Revolution in Sicht?

Das aktuelle politische Geschehen in Deutschland und der ganzen Welt sowie wichtige Ereignisse der Weltgeschichte.
Anaeyon
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Mo 23. Okt 2006, 18:08 - Beitrag #1

Revolution in Sicht?

Ich lass mal meine Gedanken laufen, auch wenn ich mir bei den wenigsten der folgenden sicher bin..

Zur Zeit denke ich oft darüber nach, wann die nächste Weltweite Revolution kommen- und wie sie aussehen könnte, wer es sein wird, was das Ziel ist. Ob erfolgreich oder nicht, egal.

Und zeitgleich habe ich das Gefühl, dass die Jugend immer anarchistischer wird und die Gegebenheiten für einen radikalen Revolutionswunsch immer stärker werden. Noch ist es meist so, dass die breite Masse, die man wahrnimmt - ob es sie nun gibt oder nicht - eher sich selbst schadet, als ihren Frust gegen andere zu richten.

Warum nehmen so viele Jugendliche Drogen, saufen als gäbe es keinen Morgen, haben auf nichts mehr Lust?.. Liegt es vielleicht an den Aussichten auf ihr weiteres Leben? In den Nachrichten heißt es immer, "die Jugend hätte keine Perspektive" und ich frage mich, ob diese angesprochene Perspektive überhaupt die ist, die uns fehlt, oder ob es nicht vielleicht eine ganz andere Perspektive ist, die wir bereits haben und die uns so agieren lässt, wie wir es tun.

Wie schon gesagt, für mich fühlt es sich so an, als würde die Jugend radikaler werden und ich glaube zu ahnen, warum. Meine Sichtweise wurde durch den Metal beeinflusst, in dem gnadenlos und oft auch übertrieben das System, das Leben und die Gesellschaft kritisiert wird, aber es gibt bei den meisten Jugendlichen, die ich frage, keine Meinungsunterschiede, egal mit was für einer Lebensphilosophie sie sich eindecken.

Bei fast jedem von denen, die sich ein wenig über ihren Tellerrand trauen, sich für Politik interessieren oder sich Gedanken übers Leben machen bekomme ich eine ähnliche Sichtweise mit anderen Worten beschrieben. Es herrscht praktisch einstimmig die Sicht, (ich interpretiere mal ein wenig, was der Objektivität von mir aus schaden könnte ^^) dass die Lebensweise und das System der Erwachsenen nichts mit dem zu tun hat, was wir Jugendlichen vom Leben erwarten.

Man sagt uns wir hätten nicht genug Motivation um zu lernen und dies sei schrecklich weil wir dann ja keine Karriere machen können (nicht O-Ton aber gedachter Ton). Und da fragt man sich, wozu überhaupt Karriere? Wozu diese ganzen anderen Dinge, die scheinbar so wichtig sind..
Man erzählt uns von Werten die wichtig sind, die aber eh keiner einhält.

...die ganze Breite an Warum-Fragen, die man so oft von Jugendlichen und Kindern hört, auf die es immer Antworten gibt, von denen aber keine Antwort befriedigend ist. Jeder von uns weis, warum sich Islamisten in die Luft sprengen und warum die Welt so (umn. scheisse) ist wie sie ist. Aber in unseren Köpfen scheint fast eine Einstimmigkeit darüber zu herrschen, dass es ansich nicht allzu schwer ist, so zu leben, dass diese Fragen gar nicht mehr notwendig sind. Wir verstehen sozusagen einfach die erwachsene Welt nicht, die Probleme hinnimmt und behandelt, wobei diese Probleme gar nicht nötig wären, ließe man "die Kinder regieren".


Könnten dies Zeichen für einen wachsenden Revolutionswunsch sein? Glaubt ihr, die treibende Kraft dahinter könnte die Jugend sein? Ich will mal meine Meinung aus dem Spiel lassen, weil das vorerst zuviel ideologisches Wunschdenken wäre..

Traitor
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Mo 23. Okt 2006, 19:32 - Beitrag #2

Ersteinmal: warum "die nächste Weltweite Revolution"? Es gab noch nie eine weltweite Revolution. Man könnte natürlich sagen, dass eine zukünftige Revolution nur eine echte Weltrevolution sein könne, da die Welt bald ein einziges politisches und kulturelles System bilden wird - aber du scheinst ja eher die kurzfristige Zukunft im Blick zu haben, wenn du dich auf die momentane Jugend fokussierst, und da ist dieses Weltsystem noch nicht abzusehen.

Nun zur Kernfrage. Ich denke nicht, dass wir derzeit ein nennenswertes revolutionäres Potential in unserer Gesellschaft haben. Kein allgemeines, und schon gar nicht eines speziell in der Jugend.

Kein allgemeines: für eine Revolution braucht es entweder eine starke Ideologie, die Intellektuelle so antreibt, dass es ihnen gelingt, das Volk aufzuhetzen - Kommunismus, Islamismus etc. Derzeit sehe ich keine Ideologie, die in der westlichen Welt einen derartigen revolutionären Elan entfachen könnte. Oder man braucht eine breite Bevölkerungsschicht, der es wirklich, wirklich schlecht geht, sodass sie bereit ist, alles für eine Änderung des derzeitigen Zustandes, selbst in eine völlig ungewisse Richtung, zu geben. Wie es etwa in Lateinamerika oft der Fall war. (Dort gibt es natürlich auch noch die dritte Variante, dass Revolutionen einfach ein etablierter Volkssport sind. ;)) Eine solche Schicht gibt es zumindest in Deutschland nicht, auch Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger haben ein gesichertes und bequemes Leben. Kaum einer von ihnen würde es riskieren, bei Demonstrationen und Revolten erschossen zu werden, weil ihm sein Fernseher nicht mehr reicht oder er Finanzierungsprobleme mit seinem Zahnersatz hat.

Keines in der Jugend: die Jugend ist allgemein eine schlechte Ausgangsgruppe für Revolutionen. Ihre Ansichten ändern sich meist zu schnell, um einer bestimmten, aber nicht fest etablierten Bewegung zu folgen. Und sie haben meist zu wenig mit konkreten Systemänderungen zu tun: "dass die Lebensweise und das System der Erwachsenen nichts mit dem zu tun hat, was wir Jugendlichen vom Leben erwarten", nicht "die Lebensweise und das System der Erwachsenen müssten drigend dahingehend geändert werden, dass...". Aus genereller Systemablehnung erwächst noch keine tragfähige Revolution, höchstens ein paar kleinere anarchistische Revolten. Und schließlich mangelt es der Jugend schließlich auch einfach an Macht und Einfluss, um ihre eventuell doch vorhandenen Ziele durchzusetzen

Und schließlich scheint unser derzeitiges politisches und gesellschaftliches System auch sehr gut in der Lage zu sein, prärevolutionäre Bewegungen zu reabsorbieren, man denke an die späteren Lebensläufe der 68er. Natürlich erscheint diese Behauptung nach nur 60 Jahren BRD oder 230 Jahren USA recht vermessen, aber Demokratie scheint ein sich recht gut selbststabilisierendes System zu sein. (Ob im Idealzustand, sei dahingestellt.)

Anaeyon
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Mo 23. Okt 2006, 21:03 - Beitrag #3

Ich denke ja generell recht trivial Bild, und diesmal in etwa so: Revolution aufgrund des kapitalistischen, globalisierenden "Systems". Und Weltweit (grenzen wirs mal auf westliche Welt), ganz unabhängig von den finanziellen Mitteln diverser Länder, ist im Grunde überall die Jugend ein Opfer davon, wird praktisch vergiftet von dieser Lebensweise, Politik, Propaganda, was weis ich.

Das Wort Revolution klingt vielleicht falsch, zu gezielt und zu organisiert, aber ich weis nicht wie ich es sonst beschreiben sollte. Ich meine einfach, den Zeitpunkt an dem die ganze Jugend, auch die breite Masse und nicht nur vereinzelte Gruppen anfängt, ihre selbstschädliche Lebensweise zu hinterfragen und ihre Wut/ihren Frust gegen andere zu richten.
Wie war es in den 68ern?

Ich meine nicht sofort jetzt, meine Generation wird da nichts mehr zu Stande bringen. Aber wie gesagt, die radikalen Tendenzen steigen meiner Meinung nach. Bzw. zur Zeit eher die assozialen, was mmn. aber ersteres auslösen wird.


Und @ spätere Lebensläufe der 68er: Ich denke keine Sekunde daran, dass eine Wai (scheinbar nicht "Revolution") irgendwas dauerhaft besser macht. Es ist doch immer wieder nur ein Wechsel des Extrems...Ich frage mich vorrangig nur, ob unsere Gesellschaft/Jugend langsam wieder auf eine Wai hinsteuert.

Ipsissimus
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Mo 23. Okt 2006, 23:14 - Beitrag #4

auch Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger haben ein gesichertes und bequemes Leben.


du kennst nicht viele Arbeitslose und Hartz-IV-Empfänger ^^

janw
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Mo 23. Okt 2006, 23:21 - Beitrag #5

Ana, Du hast eine interessante Sicht auf Deine Generation^^

Wenn ich "die Jugend von heute" betrachte, dann ist die vor allem recht hedonistisch eingestellt, konsumiert Handyklingeltöne, medial gehypte musikalische Eintagsfliegen, Fastfood, was das Portemonnaie hergibt, teils auch darüber hinaus. Alle? Nein, sehr viele hören auch einfach nur gutes Metal und sind gut drauf, wohl sogar die meisten, und gelegentlich kommt etwas von dem ersteren dazu. Einige haben wohl auch einen Blick für die Folgen des Konsums und daß der nicht endlos so weiter gehen kann, und wenige engagieren sich, bei Attac, in Jugendgruppen, in Parteien,...

Wenn Du mich also so fragst, sehe ich eine Diskrepanz zwischen der Einsicht, was gut und wichtig wäre und dem eigenen Handeln. Was mir allerdings auch aus der Erwachsenenwelt sehr gut bekannt ist.

Eine breite Unzufriedenheit über die Verhältnisse, gepaart mit dem Wunsch, selbst etwas besseres an die Stelle des Bestehenden zu setzen, kann ich allerdings nicht erkennen, eher arrangiert man sich mit den Grundzügen des Bestehenden, die ja durchaus Platz für kleinräumiges Engagement bieten. Wer Gefangenen in Folterstaaten helfen will, wer Kindern in Slums zu mehr Lebensperspektive verhelfen will, wer gegen das Verschwinden der letzten Grünzonen in den Stadten eintreten will, findet genügend Gruppen, die im Rahmen des Bestehenden das eine oder andere erreichen können, ohne daß damit das System grundsätzlich infrage gestellt wird.
Die, die tatsächlich auf den Trichter kommen, daß das System die Probleme erst schafft, gegen die man da in Sisyphusarbeit ankämpft, sind zu wenige, um einen Systemwechsel auch nur ansatzweise erreichen zu können.
Dagegen stehen auch zu viele, die das Wort "Arbeitsplatz" im Munde führen...

In Analogie zum embedded journalism der us-Kriegsadministration könnte man sagen, daß das System eben diese Ansätze der Problembehebung und kritischen Betrachtung in seine eigenen Strukturen eingebettet hat, das Wort "Gleichschaltung" will ich mal nicht benutzen^^
Dies aber nur konjunktivisch als mögliche Sichtweise dargestellt.

Tatsächlich spiegelt diese Situation allerdings das wider, was die BRD bzw. Mitteleuropa "heute" von der Situation 1968 unterscheidet: Der verbreitete Blick auf die Folgen und die doch recht große Anzahl an Initiativen für alle möglichen ökosozialen Zwecke ist eine Folge der ´68er Revolution, all dies gab es damals in dieser Form nicht.

Ana, wenn Du Dich für eine andere, "bessere" Welt engagieren möchtest, für mehr Freiheit von wirtschaftlichen Zwangssystemen, mehr Umweltschutz, mehr soziale Gerechtigkeit, dann wäre vielleicht Attac etwas für Dich. Die freuen sich über jeden Neuen. :)

Anaeyon
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Mo 23. Okt 2006, 23:29 - Beitrag #6

Tropfen auf dem heißen Stein, Jan.

janw
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Mo 23. Okt 2006, 23:37 - Beitrag #7

Steter Tropfen...höhlt den Stein, Ana^^

Lykurg
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Mo 23. Okt 2006, 23:50 - Beitrag #8

@Ipsissimus: Erfolgreiche Revolutionen konnten sich stets auf den Druck erheblich schlechterer Versorgungssituationen, mehr sozialen Sprengstoff, stützen.

@Anaeyon: Eine Selbstsicht der Jugend als "vergiftetes Opfer" enthielte, selbst wenn sie von einer breiten Mehrzahl so empfunden würde (was ich bezweifle, ich denke, der größte Teil der möglicherweise tatsächlich Vergifteten reflektiert seinen Zustand nicht), ebenfalls noch nicht das nötige Potential für eine Revolution, sondern führt eher zu allgemeinem Desinteresse.

Die 68er hatten hehre Ideale (manche jedenfalls, wenigstens vorgeblich), für die sie mit großem Enthusiasmus und viel Gewaltbereitschaft, äh "Tatendrang", vorgingen. Sie hatten immerhin recht feste Vorstellungen davon, wie die Welt beschaffen sein sollte (und diskutierten nächtelang darüber), statt einfach nur die Gegenwart abzulehnen (was es natürlich zumindest vereinzelt auch gab).

Wenn man die 68er überhaupt als erfolgreiche Revolution bezeichnen will (ihre Ziele und Ergebnisse waren, wenn man nicht auf "Veränderung von Machtverhältnissen" verabsolutiert, idealistischer als die aller mir bekannten Revolutionen zuvor), fällt es doch recht schwer, die Parallelen zur heutigen Jugend zu sehen. Tut man es aber nicht, ist die Möglichkeit einer Revolution aus der Jugend heraus praktisch nicht vorhanden. Die Revolutionen der Geschichte basierten auf einer breiten Masse von praktisch Besitzlosen, deren körperliche Arbeitskraft, gegen das Establishment gewandt, eine Bedrohung darstellte. Das ist hier keinesfalls gegeben.

(Alles nur etwas dunkler eingefärbte Fußnoten zu Traitor, ich weiß - aber was soll ich machen, er hat halt recht.^^)

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Wenn, dann kommt es mE ganz anders. Die jüngere Generation wird demographisch marginalisiert. Daraus steigt ihre Belastung massiv an - und wenn das tragbare Maß überschritten ist, könnte eine demokratische Ordnung damit ausgehebelt werden, Macht sich auf die produzierenden Kräfte konzentrieren. Aber das hat mit dem Zustand der Lustlosigkeit, des Vergiftetfühlens, des Antiglobalisiererseins und wai nichts zu tun, diese Stimmungen stehen einer solchen Veränderung, die letzlich ihrerseits eine Anstrengung, einen Handlungswillen voraussetzt, eher im Wege.

Maurice
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Di 24. Okt 2006, 00:09 - Beitrag #9

Um eine gewagte These aufzustellen: Global gab es noch nie eine Revolution und wird es wohl auch nie geben. Es gibt nur Evolution (im wertneutralen Sinne).
Das liegt daran, dass die Masse der Menschen immer Herdentiere sein werden und die brauchen entweder ein Alphatier, das sie antreibt oder sie stehen dumpf in der Gegend rum.

Menschliche Gesellschaften sind so aufgebaut, dass es wenige Herrscher und viele Beherrschte gibt. Das System ändert sich im Detail und das Personal wechselt, aber im Großen und Ganzen bleibt doch alles beim alten. Und daran ändert keine lokale Revolution etwas. Das liegt einfach "in der Natur des Menschen".

Ich habe zwar keine besondere Ahnung von der heutigen Jugend (sie interessiert mich schlicht und einfach nicht), ich traue ihr aber nicht soetwas wie eine Revolution zu. Allein schon weil es ihnen dazu viel zu gut geht. Manche phantasieren vielleicht von Revolution aber das nur aus Langeweile und pubertären Auflehnungsinstinkt als Selbstzweck. Quasi Revolutionsphantasien, weil es ihnen zu gut geht. (Sehr wohl gibt es auch ein paar wenige, denen es schlecht geht, aber gemessen an Kindern in anderen Erdteilen, geht es der Masse (materiell) echt super.)
Ja, viele Jugendliche sind unzufrieden mit der Gesellschaft... aber war das jemals anders? Und selbst wenn sie wirkliche eine Revolution durchführen wollten: Dafür fehlt ihnen der Ehrgeiz und die Organisation. Wenn die Revolution nur durch die Jugendlichen erfolgen soll, bedürfte es einer guten Organisation... aber gerade das würde unmöglich sein, wenn sie nur annähernd so anarchistisch sind, wie sie sich selbst glauben.
Und ob die Jugend radikaler wird? Ich glaube nein. Es sind nur einige Schreihälse dabei, die die Aufmerksam auf sich lenken.


Edit @jan:
Dass die meisten Jugendliche heute hedonistisch eingestellt sind, begrüße ich (der Ausdruck "Hedonismus" ist mittlerweile zum Glück für viele auch nicht mehr so negativ konnotiert). Die Einstellung der meisten Jugendlichen gefällt mir trotzdem nicht, weil sie mir materialistisch hedonistisch erscheint. Glücksmaximierung durch möglichst hohen Konsum: Davon haben schon die antiken Glücksethiker gewarnt. Ich würde mir einen epikureischen Hedonismus wünschen, der zwar auch die Freude am Leben in den Mittelpunkt stellt, diesen aber durch Muße, Mäßigkeit und Bildung zu erreichen sucht. Dieser Weg wird nicht für alle am besten sein. Es gibt wohl auch genügend Menschen, die Rausch, Orgien und Exzesse brauchen, um möglichst glücklich zu sein. Aber ich schätze, viele oder gar die meisten wären mit dem apollonischen Weg besser beraten als mit dem dionysischen.

janw
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Di 24. Okt 2006, 02:01 - Beitrag #10

Zitat von Lykurg:Die 68er hatten hehre Ideale (manche jedenfalls, wenigstens vorgeblich), für die sie mit großem Enthusiasmus und viel Gewaltbereitschaft, äh "Tatendrang", vorgingen. Sie hatten immerhin recht feste Vorstellungen davon, wie die Welt beschaffen sein sollte (und diskutierten nächtelang darüber), statt einfach nur die Gegenwart abzulehnen (was es natürlich zumindest vereinzelt auch gab).

Es gab, denke ich alles - Vertreter hehrer Ideale wie reine Nutzer solcher Vorstellungen für eigene, niederrangige Zwecke, Sympathisanten autoritärer Systemalternativen wie radikale Demokraten, und die in manchen Kreisen (man lese mal die "WELT";)) immer noch verbreitete pauschale Vorgeblichkeitsunterstellung der Ideale und verbreitete Gewaltbefürwortungsunterstellung dient IMHO eher dem eigenen psychologischen Selbstschutz der Konservativen, die andernfalls zugeben müssten, daß ohne die Veränderungen nach `68 das "weiter so" schon jetzt hierzulande in die ökosoziale Krise geführt hätte, und der Ermöglichung einer allgemeinen Restauration, heute im Gewand der Globalisierung. Es muss halt immer unten bleiben, was unten liegt^^

Die Verklärung im linken Lager sehe ich dabei gleichermaßen kritisch, Mao und Ho-Tschi-Minh waren alles andere als Menschenfreunde, und ihre Verehrung jagt mir Schauer über den Rücken. Vielleicht hätten sie aber nicht diesen Stellenwert erlangt, wäre nicht der Vietnamkrieg ein wesentlicher Aufhänger der `68er Bewegung gewesen.

Was die Gewaltbereitschaft betrifft...nur ein kleiner Teil der Bewegung war überhaupt für Gewalt als Mittel zur Durchsetzung der Forderungen, mit dem Mord an Benno Ohnesorge gewann dieser Kreis jedoch starken Auftrieb. Übrigens auch kräftig angeheizt durch die Stimmungsmache der Springer-Presse, die jeden Langhaarigen gleich zum Terroristen erklärte.
Das diente nicht unbedingt der Entstehung einer Bewegung im Stile Gandhis, wie sie sicher wünschenswert gewesen wäre.
Vielleicht war dies aber auch nicht im Sinne der Vertreter des Systems...das will ich nicht ganz ausschließen, wenn ich mir damalige Persönlichkeiten wie Strauß ansehe.
Man sollte allerdings auch mal lesen, wie damals in Wirtschaft und Gesellschaft an führender Stelle gedacht wurde, z.B. in den zeitlich recht nahe stehenden Kommentaren von Wirtschaftlern und Politikern zur Meadows-Studie Global 2000. Die dort implizit ausgedrückte systemeigene Gewaltbereitschaft im Sinne der exklusiv inanspruch genommenen Interpretations- und Gestaltungsmacht (sinngemäß "Wir wissen schon, wie die Welt aussieht, und wir werden sie schon so machen, wie es unseren Zwecken dient, und wem das nicht gefällt...nicht unser Bier") lässt Forderungen aus eben diesen Kreisen nach gewaltfreier Opposition nicht unnaiv erscheinen, will man keine Bosheit unterstellen.

Nun gut, an den Machtstrukturen hat sich real nicht viel geändert, betrachtet man nur einmal den Fall der Ernährungswirtschaft.
Praktisch der gesamte Markt an zubereiteten Lebensmitteln stammt von 2-3 Konzernen: Unilever, Kraft-Jacobs-Suchard, iirc Teil von Nestle, und Danone.
Das ist reale Marktmacht, die stärker ist als die Konzentration im Energiebereich - und völlig unbeachtet bleibt.

@Maurice:
Hinsichtlich der globalen Revolutionen hast Du wohl recht - das liegt IMHO in der Vergangenheit an den zu langen Informationswegen und daran, daß die zugrunde liegenden Probleme eben doch immer nur regionale waren.
Die neolithische Revolution war aber zumindest in der Alten Welt großflächig und tiefgreifend.

Hinsichtlich des Hedonismus hast Du recht, ich meinte speziell den konsumorientierten.

Maurice
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Di 24. Okt 2006, 02:32 - Beitrag #11

@Globale Revolution: Es scheint also, dass eine notwenidge Voraussetzung für diese die globale Vernetzung der meisten Menschen ist. Stellen sich die Fragen, ob dies irgendwann der Fall sein wird und welche Bedingungen sonst noch für eine globale Revolution gegeben sein müssen.

Anaeyon
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Di 24. Okt 2006, 06:28 - Beitrag #12

Zitat von Maurice:@Globale Revolution: Es scheint also, dass eine notwenidge Voraussetzung für diese die globale Vernetzung der meisten Menschen ist. Stellen sich die Fragen, ob dies irgendwann der Fall sein wird


Womit wir wieder bei der Anfangsfrage wären, denn auch den Faktor Informationsüberflutung habe ich bedacht. Ob der irgendwas verschnellert, weis ich nicht.

und welche Bedingungen sonst noch für eine globale Revolution gegeben sein müssen.


...ist ebenfalls eine sehr interessante Frage, denn dass zur Zeit nicht die Bedingungen gegeben sind, ist klar.

(sorry, hab gerade nicht viel Zeit.)

Ipsissimus
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Di 24. Okt 2006, 14:05 - Beitrag #13

Erfolgreiche Revolutionen konnten sich stets auf den Druck erheblich schlechterer Versorgungssituationen, mehr sozialen Sprengstoff, stützen


ich gehe davon aus, daß uns noch ein erklecklich Stück bis zur Talsohle fehlt^^. Wenn wir die ganzen durch statistische Tricks aus der Statistik gefallenen Leute zurechnen, haben wir derzeit in Deutschlad 8 bis 9 Millionen Menschen, die permanent an jener Grenze leben, die ihnen von reichen Multimillionären als zumutbar vorgeschrieben wird. Das IST Sprengstoff^^

janw
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Di 24. Okt 2006, 15:42 - Beitrag #14

Nur...was hindert diese Menschen, immerhin etwa 10% der Gesamtbevölkerung, eben den Aufstand zu proben, den andere in ihrer Lage in anderen Ländern zu anderer Zeit geprobt haben?
(Ich weiß, das permanente Erleben des Nichtgebrauchtwerdens, des auf Hilfe Angewiesenseins,... schwächt das Gefühl des Eigenwerts und macht mutlos...)

Immerhin, Herr Beck hat die Debatte jetzt angestoßen, die auch sofort wieder im Keller verschwindet.

Ipsissimus
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Di 24. Okt 2006, 16:10 - Beitrag #15

des Deutschen liebste Lust ist, regiert zu werden. Solange dies gegeben ist, sieht er über vieles hinweg. Sagte ich "vieles"? Sorry^^ Alles

Traitor
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Mi 25. Okt 2006, 17:27 - Beitrag #16

@Anaeyon:
Das Wort Revolution klingt vielleicht falsch, zu gezielt und zu organisiert, aber ich weis nicht wie ich es sonst beschreiben sollte. Ich meine einfach, den Zeitpunkt an dem die ganze Jugend, auch die breite Masse und nicht nur vereinzelte Gruppen anfängt, ihre selbstschädliche Lebensweise zu hinterfragen und ihre Wut/ihren Frust gegen andere zu richten.
Da stecken zwei Annahmen drin: dass es zu dieser Hinterfragung kommt, und dass aus dieser dann eine auf die Gesellschaft rückwirkende Handlung folgt. Ersteres wird schon schwierig, da eine geistige "Vergiftung" viel schwerer als Selbstschädigung erkennbar ist als körperliche Not und die Anfänge des Hinterfragens oft schon damit wieder beendet werden, dass die paar geistigen Einschränkungen ja schon in Ordnung seien, wenn man dafür materiell gut lebt. Und auch zweiteres ist bei weitem nicht zwangsläufig, da die Hinterfragung auch mit Resignation enden kann und dies zumindest derzeit auch in den eindeutig meisten Fällen so geschieht.
Und @ spätere Lebensläufe der 68er: Ich denke keine Sekunde daran, dass eine Wai (scheinbar nicht "Revolution") irgendwas dauerhaft besser macht. Es ist doch immer wieder nur ein Wechsel des Extrems...Ich frage mich vorrangig nur, ob unsere Gesellschaft/Jugend langsam wieder auf eine Wai hinsteuert.
Mit dem Verweis auf die 68er wollte ich darauf hinaus, dass nichtmal dieser Wechsel des Extrems zustandekommen muss. Wie Jan aufführt, haben die 68er durchaus einiges Gutes im Detail erreicht, sich aber letztlich ins im Wesentlichen unverändert fortbestehende System integriert und mehr diesem angepasst als es an sie.

@Ipsissimus:
du kennst nicht viele Arbeitslose und Hartz-IV-Empfänger ^^
Du kennst höchstwahrscheinlich keinen einzigen, der ernsthaft hungert, sich 10m² mit 10 Kindern teilt, wirklich gar keine medizinische Versorgung genießt und regelmäßig von der Obrigkeit körperlich misshandelt wird. Soetwas ist der klassische soziale Sprengstoff für Revolutionen. Unsere ohne Zweifel beklagenswerte und in diesem Ausmaß beim gleichzeitigen allgemeinen Reichtum skandalöse "Unterschicht" ist weit von dieser echten Armut entfernt und bedürfte somit eines weit stärkeren Auslösers als bei historischen Revolutionen, um gewaltsam eine Änderung herbeizuführen.
des Deutschen liebste Lust ist, regiert zu werden. Solange dies gegeben ist, sieht er über vieles hinweg. Sagte ich "vieles"? Sorry^^ Alles
Wo siehst du hier das speziell deutsche und den Regiertwerdensrezeptionsbezug? Sowohl in den USA, die deutlich mehr Wert auf die Unabhängigkeit des Einzelnen gegenüber der Regierung legen (wenn dies sich auch inzwischen zielsicher nur auf die irrelevanten oder absurden Bereiche bezieht), als auch in Frankreich, wo sich der Staat deutlich durchsetzungskräftiger gibt, sind die Probleme sehr ähnlich.

@Lykurg:
könnte eine demokratische Ordnung damit ausgehebelt werden, Macht sich auf die produzierenden Kräfte konzentrieren.
"Produzierende Kräfte" im Sinne der Arbeiter oder der Unternehmer? Wenn ersteres, würde mich doch sehr interessieren, wie du dir das vorstellst; wenn letzteres, alles klar. ;)

@Jan:
Die neolithische Revolution war aber zumindest in der Alten Welt großflächig und tiefgreifend.
Das war wohl kaum eine Revolution im Sinne dieses Threads.

@Maurice:
Um eine gewagte These aufzustellen: Global gab es noch nie eine Revolution und wird es wohl auch nie geben. Es gibt nur Evolution (im wertneutralen Sinne).
Das liegt daran, dass die Masse der Menschen immer Herdentiere sein werden und die brauchen entweder ein Alphatier, das sie antreibt oder sie stehen dumpf in der Gegend rum.
Es gab noch nie eine globale Evolution, ja. Aber dass es nie eine geben wird, dafür sehe ich keine ausreichenden Indizien. Dein zweiter Absatz zeigt doch gerade den Weg auf, wie es zu einer kommen kann: übernimmt jemand (sei es ein "Alphatier" oder eine ganze Gruppe) die Führerschaft über die bisher im Stillen brodelnden Massen, kann es zur Revolution kommen. Dies ist prinzipiell global genauso denkbar wie national. (Sind einmal die technischen Voraussetzungen für die Weltgesellschaft geschaffen.)

Lykurg
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Mi 25. Okt 2006, 18:51 - Beitrag #17

Zitat von Lykurg:Die jüngere Generation wird demographisch marginalisiert. Daraus steigt ihre Belastung massiv an - und wenn das tragbare Maß überschritten ist, könnte eine demokratische Ordnung damit ausgehebelt werden, Macht sich auf die produzierenden Kräfte konzentrieren.
Traitor, ich meinte damit die Gesamtheit der aktiv wirtschaftenden Bevölkerung - im Gegensatz zu den Transferempfängern. Wenn die demographische Lage (die kopfstehende Tanne^^) sich weiter zuspitzt, wird voraussichtlich zunächst die Anzahl der Transferempfänger im erwerbsfähigen Alter rapide abnehmen, bis Vollbeschäftigung nicht mehr ausreicht, um Rentner und Schwerbehinderte (=die verbliebenen Transferempfänger) vollständig zu versorgen. In dieser Situation stellen die produzierenden Kräfte eine Bevölkerungsminderheit, bei der sich, da der Fortbestand der Gesellschaft von ihr abhängt, Macht ansammelt.

Einer solchen Entwicklung könnte, wenn nicht durch eine gesteigerte Geburtenrate oder massive Einwanderung (aber womit locken?), dann durch automatisierte Landwirtschaft und Altenpflege gegengesteuert werden.

Maurice
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Mi 25. Okt 2006, 23:18 - Beitrag #18

Es gab noch nie eine globale Evolution, ja. Aber dass es nie eine geben wird, dafür sehe ich keine ausreichenden Indizien.

Da du in den darauffolgenden Sätzen von Revolution spirchst, gehe ich davon aus, dass du dich zu Beginn vertippst hast und statt "Evolution" eigentlich "Revolution" stehen sollte, oder? ;)
Iirc habe ich nicht behauptet, dass eine globale Revolution prinzipell unmöglich ist. Ich gehe nur davon aus, dass sie nie stattfinden wird, da ich sie für äußerst unwahrscheinlich halte (dafür bedarf es mehr als eine globale Gesellscahft und ob die überhaupt möglich sit, ist auch fraglich). Für ausgeschlossen halte ich sie aber nicht. Ob sie auch wünschenswert wäre, wäre dann die nächste Frage. ^^

Ipsissimus
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Mi 25. Okt 2006, 23:38 - Beitrag #19

Du kennst höchstwahrscheinlich keinen einzigen, der ernsthaft hungert, sich 10m² mit 10 Kindern teilt, wirklich gar keine medizinische Versorgung genießt und regelmäßig von der Obrigkeit körperlich misshandelt wird.


Rühmen wir uns jetzt schon dessen, im Vergleich zu Standards gut da zu stehen, die überwunden zu haben wir seit 60 Jahren immer wieder lauthals betonen?


als auch in Frankreich, wo sich der Staat deutlich durchsetzungskräftiger gibt


wie man letzthin wieder sah, als Millionen gegen das Gesetz zur Aufhebung des Kündigungsschutz bei Neueinstellungen protestierten - was Deutschen in dieser Form nie in den Sinn käme - und der Staat nachgab.

Traitor
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Do 26. Okt 2006, 09:30 - Beitrag #20

Rühmen wir uns jetzt schon dessen, im Vergleich zu Standards gut da zu stehen, die überwunden zu haben wir seit 60 Jahren immer wieder lauthals betonen?
Nein, wir rühmen uns dessen nicht. Aber wenn wir die Frage dieses Threads objektiv beantworten wollen, dann müssen wir die Tatsachen betrachten, und nicht unsere Meinung zu diesen. Deine Meinung wie auch meine ist, dass die derzeitige Massenarbeitslosigkeit ein schlimmer Zustand und für die individuellen Betroffenen eine Tragödie ist - die Tatsache ist aber, dass es ihnen eben noch weit besser geht als dem klassischen Revolutionszündstoff und somit ihre Ausreichendheit als solcher fraglich ist und zumindest mit weiteren Argumenten begründet werden müsste.
wie man letzthin wieder sah, als Millionen gegen das Gesetz zur Aufhebung des Kündigungsschutz bei Neueinstellungen protestierten - was Deutschen in dieser Form nie in den Sinn käme - und der Staat nachgab.
Das ist die andere Seite Frankreichs - der Hang zum Revoltismus. Im Alltagsgeschäft jedoch ist der Staat dort deutlich rigider als hier, etwa werden TGV-Gleise einfach gebaut, während es in Deutschland Jahre dauert, bis, wenn überhaupt, das Land aller Bauern auf einer Baustrecke erworben ist. Dort kommen also starke Regierungsfolgsamkeit bis zu einer gewissen Grenze und dann starker Hang zu Revolutionen zusammen, während es hierzulande genau andersherum ist - von einer generellen speziell Deutschen "Lust am Regiertwerden", die dann Revolutionen behindert, kann man mit solchen Vergleichsgrößen ja wohl nicht reden.

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