß es richtig und gut war. Ja, Litu würde seiner Meinung sein, diese Reisenden durften nicht behelligt werden.
Das eingefrorene Lächeln blieb auch auf seinem Gesicht zurück, als die Fremden längst weitergegangen waren.