Betreuung oder was?

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Fr 29. Feb 2008, 14:19 - Beitrag #1

Betreuung oder was?


Willkür der deutschen Betreuungsmaschinerie

Susanne Härpfer 29.02.2008

Alles reine Formsache. Denunziation genügt. Jeder kann jeden beim Gericht als angeblichen Betreuungsfall anzeigen.

Missliebige Nachbarn, mobbende Arbeitskollegen, Krankenhauspersonal, Verwandte, die an eine Erbschaft wollen, die Bank, bei der man sein Girokonto überzogen hat, oder schlicht der Briefträger – sie alle können beim Amtsgericht "anregen", jemanden unter Betreuung stellen. Treffen kann es jeden. Wer dann nicht sofort einen kundigen Anwalt findet und einschaltet, kann zwangsbetreut werden. Ein Betreuer kann dann sämtliche Entscheidungen treffen. Er kann entscheiden, dass Sie nicht mehr über Geld verfügen dürfen, nicht mehr telefonieren, nicht mehr Ihre Post entgegen nehmen dürfen. Sie können alles verlieren: Ihr Haus, Ihre Familie, Ihr Leben. Klingt nach einem Horrorfilm? Nach Hollywood? Oder Kafkas Roman "Der Prozeß"? Kaum zu glauben, aber juristisch ist all dies möglich. Mitten in Deutschland. Zu jeder Zeit. Denn die juristische Struktur macht dies möglich.

...

"Betreten Sie nie ein Krankenhaus ohne Ihren Anwalt." Dies ist kein Satz aus Dallas, sondern der Ratschlag, den der Jurist Alexander Paetow jedem gibt. Eindringlich warnt er: "Sprechen Sie nicht mit Psychiatern. Sagen Sie nichts ohne einen Anwalt. Ihre Gutgläubigkeit wird nur ausgenutzt. Alles kann gegen Sie verwendet werden." Diese Regeln sind keine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für Rechtskundige, sondern können den Unterschied bedeuten zwischen einem freien Leben und einem Leben ohne Menschenrechte, und das mitten in Deutschland. Denn jeden kann es treffen, jeder kann in Deutschland unter sogenannte Betreuung gestellt werden. Jeder.


Stefan F. (Name der Redaktion bekannt) hat es erlebt. Der Teeladenbesitzer kam in ein Krankenhaus. Er hatte einen Schlaganfall. Den überlebte er, doch was dann folgte, brachte ihn beinahe um seine Existenz. Während seines Krankenhausaufenthalts gab es niemanden, der sich hätte um sein Geschäft kümmern können. Ein Laden, der geschlossen bleibt, weil der Besitzer im Hospital liegt, hat keine Einnahmen. Aber laufende Kosten. Tag für Tag. Woche für Woche.

Stefan F. hatte Glück. Er machte eine Reha, erholte sich wieder. Eifrig wollte er sich wieder um sein Geschäft kümmern. Doch da war das Krankenhaus vor. Es hatte über das Amtsgericht eine sogenannte Betreuung beantragt – und genehmigt bekommen. Früher hieß Betreuung noch Entmündigung. Heute klingt die Entrechtung von Menschen harmlos, halt nach "Betreuung", ist es aber nicht. Der Betreuer ruinierte Stefan F.´s Leben. Statt alles zu tun, um die verlorene Zeit und damit Einnahmen wieder reinzuholen, schrieb der "Betreuer" Lieferanten an und warnte sie, Stefan F. stünde unter Betreuung, könne seine Geschäfte nicht mehr wahrnehmen und sei quasi insolvent. Ein Todesurteil für jeden Selbständigen.

Stefan F. begann einen verzweifelten Kampf. Er schaltete einen Anwalt ein, auch wenn dies seine Schulden vergrößerte, und er informierte das bayrische Fernsehen. Nur so gelang es ihm, vor kurzem den Betreuer wieder loszuwerden. Ach ja, und den Teeladen, den hat er retten können.

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Was Stefan F. erlebte, ist kein Einzelfall, weiß Prof. Volker Thieler aus Erfahrung. Der Münchner Anwalt kämpft seit Jahren gegen Betreuungen. "Der Mensch verliert im Betreuungsrecht seine Menschenwürde", kritisiert er. "Im Betreuungsrecht ist der Schutz der Familie außer Kraft gesetzt. Der Richter kann machen, was er will", warnt Thieler.

Der Richter kann behaupten, die Angehörigen seien zu weit weg, es ginge ihnen nur um´s Geld, sie seien zu alt, oder er schiebt ihnen Alkoholismus unter. Noch nicht einmal der Ehepartner erfährt etwas, er hat kein Recht, die Akten einzusehen. Irgendeinen Grund gibt es immer.

Thieler schildert die Willkür, die es gibt, mitten in Deutschland. Er prangert den juristischen Missstand an:

Es ist sehr schwierig, das anzufechten. Die Macht ist unglaublich. Ein Betreuer kann sämtliche Entscheidungen treffen. Er kann entscheiden, dass der Betreute nicht mehr telefonieren kann, nicht mehr Post entgegen nehmen darf, nicht mehr aus dem Haus gehen, dass er seine Wohnung verliert, er kann ihn in geschlossene Anstalten einweisen. Sogenannte Betreuung ist in Wahrheit ein enormer Eingriff in die Menschenrechte. Der Betreute verliert eigentlich sämtliche Rechte.
Prof. Volker Thieler

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Seit 1995 ist die Zahl der Betreuungen von 624.695 auf 1.198.373 im Jahr 2005 angestiegen, heißt es in einer Erhebung des Bundesjustizministeriums aus dem vergangenen Jahr.

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Schließen Sie eine Vorsorgevollmacht ab, und zwar eine, die sofort wirksam ist. Legen Sie darin genau fest, was Sie wollen, und was nicht, welche Behandlung Sie akzeptieren und welche nicht; vor allem aber, wer in Ihrem Namen handeln darf. Wer glaubt, der Ehepartner würde automatisch die Vollmacht haben, der irrt. Im Gegenteil: Es kann passieren, dass ein Amtsgericht den Ehepartner einfach ausschließt. Ich kenne Fälle, da sehen sich Eheleute im Leben nie wieder, weil die sogenannten Betreuer die Frau in eine Klinik haben einweisen ließen und dann ihrem Mann Besuchsverbot erteilten.

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der vollständige Artikel findet sich bei
http://www.heise.de/tp/r4/artikel/27/27399/1.html

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Fr 29. Feb 2008, 17:31 - Beitrag #2

Unhübsch. Wäre etwa ein gutes Mittel, politische Gegner kaltzustellen, wenn man sich mit den entsprechenden Richtern gutstellt...

Das dahinterstehende Problem ist allerdings auch die ethische Frage, ob man unbegrenzt zulassen will/darf, daß sich ein anderer selbst zugrunderichtet. Denn die Unterscheidung zwischen freiem und natürlichem freien Willen halte ich grundsätzlich nicht für falsch. Viele tatsächlich Kranke werden sich gegen die Einschränkung ihrer Freiheiten zur Wehr setzen; wenn man aber jede Willenserklärung als unbedingt verbindlich wahrnimmt und einen tatsächlich hilf- aber nicht willenlosen Kranken entläßt, bedeutet das für den entlassenden Arzt u.U. einen Verstoß gegen die Prinzipien seines Standes.

Offenbar müssen also die Hürden erhöht und stärkere Überprüfungen durchgeführt werden. - Das fröhliche Denunziantentum gibt es ja nicht nur in diesem Bereich, sondern auch im Rechts- und Sozialwesen, aber nicht nur dort sichert es auch, so häßlich es ist, das Funktionieren unserer Gesellschaft. Es ist mir doch deutlich lieber, daß man einen Einbruch selbst melden und anzeigen darf, als daß man abwarten müßte, bis ein vorbeikommender Polizist das eingeschlagene Fenster bemerkt. Ähnlich wird die psychische Erkrankung und Hilflosigkeit eines Menschen wohl am ehesten von Verwandten oder Nachbarn bemerkt.

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Mo 3. Mär 2008, 10:19 - Beitrag #3

es dürfte vor allem keine Standardvermutung der Art geben, dass ein "Hinweis" auf "Betreuungs"notwendigkeit auf angemessenen Erkenntnissen beruht - die Standarduntersuchung müßte von Amts wegen erst in die Richtung gehen, den Leidtragenden von dem "Hinweis" zu entlasten. Und es müßte ein Gremium voneinander unabhängiger Personen sein, welche das Urteil darüber fällt. Bei weitem noch nicht optimal, aber ein Schritt in die richtige Richtung.

/edit, habe den Artikel mal einer Bekannten gezeigt, die "zufällig" von Beruf Richterin ist. Ihrer Ansicht nach operiert der Artikel an der Faktenlage vorbei, indem er einige wenige Negativbeispiele aufbauscht

Lykurg
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Di 4. Mär 2008, 00:47 - Beitrag #4

Den Eindruck hatte ich auch; allerdings entsprach das zu sehr meiner generellen Einschätzung einer gewissen Neigung von telepolis, um in diesem Fall gesondert darauf bezugzunehmen... ;)

Daß es die Einzelfälle gibt, ist schlimm genug; und da die 'andere Seite' ja auch unbeirrt Kampagnen anzettelt, ist an der Praxis nicht viel Verwerfliches.

janw
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Di 4. Mär 2008, 03:28 - Beitrag #5

Ich denke, der Artikel ist von seinem Duktus sicher übertrieben, nach meiner Erfahrung im weiteren Familienkreis gibt es aber bei Vorhandensein hinreichend durchtriebener Angehöriger oder sonstig Interessierter durchaus ein Risiko der fälschlichen Betreuungsanordnung, vor allem aber in der Praxis der Betreuung.
Die Probleme liegen zunächst im natürlichen Spannungsfeld zwischen dem angemessenen Umgang mit den als zu betreuend eingestuften Menschen samt ihrer oft schwankenden Symptomatik und der praktisch immer anzunehmenden Gefahr von Interessenkollisionen beim Betreuer sowie IMHO in den drei Bereichen Begutachtung des zu Betreuenden, gerichtliche Verwaltung der Betreuungssache und Auswahl des Betreuers, außerdem in der kritischen Begleitung des Betreuungsverhältnisses.

Bei dem von mir beobachteten Fall im Familienkreis handelt es sich um eine alte Frau mit zunehmender Altersdemenz. Sie wurde zunächst aus der Familie heraus wo nötig unterstützt, an einem Punkt war aber doch eine Betreuung erforderlich, nachdem sich zunehmende Orientierungsprobleme mit Gefahr für die Dame einstellten. Das Problem war dann, daß die Dame in ein familiäres Unternehmen verstrickt war, zumindest anfangs aber immer wieder durchaus zurechnungsfähige Phasen hatte, in denen sie auch darauf bestand, Rechtsgeschäfte tätigen zu können.
Es gab also deutliche Interessenlagen in der sie betreuenden Familie daran, wie die Dame in ihren "klaren Phasen" ihr Ende zu regeln gedachte, andererseits war es von der Betreuung her notwendig, ihr in den "klaren" Phasen ihren Willen zu ermöglichen und in den dementen Phasen engagiert einzugreifen.
Die innerfamiliären Interessendifferenzen entzündeten sich immer wieder an der Frage, wie die in den "klaren" Phasen getätigten Rechtsgeschäfte zu werten seien; sie wurden letztlich auf den Richter abgewälzt, und letztlich führten die Differenzen zu einer Spaltung in der Familie.

Letztlich hat der Richter in diesem Falle sich der Problemabwälzung dadurch erwehrt, daß er wechselweise der einen und der anderen Seite Recht gab, was zu einigen seltsamen Erscheinungen führte.
Ich denke aber, daß es durchaus Fälle gibt, in denen Richter aus Überlastung den betreuenden Familien den Ball zurück geben, was noch mehr zu lasten der Betreuten ausgehen dürfte.
Ich denke, daß im Bereich der Begleitung des Betreuungsverhältnisses, d.h. auch in der Erkundung von Interessenlagen der Betreuer und des Willens der Betreuten vieles verbessert werden müsste, gleiches gilt für die Begutachtung der Betreuten.
IMHO müsste auch die Macht der Betreuer insofern eingeschränkt werden, daß sie nicht wie jetzt möglich Betreute spontan aus ihrer gewohnten Umgebung in weit entfernte Heime verfrachten oder gegen die Außenwelt abschotten dürfen, daß zumindest andere nahe Angehörige oder befreundete Nachbarn nicht am Kontakt gehindert werden dürfen. Hioer sind die Gerichte gefordert, die offener mit entsprechenden Anliegen umgehen müssen.
Aber das würde wohl vor allem eine bessere personelle Ausstattung der Gerichte erfordern.


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