Was versteht ihr unter "Philosophie"?

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Padreic
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Sa 1. Dez 2007, 13:13 - Beitrag #21

Für mich ist Philosophie durch die Frage motiviert, was die Dinge (im weitesten Sinne) und ihre Gründe sind. Sie zeichnet sich dadurch gegenüber anderen Wissenschaften aus, dass sie einen ganzheitlichen und vor allem auch fundamentalen Blickwinkel einnehmen will.
Bei einigen Fragestellungen, denen sich Philosophen widmen, wird der Dingbezug vielleicht nicht so deutlich erscheinen. Aber in der großen Fragestellung, was der Mensch ist, geht so ziemlich jede Fragestellung über Tun von Menschen auf; manche Bereiche, die wohl manchen wichtigen dünken, würde ich vielleicht da aber auch eher als Randgebiete bezeichnen.

@Traitor:
Den Hauptunterschied zu anderen Wissenschaften sehe ich darin, dass die Philosophie sich nicht mit Dingen, sondern Konzepten über Dinge befasst
Ich würde sagen: auch, aber nicht nur. Primär, um an die Dinge selbst zu gelangen. Sie muss zum Beispiel gegenüber der Physik Metawissenschaft sein, um die methodischen Vorurteile, mit denen die Physiker über die Dinge sprechen (und selbst darüber, dass sie überhaupt über Dinge und nicht über Muster in Wahrnehmung sprechen, kann man streiten), aufzudecken und die physikalische Sichtweise so an ihren Platz zu rücken, um einen freieren und tieferen Blick auf die Dinge selbst zu bekommen.

[Fasse mich etwas kurz, da ich gleich zum Zug muss.]

Maurice
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Sa 1. Dez 2007, 13:21 - Beitrag #22

Ja, es geht mir hier um die Philosophie als Disziplin.

Kontingenz ist seit einiger Zeit dein Lieblingswort, oder?

Das hast er von Ipsi! :D

Dennoch kann man eine gewisse Einarbeitung erwarten, Modelle, die elementaren Erkenntnissen der Physik oder Biologie widersprechen, sollte kein Philosoph mehr von sich geben, der etwas auf sich hält.

Wobei man hier kritisch anmerken muss, dass auch der gute Wissenschaftler - letztlich von skeptischen Überlegungen von Philosophen angeregt - nicht mehr an das absolut sichere und für alle Zeit unzweifelbar bewiesene Wissen glaubt.
Ich stimme dir aber zu, dass Philosophen den wissenschaftlichen comon sense ernst nehmen sollten - immerhin handelt es sich hierbei um die jeweils bis jetzt bestbegründesten Theorien. Philosophie sollte daher in meinen Augen wenn möglich extern kohärent zu anderen Wissenschaften sein. Das schließt natürlich nicht aus, dass bestimmte Thesen krototosch hinterfragt werden können, wenn man gute Gründe dafür angeben kann.
Leider finden sich aber auf Seiten der Wissenschaften als auch der Philosophie genug Beispiele, bei denen jemand keine Ahnung von philosophischen oder wissenschaftlichen Grundlagen hat - und sei es nur der Soziologe der die Theorie des "egoistischen Gens" mit der Begründung ablehnt, dass es nicht der Realität entspricht, dass alle Menschen selbstsüchtige und rücksichtlose Egoisten seien. :rolleyes:

Indem die Philosophie über diesen überprüfbaren Teil hinausgeht

Das sehe ich auch als Problem. Die Frage ist jetzt: Wenn Philosophie eine Wissenschaft ist oder zumindest sein könnte, währe sie dann eine empirische Wissenschaft oder eine Formalwissenschaft? Einige Philosophen wollten Philosophie ja rein auf Sprachanalyse reduzieren und alle empirischen Fragen den anderen Wissenschaften überlassen. Ich finde schon, dass es Gründe gibt die dafür sprechen. Man denke daran, was früher alles Themenbereich der Philosophie war, was mittlerweile locker von Wissenschaften übernommen wurden. Z.B. hat ein Aristoteles noch "Naturphilosophie" betrieben, indem er die verschiedenen Tiere beobachtet hat und Hypothesen über ihre Fortpflanzung und ähnliches aufgestellt hat - das würden wir heute nicht mehr als Teil der Philosophie ansehen, sondern zur Biologie rechnen. Die Frage ist nun, ob sich alle empirischen Elemente der Philosophie in Einzelwissenschaften transferieren lassen. Besonders interessant finde ich dabei die noch junge Glücksforschung, die in meinen Augen die Ethik als philosophische Disziplin ablösen könnte - einen bestimmten meta-etischen Ansatz vorausgesetzt.
Was scheinbar bleibt ist also der Meta-Bereich (plus alle synthetischen Urteile, die noch nicht von anderen systematisierten Wissenschaften behandelt werden) - aber könnte nicht auch der durch eine Wissenschaft übernommen werden? Ich denke dabei an eine Art empirische Begriffsforschung. Wenn der Philosoph nicht einfach definieren will, was z.B. "Liebe" bedeuten soll, sondern rekonstruieren will, was wir eigentlich meinen, wenn wir dieses Wort benutzen, dann wäre doch eigentlich die beste Methodik, empirische Studien zu betreiben, die aufzeigen, wie wir das Wort "Liebe" benutzen. So würde empirisch systematisch gezeigt werden, was "Liebe" bedeutet - denn die Bedeutung eines Wortes wird durch ihren Gebrauch bestimmt.
Bleibt die Frage, ob man diese Methode konsequent durchziehen könnte oder ob die Empirie dann doch auf Grenzen stößt, die nicht bloß reine Glaubenssätze sind. Auf jeden Fall würde sich der Kompetenzbereich der Philosophie damit immer weiter verringern...

Ipsissimus
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Sa 1. Dez 2007, 13:24 - Beitrag #23

Traitor, die "methodologische Sauberkeit" der Naturwissenschaften im Verhältnis zu den von dir aufgeführten Geisteswissenschaften Soziologie, Psyhologie und der "Erfahrungswissenschaft" Medizin liegt im Wesentlichen darin begründet, dass die Naturwissenschaften sich mit trivialen Problemen in modellhaften Umgebungen beschäftigen, während sich die letztgenannten Wissenschaften auf die "Unsauberkeit" wirklicher Existenz und Menschen einlassen müssen. Deiner Kritik liegt eigentlich die Frage zugrunde, wie man sich mit bestimmten Phänomenen aus wissenschaftstheoretischer Sicht befassen "sollte", und da sind die Antworten für Geisteswissenschaften deutlich komplexer als im Falle der Naturwissenschaften. Darüber hinaus vergisst du die methodische Perfektion der historischen Geisteswissenschaften.

Der Positivismusstreit wurde außerhalb der angelsächsischen Länder eigentlich einhellig gegen den Wissenschaftspositivismus entschieden, im Angelsächsischen zugunsten desselben. Entsprechend dumm lesen sich unzählige wissenschaftliche Beiträge angelsächsischer Geisteswissenschaft, wobei ich selbstverständlich eingestehe, dass es rühmliche Ausnahmen gibt. Aber im allgemeinen habe ich schon den Eindruck, dass bei den "positiven" Geisteswissenschaftlern über dem Zwang zur Stilisierung eigentlich lebender Strukturen das Bewußtsein für das Problem weitgehend verloren ging.

janw
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So 2. Dez 2007, 17:57 - Beitrag #24

Das Problem mit der Philosophie als Disziplin ist in meinen Augen, daß dieser Begriff das Vorhandensein eines von vorneherein festen methodischen Rahmen und eines bestimmten Raumes impliziert - der praktisch wohl nur ein akademischer sein könnte - in dem Philosophie betrieben werden sollte bzw. in dem als Philosophie Ausgegebenes als Philosophie anerkannt werden sollte.
Dies ginge dann auch mit einer apriorischen "Disziplinierung" des Geistes einher, die IMHO einer denkerischen Freiheit entgegen stünde.

Letztlich bleibt denke ich nur, jedes anspruchsvolle und reflektierte Nachdenken als solches anzuerkennen und eine Bewertung allein an seiner Konsistenz auszurichten, vielleicht noch daran, wie weit dieses Denken wahrhaftig ist im Bezug auf den denkenden Menschen, wie weit er sich darin wahrhaftig erweist.

Zitat von Traitor:Kontingenz ist seit einiger Zeit dein Lieblingswort, oder? ]
Nein, es drückt nur in prägnanter Form das aus, was ich schon länger denke, bzw. gibt es sogar besser wider, weil es das Phänomen vom Kopf benennt, das ich vorher mehr von der Entstehungsseite her betrachtet hatte.
Letztlich sprichst Du doch auch nicht mehr von "sich stark verändernden interstellaren Objekten", wenn Du die Spielleiter des Universums meinst ;)

"Zwänge" sind, wenn es um das Aufstellen eines sauber definierten Systems geht, aber eben nichts allgemein negatives, sondern etwas notwendiges. So, wie man für ein physikalisches Problem Anfangs- oder Randwertbedingungen braucht, braucht ein Welterklärungssystem die Überprüfbarkeit an der Welt als Zwangsbedingung, um zu etwas nutze zu sein. Indem die Philosophie über diesen überprüfbaren Teil hinausgeht, entwickelt sie zwar viel interessantes, von dem sich auch durchaus wieder brauchbare Ansätze auf die Realität herunterbrechen lassen mögen, kann aber eben auch keinerlei Anspruch auf Eindeutigkeit und Korrektheit mehr erheben, wie sie es aber leider meist tut.

Das Problem ist, daß der Rahmen der Naturwissenschaft durch die Beschränkung auf die Abbildung und Erklärung von Realität (i.S.v. Raum des unter standardisierten Bedingungen wiederholbar Nachweis- und Messbaren) begrenzt ist, während darüber weit hinaus geht, was die Geisteswissenschaftler als "Welt" bezeichnen.
Nützlichkeitskalküle waren schon jeher Feinde jeder freien Entfaltung von Wissenschaft, und eine Philosophie, die ihre Erkenntnisse durch ein Sieb naturwissenschaftlicher Maßstäbe gewinnt und deren Wert an der Herunterbrechbarkeit ihrer Ergebnisse auf eine naturwissenschaftlich definierte Realität bemessen wird, läuft auf eine Endlosschleife hinaus, weil nichts anderes als Systemkonformes entstehen kann und bestehen bleibt. Sie hört dann auch auf, Philosophie im Sinne von Meta-Wissenschaft zu sein und bringt über kurz oder lang so wenig neues, wie es jene bemängelt haben, die aus empfundenem Mangel an Fortschritt den positivistischen Weg eingeschlagen haben.

Letztlich könnte man auch den Eindruck gewinnen, daß die Naturwissenschaften mit ihrem Konzept an Grenzen stoßen, zumindest bei der Erklärung unseres Universums: Der Urknall ist mathematisch nicht darstellbar, dennoch logisch zu fordern, und bestimmte Phänomene wie die Hintergrundstrahlung können als seine Folgen gedeutet werden.

Der Anspruch auf Eindeutigkeit und Korrektheit ist von einer sich als frei wahr- und ernst nehmenden Philosophie sicher nicht zu erheben, zumindest nicht im naturwissenschaftlichen Sinne, Eindeutigkeit des Ausdrucks und logische Stringenz im Rahmen ihrer eigenen Systematiken können jedoch von außen gefordert werden, tragen zumindest zu Verständnis und Breitenwirkung bei.
Daß eine sich auf etwas beziehende Philosophie dieses richtig verstehen und sinnecht verarbeiten sollte, ist sicher so - wobei dies auch von anderen Verarbeitern naturwissenschaftlicher Erkenntnisse zu fordern ist, denen das meistens durchgehen gelassen wird.
Es ist schon bezeichnend, wie klaglos akzeptiert wird, wie Wirtschaftswissenschaften und Politik biologische Erkenntnisse aus ihrem Kontext reißen und verbiegen und damit ihren Vertretern und Anwendern dienliche pseudowissenschaftlich verbrämte Aussagen liefern.

Wie du im nächsten Absatz schreibst, ist es dann eben oft auch ein Problem, dass die Naturwissenschaften inzwischen einfach zu viele Erkenntnisse produziert haben, die die Philosophie berücksichtigen müsste, als dass diese sie noch alle handhaben könnte. Ein Problem ist hier sicher, dass zwar problemlos 5000 Physiker an einem Teilchenbeschleuniger kooperieren können, aber schon die Idee, dass sich 2 Philosophen die Arbeit an einer Theorie teilen, eher absurd ist. Die Erkenntnistiefe der Menschheit hat inzwischen ein Ausmaß erreicht, dass es für Individuen nicht mehr möglich ist, sie zu überblicken - sich damit auseinanderzusetzen, wird die Philosophie es schwer haben. Dennoch kann man eine gewisse Einarbeitung erwarten, Modelle, die elementaren Erkenntnissen der Physik oder Biologie widersprechen, sollte kein Philosoph mehr von sich geben, der etwas auf sich hält.

Ja. Ja.
Und Njein.
Menschliche Gesellschaften gehorchen teilweise eigenen Gesetzen, die zumindest IMHO nicht durchgängig mit naturwissenschaftlichen Gesetzen konform gehen.
Natürlich muss aber der Wechsel von Geltungsbereichen deutlich gemacht werden, und daran fehlt es sicher.
Allerdings sei auch angemerkt, daß einige der Erkenntnisse der Hirnforschung der letzten Jahre so schnell aufeinander gefolgt sind, zugleich die Öffentlichkeit auch gleich von den Philosophen wissen wollte, was dies nun für den Menschen bedeute, daß diese kaum anders konnten als sie so bruchstückartig zu rezipieren, wie sie ihnen von den selbst das Ganze nicht mehr sehenden Forschern dargeboten wurden.
Auch die Mediokratie trägt hier zur Mediokrität bei...

Zitat von Maurice:Das sehe ich auch als Problem. Die Frage ist jetzt: Wenn Philosophie eine Wissenschaft ist oder zumindest sein könnte, währe sie dann eine empirische Wissenschaft oder eine Formalwissenschaft?

Wo sie empirisch zu Erkenntnissen gelangen könnte, wäre sie empirisch, wo sie sich formalen Zwängen unterwerfen würde, wäre sie IMHO recht wenig lebendig.

Ich denke dabei an eine Art empirische Begriffsforschung. Wenn der Philosoph nicht einfach definieren will, was z.B. "Liebe" bedeuten soll, sondern rekonstruieren will, was wir eigentlich meinen, wenn wir dieses Wort benutzen, dann wäre doch eigentlich die beste Methodik, empirische Studien zu betreiben, die aufzeigen, wie wir das Wort "Liebe" benutzen. So würde empirisch systematisch gezeigt werden, was "Liebe" bedeutet - denn die Bedeutung eines Wortes wird durch ihren Gebrauch bestimmt.
Bleibt die Frage, ob man diese Methode konsequent durchziehen könnte oder ob die Empirie dann doch auf Grenzen stößt, die nicht bloß reine Glaubenssätze sind. Auf jeden Fall würde sich der Kompetenzbereich der Philosophie damit immer weiter verringern...

Es würde bei solchen Studien nicht mehr herauskommen, als wir eh schon wissen - es gibt so viele Arten, zu lieben und den Liebesbegriff anzuwenden, wie es Liebende gibt.

Ich denke, die Philosophie ist eine Wissenschaft des Nach-denkens, und so hätte sie IMHO gut zu tun damit, die Wege der anderen Wissenschaften, zu Erkenntnissen zu gelangen, und deren Erkenntnisse selbst zu beleuchten.

Traitor
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Di 4. Dez 2007, 05:52 - Beitrag #25

@Padreic: Kann es sein, dass du mit dem Zitieren durcheinandergekommen bist und sich der erste Abschnitt auf das Zitat bezog, der zweite aber auf etwas anderes?
Dabei würde ich zum ersten Abschnitt nicht sagen, dass die Philosophie sich heute noch wirklich mit dem Ding Mensch beschäftigt, sondern meist entweder mit einem abstrakten Konzept der Menschlichkeit oder auf der Metaebene damit, was andere Disziplinen über den Menschen beizutragen haben. Zum zweiten kann ich dagegen durchaus zustimmen.

@Maurice:
Wobei man hier kritisch anmerken muss, dass auch der gute Wissenschaftler - letztlich von skeptischen Überlegungen von Philosophen angeregt - nicht mehr an das absolut sichere und für alle Zeit unzweifelbar bewiesene Wissen glaubt.
An absolute Sicherheit und Unzweifelbarkeit sicher nicht. Allerdings gibt es zumindest in der Physik (und vermutlich stärker noch in der Mathematik, etwas schwächer in der Chemie) eine recht große Zuversicht, zumindest keine wesentlichen Fehler mehr im aktuellen Theoriengebäude zu haben und dies in der Zukunft höchstens noch zu verallgemeinern und auszubauen. In der Physik wird zwar gerne angeführt, dass man das um 1900 schonmal glaubte, wirklich vergleichbar ist die Situation aber methodisch nicht, sodass diese Hoffnung durchaus tragfähig sein könnte.
Dein Gedankenspiel zur empirischen Begriffsphilosophie ist interessant, hat aber IMHO Potential nur zur Absplitterung eines weiteren Teilbereiches, nicht zur Empirisierung der gesamten Philosophie, da der Standpunkt "man muss nur die Wörter richtig definieren" letztlich eher eine Aufgabe des echten Philosophierens ist. Die Mathematik ist mit ihren Definitionen ja auch noch lange nicht fertig, sondern fängt dann erst richtig an. Dass die Philosophie nicht trivial und mit Definitionen erledigbar ist, sollte recht offensichtlich sein.

@Ipsi: Dass dies nicht an der Unfähigkeit der Geisteswissenschaftler liegt (nunja, mancher schon ;)) sondern an den methodisch schwerer zugänglichen Themen, erwähnte ich ja selbst schon.

@Jan:
Letztlich könnte man auch den Eindruck gewinnen, daß die Naturwissenschaften mit ihrem Konzept an Grenzen stoßen, zumindest bei der Erklärung unseres Universums: Der Urknall ist mathematisch nicht darstellbar, dennoch logisch zu fordern, und bestimmte Phänomene wie die Hintergrundstrahlung können als seine Folgen gedeutet werden.
Das ist leider sachlich falsch. Der Urknall ist mathematisch wunderbar darstellbar, nur hält man Singularitäten für unphysikalisch, also die bisher gemessene Welt nicht sinnvoll beschreibend.
Was du sagen willst, ist aber klar. Leider kann die Philosophie über die Grenzen der Naturwissenschaft hinaus ebenso nichts und wieder nichts erklären. Sie kann Spekulationen abgeben, aber diese bleiben letztlich vollkommen irrelevant für die reale (wahrgenommene) Welt. Eine Überlegenheit oder größere Reichweite der Philosophie liegt hier also nicht vor.

janw
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Di 4. Dez 2007, 23:20 - Beitrag #26

Zitat von Traitor:Das ist leider sachlich falsch. Der Urknall ist mathematisch wunderbar darstellbar, nur hält man Singularitäten für unphysikalisch, also die bisher gemessene Welt nicht sinnvoll beschreibend.

Ich hab hier einen Film über Hawking, in dem einer seiner Kollegen sagt, daß die Singularität am Beginn des Urknalls mathematisch nicht darstellbar sei und ein anderer, daß im Zeitpunkt des Urknalls die Naturgesetze ihr Gültigkeit verlören. Als Ausweg wird dann die "Imaginäre Zeit" vorgestellt.

Letztlich ist aber, wenn man nicht mit der Imaginären Zeit argumentieren will, nach meinem Verständnis die Singularität logisch unverzichtbar, ist also ein Teil der Logischen Welt, die in diesem Punkt über die naturwissenschaftliche Welt hinausgreift, womit der Anspruch der Naturwissenschaft auf Welterklärung an eine Grenze stößt.

Leider kann die Philosophie über die Grenzen der Naturwissenschaft hinaus ebenso nichts und wieder nichts erklären. Sie kann Spekulationen abgeben, aber diese bleiben letztlich vollkommen irrelevant für die reale (wahrgenommene) Welt. Eine Überlegenheit oder größere Reichweite der Philosophie liegt hier also nicht vor.

Von einer Überlegenheit würde ich auch nicht sprechen, aber dadurch, daß die Philosophie auch die anderen Geisteswissenschaften betrachtet und mit diesen wechselwirkt, liefert sie doch weitergehende Äußerungen über den Wahrnehmungsraum der Menschen, als die Naturwissenschaft dies intendiert oder kann - eben über die historischen, kulturellen und sozialen Aspekte des menschlichen Seins. Ob man diesen Äußerungen nun Aussagewert analog zu einer naturwissenschaftlichen Erkenntnis zumisst, oder sie als Spekulation abtut, ist denke ich eine Frage, die im Einzelfall zu diskutieren ist - anhand von Kriterien wie logischer Stringenz, erfahrungsmäßiger Nachvollziehbarkeit u.ä.

Maurice
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Mi 5. Dez 2007, 10:20 - Beitrag #27

Ich hab hier einen Film über Hawking

Von wann ist der Film? (Immerhin gibt es auch in der Mathematik sowas wie "Erkenntnisgewinn", selbst wenn sie iirc "nur" eine Formalwissenschaft ist.)

nach meinem Verständnis die Singularität logisch unverzichtbar

Ich kenne mich leider mit Physik nicht aus (dafür fehlt mir allein das mathematische Talent), aber wird nicht momentan versucht mit irgendwelchen Theorien auf Quantentheorie, das Problem der Singularität zu umgehen? Glaube mich daran zu erinnern, mal was diesbezüglich gelesen zu haben.
Und wenn ich von der rein physikalischen Ebene absehe, zu der ich e nichts qualifiziertes sagen kann, ist mir eine Idee in Richtung von Ipsis "potentiellen Nichts" auch symphatischer als das einer Anfangssingularität. Ein solches "Nichts" (imo im eigentlichen philosophischen Sinn ein Unding) wäre dann auch eine Erklärungsebene die vor der Anfangssingularität wäre und darüber hinaus noch das ein oder andere Problem lösen könnte... wenn gleich mit dem Preis, dass die Welt in ihrer theoretischen Erklärung immer unvollstellbarer wäre - aber da ist die Physik, wie es mir scheint, e schon seit langen, also was solls. ^^

@Jan: erfahrungsmäßiger Nachvollziehbarkeit = empirische Prüfbarkeit?

Damit wir vielleicht nicht ganz in eine naturwissenschaftliche Diskussion abgleiten:
Versuchen wir uns mal ansatzweise vorzustellen, was wäre, wenn alle möglichen Einzelwissenschaften optimal ausgebaut wären - was würde für die Philosophie bleiben?
Meine Vermutung nach den bisherigen Kommentare: Inhaltliche Sprachkritik und kritische Reflektion über die empirisch nicht prüfbaren Voraussetzungen bestimmter Theorien. Wobei ich mir gleich wieder die Frage stelle, ob das nicht letztlich dasselbe ist... wegfallen würden auf jeden Fall alle synthetischen Urteile, da diese dann vollständig in den Einzelwissenschaften aufgehoben wären. Oder fallen jemanden empirische Fragen ein, die prinzipell letztlich weder Alltagsfragen ("Kommt der Bus heute pünktlich?") noch noch wissenschaftliche Fragen können?

janw
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Mi 5. Dez 2007, 19:15 - Beitrag #28

Maurice, der Film heißt "Eine kurze Geschichte der Zeit" und ist von

Ich vermute mal, daß sich in der Frage seit dem nichts fundamentales geändert hat.

Mit der logischen Erfordernis meinte ich, daß unsere Welt mit Hilfe der Naturwissenschaften ziemlich lückenlos erklärt werden kann, für bestimmte Fälle gelten abweichende Bedingungen -> Quanteneffekte und gut.
Daß das ganze aber in Richtung Anfang plötzlich abbricht, der Anfang des Universums im Nebel des wissenschaftlichen "Landes Außerhalb" sich befindet, obwohl es diesen Anfang gegeben haben muss, finde ich bemerkenswert.
Die Sache mit der Imaginären Zeit ist natürlich ein Erklärungsmodell, wobei es für mich aber etwas konstruiert erscheint...fast, als müsse man dran glauben oder es lassen.

Zitat von Maurice:@Jan: erfahrungsmäßiger Nachvollziehbarkeit = empirische Prüfbarkeit?

Wenn mir jemand erzählt, daß eine geschlossene Einrichtung wie ein Gefängnis eine Gerüchteküche ist, dann kann ich, wenn ich einigermaßen erlebt habe, wie sich z.B. Gerüchte in einem Dorf ausbreiten, diese Aussage für wahr nehmen, weil sie dem erfahrungsgemäßen Verhalten von Menschen in relativ abgeschlossenen Gruppen entspricht. Sicher kann man diese Aussage empirisch prüfen, indem man ein Gerücht in die Welt setzt und irgendwann durch eine Umfrage seine Verbreitung misst.
Schwieriger wird es mit der Messbarkeit bei großräumigeren Phänomenen wie der Empfindung "sozialer Kälte" oder materieller Unsicherheit in größeren Gesellschaften, weil diese vielleicht nur bestimmte, aber quantitativ oder als Multiplikatoren relevante Teilbereiche der Gesellschaft betreffen und zeitlichen Schwankungen unterliegen.
Trotzdem gibt es diese verbreiteten Empfindungen, und sie schlagen sich konkret nieder, z.B. in Kaufverhalten.
Soziologie kann nun die dem zugrunde liegenden Prozesse untersuchen und beschreiben, Philosophie zu Erwägungen kommen, die aus diesen Prozessen auf Eigenschaften des Menschen schließen, vielleicht auf so etwas wie eine conditio humana.

Maurice
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Do 6. Dez 2007, 12:03 - Beitrag #29

Soziologie kann nun die dem zugrunde liegenden Prozesse untersuchen und beschreiben, Philosophie zu Erwägungen kommen, die aus diesen Prozessen auf Eigenschaften des Menschen schließen, vielleicht auf so etwas wie eine conditio humana.

Warum sollte die Philosophie auf Grund der empririschen Untersuchungen Theorien über die menschliche Natur aufstellen? Das ist doch mittlerweile Sache der Human- und Sozialwissenschaften. Zumindest in meinen Augen, da ein zu den synthetischen Urteilen gehörender Bereich von systematischen Wissenschaften behandelt wird und demnach nicht mehr Teil der Philosophie sein kann - zumindest wenn man sie in etwa so beschreibt, dass sie sich mit Sprachanalyse, Sprachkritik und insofern mit synthetischen Urteilen beschäftigt, die eben noch nicht durch Einzelwissenschaften behandelt werden. Es stellt sich ja auch keiner mehr hin und behauptet, er möchte jett als Naturphilosoph herausbekommen, wie sich Fliegen vermehren (wie es in der Antike und im Mittelalter noch der Fall war) - das ist heute Sache der Biologen.

janw
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Di 11. Dez 2007, 01:21 - Beitrag #30

Maurice, da liegt ja gerade der Hase im Pfeffer^^

Philosophie war bisher immer die Wissenschaft ohne eingeschränkten Betrachtungsbereich, Meta-Wissenschaft, Wissenschaft von der Natur der Dinge und natürlich auch und besonders der Menschen als nach Erkenntnis strebenden Wesen.
Sicher haben die Natur- und Sozialwissenschaften viel Konkretes über die Dinge, vor allem die Konkreta, und den Menschen herausgefunden - ihnen deshalb aber die alleinige Deutungshoheit zu überlassen, wäre IMHO nicht nur gefährlich, sondern töricht, etwa wie diese berufsautobiographische Zeile aus einem Lied der Gruppe Ape, Beck und Brinkmann:
"Und wir überließen's dieser Schwachsinns-Industrie,
Liebeslieder zu singen, dabei konnten die das nie."
Am Ende kam doch ein Liebeslied dabei heraus, zum Beweis, daß Liebeslieder genauso eine Sache ehrlicher Rockmusik sein können müssen, wie Bereiche synthetischer Urteile ein Feld der Philosophie.

Maurice
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Di 11. Dez 2007, 14:47 - Beitrag #31

Dann zähl mal auf, welche Erkenntnisse über den Menschen prinzipell nicht von den empirischen Wissenschaften erlangt werden können, aber durch die Philosophie erreicht werden können.
Sobald neue relevante und noch nicht in den bisherigen Einzelwissenschaften vorhandenen Ansätze in der Philosophie eine größere Beachtung finden, werden diese über kurz oder lang in die Fragestellungen der bisherigen Einzelwissenschaften integriert oder von neuen Disziplinen übernommen. Welche synthetischen Urteile sollten sich denn prinzipell nicht durch eine wissenschaftliche Systematik behandeln lassen?
Klar alle analytischen Überlegungen zum Begriff des Menschen kann auf ewig von der Philosophie behandelt werden, aber das sind ja keine synthetischen Urteile. Wenn alle synthetischen Fragen vollständig von den Wissenschaften abgedeckt werden, bleibt für die Philosophie nur noch der analytische Bereich und die Aufgabe, ihre Überlegungen und die der Wissenschaften zusammen zu fassen.
Oder was sollte es da sonst noch geben?

janw
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Sa 15. Dez 2007, 03:04 - Beitrag #32

Zunächst einmal würde ich mich von dem "harten" Erkenntnisbegriff lösen, der sich implizit aus dem Vergleich mit den Naturwissenschaften ergibt - philosophische Erkenntnisse sind IMHO Erkenntnisse sui generis, eigener Art.

Man kann soziologisch und ethnologisch feststellen, daß allen menschlichen Gesellschaften moralische Wertsysteme eigen sind, man kann mit naturwissenschaftlichen Methoden nach denkbaren biologischen Grundlagen solcher Wertzuweisungen suchen, aber zu Aussagen über z.B. die Banalität des Bösen und die Bedeutung des Wertempfinden-Habens des Menschen für seine Stellung in der Welt und dessen Beitrag zum Mensch-Sein, zum Postulat einer conditio humana, kann nur die Philosophie kommen.
Hannah Arendt hat einiges Lesenswerte in dieser Richtung geschrieben, in meinen Augen auf Dauer Bedeutenderes und Bleibenderes als vieles von dem, was heute so aus analytischen Kreisen heraussickert.
Juristen können sich mit der Notwendigkeit von Normen und Sanktionen befassen und ihrer optimalen Ausgestaltung, was die von ihnen so gerne im Munde geführte "Gerechtigkeit" aber ist, kann nur auf philosophischem Wege eingekreist werden - Walter Benjamin hat sich damit befasst und Derrida sich mit Benjamins Arbeit auseinander gesetzt, in einem sehr lesenswerten Vortrag, der zugleich die Methode der Dekonstruktion sehr eindrucksvoll darlegt.
Ein Text, der IMHO eigentlich zur Pflichtlektüre im Jurastudium gehören müsste...
Nur ein paar Beispiele, die den Raum der Philosophischen Erkenntnis, wie ich ihn sehe, ein bisschen beschreiben sollen.

Maurice
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Sa 15. Dez 2007, 13:29 - Beitrag #33

@Erkenntnis: Ein Beispiel für die Unausweichlichkeit der Philosophie? Wir müssen erst klären, was mit "Erkenntnis" gemeint wird, um dann diskutieren zu können, wer diese alles generieren kann, bzw. wer für welche Fragen bessere Erkenntnisse produzieren kann. Aber das Unternehmen scheitert ja schon im ersten Schritt, sich auf einen Erkenntnisbegriff zu einigen. ^^*

was die von ihnen so gerne im Munde geführte "Gerechtigkeit" aber ist, kann nur auf philosophischem Wege eingekreist werden

Auch hier stellt sich mir wieder die kritische Frage: Wäre es auch hier wieder nicht denkbar, dass eine erst sprachanalytische formale Klärung des Begriffs "Gerechtigkeit" entweder das Ergebnis hervorbringt, dass diesem Begriff inhaltlich etwas in der Welt entsprechen kann und dieses dann empirisch (wahrscheinlich dann durch die Gesellschaftswissenschaften) beantwortet werden kann oder dass es eigentlich sinnlos (im Sinne von "realitätsinadequat") ist von "Gerechtigkeit" zu sprechen (was meine Ansicht ist).
Dann gibt es noch die Option "Gerechtigkeit" als ein metaphysisches Prinzip zu verstehen, das aber (im Gegensatz zur zweiten Option) irgendwie sinnvoll zu diskutieren sein wird. Das ginge dann aber nur mit in meinen Augen obskuren, nicht nachvollziehbaren Methoden...
Egal ob nun die erste oder zweite Option der Fall sein wird (die dritte ist imo nicht der Rede wert), sehe ich keinen Grund anzunehmen, warum so Personen wie Heidegger oder Arendt mit ihren schwammigen und nebulösen Formulierungen einen dauerhaft wertvollen Beitrag zu der Lösung der Frage beitragen könnten. (Zu Derrida sage ich mal nichts, weil ich iirc noch nichts von ihn gelesen habe.)

Du merkst also, ich bin etwas schwer von Begriff und konnte noch nicht nachvollziehen, was du mir vermitteln willst. ;)

janw
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Sa 15. Dez 2007, 23:53 - Beitrag #34

Maurice, schwer von Begriff, das sind wir doch alle irgendwann mal^^

Erkenntnis, wie ich sie verstehe, meint so etwas wie Einsicht, Einblick, Verstehen.
Ich kann mittels eines Mikroskops zur Erkenntnis gelangen, daß es Bakterien gibt, kann feststellen, daß es sich dabei auch um Lebewesen handelt und daß einige von ihnen Krankheiten auslösen und andere Milch zu leckerem Joghurt machen und viele andere vieles andere tun.
Das ist schlichtes Hinzufügen von Fakten zu einem Haufen bekannter Fakten.
Diese Fakten stellen aber darüber hinaus eine Erweiterung eines gedanklichen Raumes dar, den ich Weltbild nenne - ich gewinne die Einsicht, daß die Welt des Wirkenden sich nicht nur auf das direkt Wahrnehmbare beschränkt, sondern daß es jenseits des Auflösungsvermögens unserer Augen einen Mikrokosmos gibt, der es an Mannigfaltigkeit mit der bekannt vielfältigen Welt der Pflanzen und Tiere aufnehmen kann, ja, daß es diese Welt nicht gäbe ohne diesen Mikroskosmos, kaum Pflanzen, praktisch keine Tiere.
Ich gewinne auch die Einsicht, daß eine heftige Magenverstimmung oder eine durchaus möglicherweise tödlich endende rote Linie am Arm nicht die Folge eines mir ungnädigen Gottes sind, sondern schlichter Unvorsichtigkeit meinerseits.
Ich verstehe, daß alles, was da sichtbar lebt, ein Nichts ist vor dieser nicht sichtbaren Vielfalt - ich muss dazu nicht nach den Sternen schauen, auch wenn dieses Beispiel geläufiger ist.

Erkenntnis ist also das Gewinnen von Fakten, aber eben nicht nur - es ist eben auch das Verknüpfen dieser Fakten zu einem Bild von der Welt.

So gesehen sind die Erkenntnisse der Wissenschaften überwiegend solche, die sich bemessen lassen - die von einem Forscher dem Bekannten hinzugefügten Fakten können gezählt werden, ihr Anwendungswert kann bestimmt werden und daraus der "Marktwert" des Forschers, die wirtschaftliche Effizienz seines Instituts, gewissermaßen kann jemand sie kaufen, abgepackt in Tüten, die Einheit zu 11,23 Gold.
Die Erkenntnisse der Philosophie entsprechen eher der Erweiterung des gedanklichen Raumes, umfassen die eigenen Verknüpfungen der Fakten, der Produkte des maschinenbenutzenden Forschers, gewissermaßen zu Produkten des forschenden Geistes.

Sie sind damit zwangsläufig nicht so "hart" wie die Erkenntnisse der anderen Wissenschaften, nicht so scharf zu quantifizieren, vielleicht auch mit keinem Anwendungswert zu bemessen.
Aber sie sind deshalb nicht ohne Bedeutung, die Welt der Fakten ist eine unvollständige Welt.
Gerechtigkeit, um dabei zu bleiben, ist nicht vollständig durch die anderen Wissenschaften zu erfassen - die Untersuchung ihrer Begriffsetymologie, ihrer Begriffsverwendung durch die Zeiten und statistisch abgesicherte Befragungen zu ihrer aktuellen Bedeutung und Verwirklichtheit ergeben ein Bild, was sich wohl etwa hinter dem Begriffe verbirgt, aber die mit ihm verbundenen Fragen, wann Gerechtigkeit als umgesetzt zu gelten habe, was diese Setzung überhaupt bedeutete - nämlich einen Macht-Akt - und wie Gerechtigkeit überhaupt in dem Konzert der die Machtkategorie umkreisenden Begriffe darsteht, und was letztlich die Annahme der Existenz von Gerechtigkeit auf der Weltbild-Ebene bedeutet, das gehört in den Erkenntnisraum der Philosophie.

Zum Schluss noch eine kleine Spitze...was sind die Philosophen wert?
Forscher der anderen Wissenschaften können, wie gesagt, anhand des Anwendungswertes ihrer Erkenntnisse mit einem "Marktwert" bemessen werden, die allgegenwärtigen Rankings mit ihrer Focussierung auf die Zahl der Publikationen, Impact-Factor und Drittmittel-Quoten sind Beleg für diese Praxis.
So gesehen ist der Wert der Philosophen unermesslich...

Maurice
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So 16. Dez 2007, 16:59 - Beitrag #35

Sorry, aber der Funken ist immer noch nicht übergesprungen. ^^*
Nehmen wir mal ein (einigermaßen) konkretes Beispiel:
Ist es gerecht, Arbeitslosen die staatlichen Zuschüsse zu kürzen, wenn sie von den Behörden angebotene Jobs nicht annehmen?

Da es hier um eine Gerechtigkeitsfrage handelt, ist es eindeutig eine philosophische Frage. Mit welchen Methoden soll diese Frage nun behandelt werden, wenn nicht allein mit Sprachanalyse und dem Hinzuziehen von empirischen Daten (wobei diese nicht durch eine strenge Methodik gewonnen sein müssen)?

Ich selbst kann eine Antwort auf die obige Frage geben: Es ist davon auszugehen, dass es weder gerecht noch ungerecht ist, weil die Voraussetzungen, dass etwas gerecht oder ungerecht sein kann, nicht gegeben sind, bzw. selbst wenn diese gegeben wären, diese nicht nachzuweisen wären.

janw
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Mo 17. Dez 2007, 00:00 - Beitrag #36

Damit wischst Du mit einem Satz einen Begriff, eine Kategorie vom Tisch, die wie wenige Menschen bewegt hat, gar Motiv für Kriege und Revolutionen gewesen ist, um die sogar eines der wichtigsten nie geschriebenen Bücher kreist: "Die Gerechtigkeit des Lehrers unter besonderer Berücksichtigung der höheren Lehranstalt".
Du hast aber schon ganz richtig erkannt, daß Gerechtigkeit in den Bereich des "Metaphysischen" vermittelt - oder umgekehrt, daß wesentliche uns alle real betreffende Gegebenheiten, wie Gesetze und ihre Anwendung, im Metaphysischen wurzeln.
Hier stößt die analytische Philosophie endgültig an ihre Grenzen, bzw. erweist sich als die Nicht-Philosophie, die sie IMHO von anfang an gewesen ist.
Wobei, ein interessantes Phänomen, daß diese Richtung ursprünglich aus Deutschland kam. Vom Kategorischen Imperativ über die Dialektik und Nietzsches Relativismus zur Verneinung des Denkens jenseits des Rationalen...

Ich denke, ich werde hier morgen mal auf die philosophische Dimension eingehen, außerdem könnten Deine Fragen auch in einen thread über die richtige Farbwahl des Mondes passen.

Maurice
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Mo 17. Dez 2007, 13:54 - Beitrag #37

Da waren sie wieder unsere beiden Klassiker:
1. Die Metaphysikhasser gegen diejenigen, die Philosophie auf Metaphysik reduzieren.
2. Die Frage, ob es neben analytischen Urteilen a-priori und synthetischen Urteilen a-posteriori noch synthetische Urteile a-priori gibt.

Aber sowohl die analytischen Philosophen können die Frage nach der Gerechtigkeit positiv beantworten (ein Klassiker wäre da Rawls) - denen ich dann aber einwende, dass sie die metaphysische Komponente des Gerechtigkeitsbegriff ausklammern und vielleicht einen kohärenten Gerechtigkeitsbegriff konstruieren, aber nicht den vorliegenden Begriff ausreichend rekonstruieren. ^^

daß wesentliche uns alle real betreffende Gegebenheiten, wie Gesetze und ihre Anwendung, im Metaphysischen wurzeln

Sorry, aber ich kann absolut nicht nachvollziehen, wie du zu so einer Behauptung kommst. Ich kann prima über Gesetze reden, ohne metaphysisch zu werden. Gesetze sind in meinen Augen nämlich schriftlich fixierter Herrscherwille - dafür braucht es nicht mal ein Fünkchen Transzendenz.

Aber das Problem lässt sich letztlich mit einer Frage zusammenfassen: Wollen wir eine Philosophie, die sich um Klarheit, Kohärenz und Anwendbarkeit bemüht oder wollen wir mit nebulösen Schwärmereien ins Blaue irren?
Zeig mir an Hand eines Beispiels, was und wie eine Philosophie der zweiten Art mehr erklären kann, als eine der zweiten! Zeig mir, warum ich an Gott, Seele und Gerechtigkeit glauben muss, um die Welt zu verstehen.

henryN
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Mo 17. Dez 2007, 16:42 - Beitrag #38

Zitat von janw: und was letztlich die Annahme der Existenz von Gerechtigkeit auf der Weltbild-Ebene bedeutet, das gehört in den Erkenntnisraum der Philosophie


könnte mir vorstellen, dass eben dem nicht so ist. Ich würde eine Kombination aus allen Bereichen vorziehen. Man könnte behaupten, dass die Philosophie diese Funktion des übergeordneten erfüllt. Von mir kann ich jedenfalls nur behaupten, dass mir das Leben besser gelingt, wenn ich zunächst nur analysiere, warum der Kühlschrank leer ist, als mir die Frage zu stellen: "Ist das gerecht?"

Das ist sehr vereinfacht formuliert. Ich weiss, aber die Verlagerung eines Erkenntnis und Forschungsprozesses, auf eine Metaebene, aus Mangel an Informationen und Prozessesierungsmöglichkeiten eben jener, kann immer nur ein Zwischenschritt sein, quasi ein Lückenfüller im Weltbild. Die Komplexität des Weltbildes allerdings, wächst immer mit der Komplexität des Sehens, der Fähigkeit des Wahrnehmenden, Prozessgrößen, Fluktuationen und Gründe zu erkennen, Perspektivwechsel mit eingeschlosssen, welche wiederum aus der Fähigkeit erwachsen, über das eigene "Ich" hinaus, "simulierend" fragen zu können.

Ist Philosophie ein Informationsverarbeitungsalghorithmus? Kann eine Wissenschaft, die nach Antworten sucht, lebendig sein, lebendiges erklären, wo doch das Lebendige selbst ein stetiger Prozess ist?
Die einzige Antwort ist der Tod und das Einzige was als Wahrheit von einem lebenden stoffwechselnden System behauptet werden könnte. Alles andere sind Modelle, weniger Erkenntnis.

Z.b. die Frage nach dem Sein (oder nicht sein) wird möglicherweise die Neurobiologie beantworten wollen? Besser vielleicht wäre, die Erkenntnisse unserer Zeit ermöglichen es uns, diese Frage nicht mehr stellen zu müssen...... weil es keiner Antwort bedarf.

kleines Psychoexperiment:

A trifft auf B und fragt: Wo ist der Supermarkt? Die Antwort von B wird eine Frage sein: Was ist der Grund das A nicht weiss, was ich weiss? Will er vielleicht was ganz anderes? Hab ich etwas davon, dass ich diese Information weitergebe? Will ich Zeit für die Beantwortung dieser Frage investieren, habe ich sie? Wird der Andere meine Erklärung verstehen? .......

A trifft auf B und erzählt: Entschuldigung, ich bin auf der Suche nach einem Supermarkt.

B: 200 m geradeaus und dann rechts......... oder ich bin mir nicht sicher,......
oder ein Achselzucken...........


wie würde dieses Beispiel der Wechselwirkung von Kommunikation wiederum in der Philosophie klingen? Wenn A auf B trifft und fragt: "Was ist Gerechtigkeit?" ;)

Ist Philosophie möglicherweise auch nur ein selbstreferentielles System, dass sich nur durch ein spezielles Set von Fragen und Antworten speist, welche sich in Modellen äussern? Mit dem Anspruch generell zu sein, wie der Anspruch des Königs der Tierwelt, der sich daraus speist, dass er die längsten Haare hat? (;))

Maurice
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Mo 17. Dez 2007, 22:35 - Beitrag #39

Nochn Versuch...

Ich habe gerade nochmal heftig nachgegrübelt, wie man nun "Philosophie" zusammenfassen kann. Ich habe dabei versucht, die in diesem Thread geäußerte Kritik zu berücksichtigen, um eine möglichst allgemeine, aber trotzdem um Präzision bemühte Beschreibung zu finden. Hier jetzt also mein bis jetzt letzter Versuch:

Philosophie ist die Analyse, Kritik und Konstruktion von Denksystemen bzw. Weltanschauungen. Diese ist auf Grund ihrer Selbstreflexivität potentiell unendlich.

Findet sich da jeder drin wieder? Und ist die Beschreibung zugleich nicht zu allgemein, dass sie nicht Fragen wie "ziehe ich heute das weiße oder das schwarze Shirt an" mit einschließt?

Desweiteren habe ich mir überlegt, ob die obige Beschreibung auch "Speziell auch die Reflektion über den Einzelwissenschaften nicht zugänglichen grundlegende Fragestellungen" beinhaltet.

Als Fortschritt sehe ich in der obigen Beschreibung, dass sie keine methodischen Vorgaben macht, sondern nur die besondere Art des Nachdenkens das wir als "philosophisch" bezeichnen, zu beschreiben versucht.
Sehen das die anderen auch so?

Padreic
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Di 18. Dez 2007, 22:42 - Beitrag #40

@Maurice:
Aber das Problem lässt sich letztlich mit einer Frage zusammenfassen: Wollen wir eine Philosophie, die sich um Klarheit, Kohärenz und Anwendbarkeit bemüht oder wollen wir mit nebulösen Schwärmereien ins Blaue irren?
Zeig mir an Hand eines Beispiels, was und wie eine Philosophie der zweiten Art mehr erklären kann, als eine der zweiten! Zeig mir, warum ich an Gott, Seele und Gerechtigkeit glauben muss, um die Welt zu verstehen.

Ein bisschen was wirfst du da schon durcheinander, oder? Ist deine Trennlinie jetzt zwischen Naturalismus und der Annahme von nicht-naturalistischen Elementen oder zwischen einer sprachanalytisch orientierten Philosophie und Existentialismus und co? Heidegger z. B. spricht nie (höchstens vielleicht mal im Spätwerk) von Seele, Gott oder Gerechtigkeit.
Sprachanalytische Orientierung und Naturalismus haben aber erstmal nichts miteinander zu tun, obwohl es natürlich bei den Vertretern größere Schnittmengen gibt.

Wenn du jemanden wie Heidegger als "nebulösen Schwärmer" bezeichnest, dann würde ich sagen, dass du ihn schlichtweg nicht verstanden hast. Du kannst sagen, dass du seine Ausdrucksweise nicht klar genug findest, oder seinen Ansatz, Philosophie zu betreiben, fundamental falsch findest, aber ein Schwärmer ist er nicht.

Zum Thema Anwendbarkeit: ich habe mittlerweile mich auch ein wenig mit analytischer Philosophie beschäftigt, mit Kripke, Putnam&co. Einiges davon hat mir gut gefallen. Aber ich würde sagen, dass mir Platon, Kierkegaard und Heidegger mehr über mein Leben oder auch das der Gesellschaft erzählt haben....es mag auch an den konkreten Texten legen, aber dass gerade z. B. die Existenzphilosophie nicht anwendbar ist, ist Unfug, da sie uns doch gerade konkrete in unserem Leben tief anspricht.


Auch hier stellt sich mir wieder die kritische Frage: Wäre es auch hier wieder nicht denkbar, dass eine erst sprachanalytische formale Klärung des Begriffs "Gerechtigkeit" entweder das Ergebnis hervorbringt, dass diesem Begriff inhaltlich etwas in der Welt entsprechen kann und dieses dann empirisch (wahrscheinlich dann durch die Gesellschaftswissenschaften) beantwortet werden kann oder dass es eigentlich sinnlos (im Sinne von "realitätsinadequat") ist von "Gerechtigkeit" zu sprechen (was meine Ansicht ist).

Wie soll eine Sprachanalyse ergeben, dass es einem Begriff von Gerechtigkeit nichts in der Welt entsprechen kann? Das dürfte aus offensichtlichen Gründen nicht möglich sein oder du verstehst was anderes unter Sprachanalyse oder Welt...

Zeig mir, warum ich an Gott, Seele und Gerechtigkeit glauben muss, um die Welt zu verstehen.

Sie sind (u.a.) Teilantworten auf die Fragen:
Woher kommt die Welt?
Wer/was bin ich?
Was soll ich tun?

Ich kenne auf keine dieser Fragen eine wirklich plausible/befriedigende Antwort. Auf die letzte mag ich als Antwort noch "Sollen macht eigentlich keinen Sinn." akzeptieren. Auf die erste Frage mag ich noch halbwegs irgendeine Urknallerklärung akzeptieren, obwohl sie auch ihre Probleme machen. Aber auf das zweite, insbesondere auf das Geist-Körper-Problem, kenne ich keine wirklich plausible Erklärung.

Sorry, aber ich kann absolut nicht nachvollziehen, wie du zu so einer Behauptung kommst. Ich kann prima über Gesetze reden, ohne metaphysisch zu werden. Gesetze sind in meinen Augen nämlich schriftlich fixierter Herrscherwille - dafür braucht es nicht mal ein Fünkchen Transzendenz.

Ich weiß nicht genau, wie janw Metaphysik verwendet, wenn man ihn aber, so wie ich, ungefähr als Synonym zu Ontologie verwendet, dann ist ein Zusammenhang zur Metaphysik klar: schon allein die Frage, was eigentlich ein Wille ist. Wenn man Wille nicht gerade als bestimmte Neuronenkonstellationen definieren will, ist man auch nicht weit von einer nicht-rein-naturalistischen "Lösung" entfernt...

Philosophie ist die Analyse, Kritik und Konstruktion von Denksystemen bzw. Weltanschauungen. Diese ist auf Grund ihrer Selbstreflexivität potentiell unendlich.

Ja, das ist zu allgemein. Da gehören z. B. alle Naturwissenschaften dazu. Es ist, glaub ich, nicht sehr vielversprechend, zu versuchen, sich auf eine Definition zu einigen.

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