Amoklauf von Winnenden

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e-noon
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Sa 14. Mär 2009, 18:53 - Beitrag #41

@Anaeyon: Schon mal darueber nachgedacht, dass viele Menschen sich TATSAECHLICH in dieser Welt wohlfuehlen, dass man trotz erhoehten Stresses (dass der frueher geringer war, waere zu beweisen) und schwieriger wirtschaftlicher Lage in Familie, Partnerschaft oder Freunden tatsaechlich Zufriedenheit und Glueck findet und das einzige, was das Glueck bedroht, solche bescheuerten Amoklaeufer sind?? Fuer mich IST das Verhalten dieses Typen unbegreiflich, wenn ihm Deutschland nicht gefaellt, kann er auswandern, wenn ihm die Welt nicht gefaellt, soll er sich auf den Mond schiessen lassen oder sich verabschieden, aber den anderen gefaelligst die Wahl dafuer lassen, ob sie persònlich die Welt vielleicht einfach gut finden und dankbar sind fuer die Zeit, die sie darin verbringen kònnen!

Leben und leben lassen, ist meine Divise, man kann nicht jedem eine Gesellschaft nach Mass schustern, einfach weil verschiedene Menschen sich verschiedene Dinge von der Welt wuenschen! Der Junge hatte Eltern, Geschwister, keine finanziellen Sorgen... wenn das nicht zum Gluecklichsein reicht, was kann dann "die Gesellschaft" dafuer?

Anaeyon
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Sa 14. Mär 2009, 19:33 - Beitrag #42

Sarah, ich persönlich habe es ja durchaus geschafft, aus dem jugendlichen "Alles ist scheisse" ein "Es könnte besser sein, aber immerhin weis ich jetzt, dass ich dazu was beitragen kann" zu machen. Mein Beitrag ist größtenteils aus der Sicht so eines potentiellen Amokläufers gedacht.

Wenn dir sein Verhalten unbegreiflich ist, werfe ich dir einfach mal vor, dass deine Emotionen gerade dafür sorgen dass du nicht sachlich sein willst obwohl du könntest. Ich selbst habe die Welt und die Menschheit dafür gehasst dass "sie so oberflächlich" sei usw., dass Menschen Kriege führen, Vergewaltigen und so, und wurde durch diesen Hass letztendlich auch selbst jemand, der eher Negatives anstatt Positives ausstrahlt. Nicht jeder rafft sofort, dass man Negativem besser mit Konstruktivem begegnet, vor allem Jugendliche nicht, vor allem Jugendliche nicht deren Fähigkeit, die eigenen Gedanken zu hinterfragen auch noch durch äußere Umstände beschränkt wird.

Dein letzter Absatz ist ekelhaft.

Lykurg, jemand der sich von der Gesellschaft ausgegrenzt fühlt, sieht viel schneller schlechte Absichten in dem, was Menschen so von sich geben. Ich glaube nicht, dass man jemandem, der Amok laufen will helfen kann, indem man ihm erzählt, dass die Welt ganz schön sein kann. Man hilft ihm wohl eher, wenn man ihm zeigt, dass man seine Ansichten nachvollzieht, sie nicht als zu radikal abstempelt nur weil sie schwer umsetzbar wären und ihm zeigt, dass man trotz dieser Abneigung gegen Teile unseres Lebens lebensfähig sein kann.

Ein "Wie kann man diesen psychisch kranken (was impliziert, dass man ihren Ansichten nicht den geringsten Wahrheitsanspruch lässt) helfen?" ist doch eher wie ein Schlag ins Gesicht eines jeden, der überelegt, Amok zu laufen. Ganz tolle Art, zu helfen. Super.

e-noon
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Sa 14. Mär 2009, 19:48 - Beitrag #43

Dass jemand psychisch krank ist, heisst nicht, dass seine Ansichten nicht ganz oder zum Teil wahr sein koennen :rolleyes: Aber zwischen berechtigter Kritik am System und sinnlosem zerstoeren/ermorden einzelner Teile des Systems liegen imo Welten.

Dein letzter Absatz ist ekelhaft.

Du darfst unterstellen, dass ich keine Ansichten aeussere, die ich selbst als ekelhaft empfinde. Es waere also hilfreich, wenn du mir erklaerst, was genau du daran ekelhaft findest, und vor allem, warum die Gesellschaft fuer das persoenliche Ungluecklichsein ihrer Mitglieder verantwortlich ist, wenn sie fuer die Grundbeduerfnisse gesorgt hat. Ist der Staat dafuer verantwortlich, jedem Kind ausreichend Elternliebe zu garantieren? Jedem seiner Mitglieder mindestens ein aehnliches denkendes Individuum zu garantieren? Einen Partner?
Wir wissen ja noch nicht einmal, WAS die Amoklaeufer wollen, ausser moeglichst vielen Familien den Lebenssinn zu rauben.

Milena
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Sa 14. Mär 2009, 20:09 - Beitrag #44

...man muss einfach unterscheiden.....
es gibt menschen, die haben noch nichts erlebt in ihrem leben zumindest nichts schlimmes, nichts negatives....sie lieben das leben und haben die dunkle seite dessen noch nicht gespürt....
was mich natürlich sehr freut....(dass es auch so etwas gibt...)
andererseits gibt es menschen, die haben sehr viel und vielleicht schon von anfang an ihres lebens die schwarze seite des daseins gespürt und erlebt bekommen, egal was es auch sein mag....
und dann gibt es noch menschen, die sind auch durch sämtliche höllen des lebens gewandert und haben sich trotzdem noch ein lachen und die freude auf einen morgigen tag bewahrt.....vielleicht gerade den widerständen zum trotz....
und dann gibt es noch menschen, die lieben das leben dermassen, dass sie bereits schon auf der seite der traurigkeit und der depression wandern, da sie um die vergänglichkeit ihres daseins wissen und es am liebsten verdrängen wollten......
ich verachte das leben nicht....
ich liebe das leben trotz allem und trotzdem was es mir an unglück beschert hat...
ich verstehe beide seiten, und ich glaube die meisten menschen zu verstehen, egal auf welcher seite des lebens und ihrer einstellung dazu sie sich befinden......
ich glaube, e-noon zu verstehen, die, nehme ich mal an, sehr behütet aufgewachsen ist und ihr noch kein wirkliches leid zugestossen ist.....
was mich natürlich sehr freut, auf der anderen seite natürlich stark ihr unverständnis den unglücken menschen gegenüber widerspiegelt und sie auch zum ausdruck bringt...
ich glaube anaeyon zu verstehen, der, nehme ich mal an, bereits viel mehr an anglück erlebt hat in seinem jungen dasein und von dem her schon ganz anders durch die welt wandert........
und dann passiert irgend was auf der welt, ein unglück, ein drama und ein jeder fasst diesen umstand entsprechend seiner eigenen formung, seiner ideale und seines wissens auf und erklärt diesen umstand entsprechend seiner eigenen vorstellung......
so gesehen, wird es vielleicht mit sicherheit niemals ein gemeinsamer konsens geben,
aber das muss es auch nicht.......

e-noon
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Sa 14. Mär 2009, 20:22 - Beitrag #45

Ich bin auf jeden Fall behuetet aufgewachsen, das schlimmste, was ich erlebt habe, war der Medikamentenmissbrauch meines Vaters und seine epileptischen Anfaelle, und das ist im Vergleich wirklich nicht schlimm, wenn man das mit anderen Schicksalen vergleicht. Trotzdem kenne ich, wie unglaublich viele Teenager (die nicht alle Amoklaufen) natuerlich das dauerhafte Ungluecklich sein, die Sinnlosigkeit der Welt, den Wunsch, alles in die Luft zu sprengen etc. Ich denke nur, dass, auch wenn man das als typischer Teenager anders empfindet, nicht wirklich die Aussenwelt fuer die eigenen Beduerfnisse zustaendig ist, sondern man selbst. Wenn meine Eltern mich vernachlaessigen - wer ist dann Schuld? Wer jetzt "die Gesellschaft" schreit, muss befuerworten, dass der Staat sich (auch gegen Elternwunsch) deutlich mehr um Kinder kuemmert und die Erziehung uebernimmt.

Wenn ich den einen Wunsch habe, dass mir Fluegel wachsen, und ich die Gesellschaft hasse, die mir diesen Wunsch nicht erfuellt - bin ich dann gestoert oder die Gesellschaft? Gibt mir der Mangel an Fluegeln das Recht, meine Mitmenschen umzubringen? Ich denke nicht.

Anaeyon
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Sa 14. Mär 2009, 20:31 - Beitrag #46

Der Junge hatte Eltern, Geschwister, keine finanziellen Sorgen... wenn das nicht zum Gluecklichsein reicht, was kann dann "die Gesellschaft" dafuer?



Also mir reicht das nicht zum Glücklichsein. Ich brauche z.B. noch eine Schulklasse, in der ich nicht mit "Ana stinkt!" beschimpft werde weil ich lange Haare habe und Metal höre, in der mir die Lehrerin nicht sagt, ich sei ein Nazi, weil ich erwähnte, dass Stalin auch schrecklich war, in der mir die Ethik-Lehrerin nicht subtil die Teilnahme an einer Diskussion verweigert weil sie weis, dass sie gegen Argumente von mir oft nicht ankommt. Ich brauche eine Gesellschaft in der mich Nachts nicht auf einem 5-Minuten-Weg von Bahnhof zu Disco drei Gruppen von Menschen mit Migrationshintergrund und schlechtem Musikgeschmack nacheinander bedrohen und meine Freundin als Hure bezeichnen und ich am nächsten Tag zu hören bekomme dass andere Freunde in der gleichen Nacht fast von Nazis auseinandergenommen wurden.
Oder wie wäre es mit einer Gesellschaft, in der eine Bewerbung für einen Bürojob nicht abgelehnt wird, weil dem Chef mein Lächeln nicht gefällt?

Oder mal auf den Staat bezogen. Wie wäres es mit einer Gesellschaft, in der ich nicht als Nazi abgestempelt werde wenn ich sage, dass ich den Islam nicht als kulturelle Bereicherumg empfinde, solange keine richtige Integration vorgenommen wird, wir eher Ehrenmorde und gewaltbereite Jugendliche importieren, anstatt Kultur. Oder wie wäre es mit Politikern, die nicht schon lügen bevor sie den Mund aufmachen? Wie wäre es, wenn sich arme Menschen ein Studium leisten können ohne bis spät nachts Jobben zu müssen usw.?

Für manche Menschen ist es schwerer als für andere. Dein Leidensmaßstab ist subjektiv und du erwartest, dass man "das beste draus macht" anstatt es besser zu machen. Andere sind vll. nicht dazu in der Lage.

Ich halte es genauso wie ihr alle für falsch, zu zerstören. Vor allem Existenzen und Familienglück zu zerstören, aber dennoch habe ich wenigstens die Fähigkeit, nachzuvollziehen dass manche Menschen für ihre Gesellschaft nichts anderes mehr übrig haben ausser 9 Millimeter.

Milena
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Sa 14. Mär 2009, 20:33 - Beitrag #47

....ich wollte mal recht und anspruch und notwendigkeit weglassen...
mein letzter beitrag war jetzt weniger auf den umstand, das unglück an sich bezogen, sondern einfach auf das verstehen dessen......verstehen und vielleicht auch zugeben können, dass man nichts verstanden hat,
dass man den menschen (ist schliesslich ein mensch, ist eine kreatur genauso wie du und ich, und hat auch eine mutter, die jetzt um ihr kind weint etc.... ja ich weiss, wird wieder sentimental, aber trotzdem...) versucht, in ihn
hinein zu schauen...
empathie...
nichts gutheissen....
empathie
nicht zustimmend nicken müssen.....
empathie
es einfach so stehen lassen können,....und zwar nicht das unglück, sondern
das ansatzweise verstehen des menschen,
der das uns antun konnte....
ich habe geheult um die gestorbenen menschen....es hätte ja auch meine tochter treffen können...
und ich habe geheult um den jungen selbst.....es hätte mein sohn sein können....
ich heisse nichts gut, denn tränen sind nichts witziges,
aber ich plädiere immer in allem und immer wieder beide seiten des lebens zu betrachten.....

e-noon
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Sa 14. Mär 2009, 21:09 - Beitrag #48


Zitat:
Der Junge hatte Eltern, Geschwister, keine finanziellen Sorgen... wenn das nicht zum Gluecklichsein reicht, was kann dann "die Gesellschaft" dafuer?
Also mir reicht das nicht zum Glücklichsein. Ich brauche z.B. noch eine Schulklasse, in der ich nicht mit "Ana stinkt!" beschimpft werde weil ich lange Haare habe und Metal höre, in der mir die Lehrerin nicht sagt, ich sei ein Nazi, weil ich erwähnte, dass Stalin auch schrecklich war, in der mir die Ethik-Lehrerin nicht subtil die Teilnahme an einer Diskussion verweigert weil sie weis, dass sie gegen Argumente von mir oft nicht ankommt. Ich brauche eine Gesellschaft in der mich Nachts nicht auf einem 5-Minuten-Weg von Bahnhof zu Disco drei Gruppen von Menschen mit Migrationshintergrund und schlechtem Musikgeschmack nacheinander bedrohen und meine Freundin als Hure bezeichnen und ich am nächsten Tag zu hören bekomme dass andere Freunde in der gleichen Nacht fast von Nazis auseinandergenommen wurden.
Oder wie wäre es mit einer Gesellschaft, in der eine Bewerbung für einen Bürojob nicht abgelehnt wird, weil dem Chef mein Lächeln nicht gefällt?

Oder wie waere es mit einer Gesellschaft, in der keiner ueber Leben und Tod seiner Mitmenschen entscheidet?

Was mich fertig macht, ist nicht, dass jemand die Gesellschft nicht mag, oder dass jemand gehaenselt wird und sich dafuer raechen will. Wenn du dir all das ansiehst, was du aufgezaehlt hast, dann handelt es sich um (imo) sinnlose Aggressionen gegen andere. Wenn dir das nicht gefaellt - wenn du Menschen, die so etwas tun, als negativ beurteilst - dann solltest du (und jeder andere) sinnlose Aggression auch bei dir selbst verurteilen (und nicht sie ueberbieten).
Dass Jugendliche zu dieser gedanklichen Leistung nicht in der Lage sind oder andere Emotionen ihnen da im Weg stehen, will ich gar nicht bezweifeln. Dennoch kann es nicht Verantwortung des Staates sein, jeden Jugendlichen gluecklich zu machen, da das einfach nicht moeglich ist. Aus diesem Grund lehne ich eine Schuldzuweisung "an die Gesellschaft" ab, auch wenn ich das erst tue, seit ich nicht mehr in der Pubertaet bin.
Sinnvoll faende ich es hingegen, mehr Rituale und mehr Orientierung zu schaffen - vielleicht reicht es einfach, Jugendliche darueber zu informieren, dass die Adoleszens eine der schwierigsten emotionalen Herausforderungen des Lebens darstellt, und dass gewisse hormonelle und sonstige Schwankungen sich, so bloed das klingt, auswachsen. Fast jeder macht (wenn er denn lange genug lebt) eine Erfahrung der Art, dass mit 16 ein Konzert/ein Schwarm/Ein Kinobesuch/Eine Party/die Rettung der Walt einfach unglaublich lebenswichtig war und man ohne diese in tiefste Verzweiflung gestuerzt wuerde/wurde - und trotzdem kann man einige Jahre spaeter nur noch darueber lachen.
Haemisch oder liebevoll, je nach Selbstbild.

Ausserdem sollte man sich nicht umbringen, bevor man nicht alle Hebel in Bewegung gesetzt hat, um sein Glueck doch noch in dieser Welt zu finden, und das haben die jugendlichen Amoklaeufer ganz bestimmt nicht getan.

Ipsissimus
Dämmerung
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Sa 14. Mär 2009, 21:43 - Beitrag #49

Zitat von Malte279:Zu schade, dass Deutschland kein Land von Rebellion und Terrorismus ist? Wäre es schöner in regelmäßigerem Abstand Terroranschläge zu haben da man dadurch das Gefühl hätte in einer gesünderen Gesellschaft zu leben in der es in Folge vermehrter Terroranschläge weniger Amokläufe gäbe? Bei allem Respekt vor der ursprünglichen Studentenbewegung glaube ich nicht, dass die Baader-Meinhoff Bande so idealisiert werden sollte.


dies hier ist sicher nicht der Thread, sich über die Baader-Meinhoff-Gruppe zu streiten. Zwei Dinge gebe ich nur zu bedenken: Die Mentalität vieler Deutscher wird nicht nur von vielen anderen Deutschen als obrigkeitshörig und im Kern als ein nach oben ducken und nach unten treten empfunden, sondern auch von sehr vielen Nichtdeutschen. Zum anderen habe ich nicht dass Empfinden, dass Frankreich in Anarchie untergeht]Die Mehrheit regt sich furchtbar über unsere böse, böse Gesellschaft auf, über die Politiker die (ganz unabhängig von dem was sie sagen oder tun) verantwortlich gemacht werden, es werden Schuldzuweisungen an alle möglichen Leute oder Dinge ausgeteilt, aber letztlich ist es dann doch wieder die Gesellschaft als ganzes und so wird die Diskussion weiter gehen bis sie sich im Sande verläuft um dann beim nächsten Mal wieder hervorgekramt zu werden. [/QUOTE]

Die Mehrheit der Leute ist in Situationen wie dieser akut erregt und empört; entsprechend ist die Qualität vieler Stellungnahmen. Und diese Stellungnahmen sind auch trotz der Erregtheit selten frei von politischer Meinungsäußerung; schau dir mal die Foren diverser Online-Zeitungen an, da siehst du ziemlich genau, wer die Situation für welche Zwecke ausnutzen will, und das sind bei weitem nicht nur die "die Gesellschaft ist schlecht"-Rufer. Es wird derzeit im großen Umfang plakatiert udn wenig gedacht.

Zitat von Malte279:Einerseits ist es so herrlich bequem "der Gesellschaft" für alles die Schuld in die Schuhe zu schieben, weil dies für viele (natürlich auf keinen Fall alle, aber konstruktive statt nörgelnde Gesellschaftskritik ist doch eher die Ausnahme) ein angenehmer Weg ist persönliche Verantwortung abzulehnen, aber andererseits (und ich merke, dass ich mir hier in gewisser Weise selbst widerspreche) ist es dann auch wieder unbequem als Teil der Gesellschaft einen Teil der Verantwortung zugeschustert zu bekommen, der vielen Leuten einfach nicht zusteht, da sie normal nette mitglieder der Gesellschaft sind und nun wirklich keine wie auch immer geartete Schuld an dem Amoklauf haben.


Es ist mindestens genau so bequem, alle aus sozialen Zusammenhängen resultierenden Einflussfaktoren zu ignorieren und dem Täter als ausschließlich persönlich anzukreidendes individuelles Versagen anzukreiden. Wir müssen natürlich nicht in Zusammenhängen denken, oder Zusammenhänge überhaupt für möglich halten. Mimen wir also bis zum nächsten Mal lieber wieder die vom absolut Unfassbaren und Unverständlichen Geplagten. Wenn wir nur die psychologischen Einflussfaktoren suchen, werden wir nichts verhindern.

Zitat von Malte279:Es hört sich in Schlagzeile zwar toll an, aber wir sind NICHT alle Schuld an Winnenden. Sagt man dies riskiert man aber dafür runtergemacht zu werden, dass man die verkommene Gesellschaft schön redet, sich um persönliche Verantwortung drücken will etc.


es geht überhaupt nicht um individuelle Schuldzuweisungen an die Individuen der Gesellschaft als Individuen. Es geht um strukturelle Gewalt, die das Verhalten einer Vielzahl von Individuen so verbiegt, dass Kälte, Gleichgültigkeit und Bösartigkeit trotz individueller Zuwendung wirksam bleiben. Wenn man natürlich glaubt, dass es sowas wie strukturelle Gewalt überhaupt nicht gibt, oder dass alle Menschen natürliche Supergenies im Umgang und im Überwinden struktureller Gewalt sind, dann entfällt das natürlich als Einflussgröße, und wir reden weiter vom persönlichen Fehlverhalten, Hauptsache, alles andere darf so bleiben, wie es ist, in dieser besten aller möglichen Gesellschaften.

Zitat von Malte279:Bei all dem Gerede werden die meisten konkreten Vorschläge für Veränderungen (mit aus meiner Sicht wechselhaft guten oder schlechten Begründungen) auch sofort verrissen ....
...
Jeder ist unheimlich bereit zu verkünden wogegen er oder sie ist, aber es ist sehr selten, dass irgendwer sagen kann wofür er oder sie ist ohne (teils mit Berechtigung teils nicht) um die Ohren gehauen zu bekommen, das die Vorschläge unrealistisch oder utopisch sind ....


Aktionismus ist auch so eine Sache. Darin bin ich sogar mit dem CDU- Innenminister von Baden-Württemberg einig, dem es laut Interview im Online-Stern auch auf den Sack geht, was jetzt alles an Maßnahmen gefordert wird (er drückt es selbstverständlich höflicher aus), von denen 95% erwiesenermaßen ungeeignet sind und die letzten 5% lediglich zufällig was mit der Sache zu tun haben

Padreic
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Sa 14. Mär 2009, 23:27 - Beitrag #50

@e-noon: Nur ein paar Punkte, kurz:
Schon mal darueber nachgedacht, dass viele Menschen sich TATSAECHLICH in dieser Welt wohlfuehlen, dass man trotz erhoehten Stresses (dass der frueher geringer war, waere zu beweisen) und schwieriger wirtschaftlicher Lage in Familie, Partnerschaft oder Freunden tatsaechlich Zufriedenheit und Glueck findet und das einzige, was das Glueck bedroht, solche bescheuerten Amoklaeufer sind??
Ich denke, dass die tatsächliche Gefahr, die für das Individuum von Amokläufern ausgeht, durchaus sehr gering ist. Wenn meinetwegen im Jahr 20 Leute in Deutschland durch Amokläufe (oder school shootings, wie die Amerikaner das nennen), so ist das ein Bruchteil dessen, was sonst an Gewaltverbrechen, Unfällen und Krankheiten drauf geht, auch unter Jugendlichen....gesamtgesellschaftlich gesehen ist das keine große Gefahr.
Wodurch der Fall primär seine Relevanz bekommt, ist, dass es vermutlich einen Haufen Jugendliche gibt, die ähnlich fühlen, aber nicht an Waffen dran kommen oder anderweitig in einer leicht anderen Situation befindet. Dafür steht die Tat symbolisch.

Und wenn hier gesagt wird, dass die Gesellschaft eine nicht unerhebliche "Mitschuld" daran hat, so ist, denke ich, damit nicht der Staat gemeint, auf jeden Fall nicht primär. Wie Ana ausführt: die Gesellschaft, die besteht genauso aus den Mitschülern, den Lehrern, den Leuten, die auf der Straße rumhängen, auch den Eltern wie aus der Politik. Die Politik ist nur der Ort, wo man am schnellsten etwas ändern könnte (zumindest Gesetze oder dergleichen, natürlich nicht die Soziologie der Politik und Politiker). Gesamtgesellschaftliche Veränderungen sind viel unkontrollierbarer. Und manche Dinge werden sich vermutlich auch nicht ändern. Menschen tendieren nunmal dazu, andere Leute auszugrenzen, zum Beispiel. Das mag an einem Ort stärker sein als an einem anderen, zu unterschiedlichen Zeiten werden verschiedene Gruppierungen ausgegrenzt, aber das Grundphänomen bleibt und lässt sich höchstens mindern (von Erziehern, die nicht auch ausgrenzen ;)), aber nicht abschaffen.

Sinnvoll faende ich es hingegen, mehr Rituale und mehr Orientierung zu schaffen - vielleicht reicht es einfach, Jugendliche darueber zu informieren, dass die Adoleszens eine der schwierigsten emotionalen Herausforderungen des Lebens darstellt, und dass gewisse hormonelle und sonstige Schwankungen sich, so bloed das klingt, auswachsen. Fast jeder macht (wenn er denn lange genug lebt) eine Erfahrung der Art, dass mit 16 ein Konzert/ein Schwarm/Ein Kinobesuch/Eine Party/die Rettung der Walt einfach unglaublich lebenswichtig war und man ohne diese in tiefste Verzweiflung gestuerzt wuerde/wurde - und trotzdem kann man einige Jahre spaeter nur noch darueber lachen.

Nicht jeder will seine Wut, sein Romantischsein, seine Irrationalität vielleicht, sein Gegen-den-Strom-Schwimmen verlieren. Ist alles nicht so klar, was gut und was schlecht ist; im Leben gut klarzukommen ist vielleicht nicht alles. Und wenn du einem Jugendlichen erzähltst, dass seine Wut mit dem Erwachsenwerden verfliegen wird, so wird er nicht unbedingt darüber glücklich sein.

Ich selbst bin relativ behütet aufgewachsen, wenn man es so sagen will, wurde auch nicht gehänselt. Was ich an Problemen hab, das kommt aus mir, das sind meine eigenen Dämonen, wenn man sie so nennen will. Aber es sind auch irgendwo diese Dämonen, die für mich das Leben lebenswert machen, die mich vor der Gleichgültigkeit und denkerisch-emotionalen Trägheit bewahren oder zumindest bewahrt haben....denn zum großen Teil haben sie sich ausgewachsen oder verfriedfertigt. Ich hoffe, dass ich sie irgendwann wieder in fruchtbarer Form zum Leben erwecken kann.

--
Übrigens sagt doch Ana selbst, dass er gegen Zerstören von Leben ist. - mir ist Wut gegen die Zustände in der Geselschaft tendentiell aber lieber als Überheblichkeit dagegen.

Lykurg
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So 15. Mär 2009, 00:17 - Beitrag #51

Anaeyon, die Diskussion ist sowieso schon wieder darüber hinweggelaufen, aber ich habe den Amokläufer nicht als psychisch krank bezeichnet, ein solches Urteil bzw. eine solche Diagnose liegt mir fern. Ich sprach von einer gescheiterten Existenz, ich denke, daß du das nicht abstreiten wirst in dem Moment, in dem jemand die Waffe erst mehr oder weniger wahllos auf andere, zuletzt auf sich selbst richtet. Ich versuche auch nicht, meine positivere Sicht auf die Welt einem hypothetischen Amokläufer aufzupfropfen, wie du mir unterstelltest - ebensowenig, wie ich mir anmaßen würde, zu helfen: Eine Lösung sehe ich noch nicht, jedenfalls keine so einfache. Im Moment suche ich nach Erklärungen, was eigentlich dem von dir geforderten 'Nachvollziehen der Ansichten' recht nahekommen dürfte.
Nur befürchte ich, offenbar ähnlich wie e-noon, daß ein recht großer Teil der motivierenden Prozesse hormonell bedingt ist (also eine Nebenerscheinung der Pubertät) - und etwa die zuvor erwähnten gesellschaftskritischen Positionen gewissermaßen nur ein Ventil, an dem sich der Druck, sich einen Platz in der Erwachsenenwelt zu suchen, staut. - Ich finde es wichtig, Menschen zu vermitteln, daß sie Möglichkeiten haben, sich über sich und ihr Umfeld hinaus zu entwickeln. Letztlich ist jeder Mensch für das, was er aus seinem Leben macht, selbst verantwortlich; die Gesellschaft soll ihm Chancen bieten, aber sie kann ihm nicht alle Wege weisen, und 'sie' ist nicht schuld, wenn nicht alles so klappt, wie man es sich wünscht. Dazu gehört aber auch eine Offenheit auf der anderen Seite, von der ich nicht abschätzen kann, inwieweit sie überhaupt vorhanden ist.

In diesem Sinne auch @Padreic: Es mag sein, daß das Leben mit den eigenen 'Dämonen' für das Individuum wichtig ist; es kann hier ja auch nicht darum gehen, grundsätzlich emotionale Schwankungen abzutrainieren oder eine stromlinienförmige Erziehung herbeizuführen, aber - ganz unabhängig davon, ob es 20 oder 200 Menschen trifft - die Zerstörung von Menschenleben ist zu verhindern. Und da ist mir Behebung von Fehlentwicklungen, etwa durch Aufklärung und gegebenenfalls verpflichtende Betreuung, weitaus lieber als eine noch so kultivierte und kreative Wut, die sich nur ab und zu in Blutbädern entlädt.

Malte279
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So 15. Mär 2009, 00:23 - Beitrag #52

PS: Ich freue mich, wie schon oft, über Maltes Beitrag.

Vielen Dank :)
dies hier ist sicher nicht der Thread, sich über die Baader-Meinhoff-Gruppe zu streiten.
D'accord. Ins Spiel gebracht habe ich die Baader-Meinhoff Gruppe auch nicht, aber wenn sie hier zusammen mit dem Bedauern darüber, dass es in Deutschland zu wenig Terrorismus gibt quasi als leuchtendes Beispiel für die Fortsetzung der Gesellschaftskritik mit anderen Mitteln genannt wird, dann muss es meines Erachtens auch erlaubt sein dagegen zu halten zu dürfen wenn man diese Meinung nicht teilt.
Die Mentalität vieler Deutscher wird nicht nur von vielen anderen Deutschen als obrigkeitshörig und im Kern als ein nach oben ducken und nach unten treten empfunden, sondern auch von sehr vielen Nichtdeutschen. Zum anderen habe ich nicht dass Empfinden, dass Frankreich in Anarchie untergeht; dort rumst es gelegentlich, und zwar ernsthaft, aber danach ist egal welcher französischen Regierung bisher immer eindeutig klar gewesen, dass es besser für sie ist, jetzt mal wieder ein bisschen zugunsten des Volkes und weniger zugunsten der Privilegienträger zu regieren. In Deutschland scheint das unmöglich zu sein.
Obrigkeitshörigkeit ist ein anderer Vorwurf, der in diesem Zusammenhang aber auf das gleiche herauskommt wie der Vorwurf schön zu reden, den ich für diejenigen genannt habe die nicht bereit sind die Gesellschaft grundsätzlich schlecht zu reden. Frankreich geht nicht in Anarchie unter, aber ist es deshalb begrüßenswert oder konstruktiv wenn dort hin und wieder Autos brennen, oder Polizisten oder Demonstranten schwer verletzt oder auch getötet werden? Ich gebe zu dass ich mich nicht besonders mit der Situation in Frankreich auskenne, aber nach dem was ich oberflächlich oder aus Dokumentation über die dortigen sozialen Brennpunkte gehört habe sehe ich nicht welchen Vorteil die gelegentlichen Krawalle dort für die Leute haben. Ihre Situation scheint sie nicht zu verbessern und sie scheint mir eher ein Resultat des blinden Aktionismus zu sein, den Du Ipsissimus ins Gespräch bringst weil ich aufgezählt habe wie alle Vorschläge für konkrete Veränderungen (auf meine Persönliche Meinung zu den einzelnen Vorschlägen bin ich dabei nicht eingegangen) erstmal abgelehnt werden. Ich für meinen Teil halte Gewalt, egal ob sie von rechtsradikalen oder von linksautonomen ausgeübt wird für kein vernünftiges Mittel um diesen Monolith Gesellschaft in einer wünschenswerten Art und Weise zu verändern.
Und dieser Punkt, dass Gewalt (ob jetzt individuell als Amoklauf oder als Gruppe in einer Terrororganisation oder einem Gewaltsamen Protest) kein Mittel ist um unsere Gesellschaft zu verbessern war eigentlich mein Hauptpunkt angesichts einiger zuvor gemachter Äußerungen.
Das es sehr viel gibt das an der Gesellschaft verbessert werden sollte werde ich keine Sekunde in Abrede stellen. Politikverdrossenheit, Ärger über soziale Ungerechtigkeiten, Religiöser Fundamentalismus, zerrüttelte Familienverhältnisse und das Außenseitersein sind alles Punkte die mir nicht nur aus den Nachrichten bekannt sind auch wenn ich (genau wie der letzte Amokläufer) über das Glück verfüge durch meine Eltern eine materielle Sicherheit zu haben, die mir das Studium ermöglicht. Ich bestreite nicht, dass äußere Faktoren einen Täter zu seiner (ich habe bisher noch von keiner Amokläuferin gehört) Entscheidung bewegen, aber das entbindet ihn bei einer solchen Entscheidung wie der einfach mal wahllos 15 Menschen zu erschießen kein bisschen von seiner Schuld. Und trotz der sehr sinnvollen zuvor genannten Unterscheidung zwischen Verstehen, Mitgefühl und Billigung konnte ich mich bei einigen der hier gemachten Äußerungen doch nicht des Eindrucks erwehren, dass dem Täter das "edle Motiv" der Gesellschaftskritik mit anderen Mitteln zuerkannt werden soll, dass ich für meinen Teil nicht bereit bin ihm zu zugestehen.
Etwas off topic, aber mich erinnert die Haltung sehr stark an ein Gespäch das ich am 12. September 2001 mit einem Mädchen aus meiner Stufe hatte, die darum bemüht war mir zu erklären, dass die Attentäter des Vortags extra so früh Morgens in die Twintowers geflogen seien um zu viele Zivile Opfer zu vermeiden und dass sie auch genau auf die Etagen "gezielt" hätten in denen die Büros der Waffenlobbyisten gewesen seien.
Der Zitierte Artikel (
Vielleicht weihen deswegen Menschen, die gegen das Leben und die Ungerechtigkeit revoltieren, sich und ihre Mitmenschen dem Tod, um eine Veränderung herbeizuführen, um die Welt in Ordnung zu halten, um für die Schuld des Lebens zu bezahlen, um das Leben der Überlebenden freizukaufen. Und Überlebende sind wir alle [...]
) schien mir da ganz genau in die gleiche Richtung zu gehen. Wir scheinen wesentlich gewillter zu sein solchen Tätern durch jede nur erdenkliche Interpretation Rechtschaffenheit zuzuschreiben als ihnen den Vorwurf zu machen (über Tote Täter nur gutes) das sie sich in vielen Fällen auch selbst nicht eben darum bemüht haben etwas an ihrer Situation zu ändern (selbstverständlich war daran einzig und allein die Kaltherzigkeit unserer Gesellschaft schuld in der man selbst wenn man sich die Mühe machen würde mal einen "netten Menschen" zu suchen ihn wohl doch eh nicht finden könnte, so dass man es den Tätern nicht zum Vorwurf machen sollte wenn sie es nicht versucht haben.

Padreic
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So 15. Mär 2009, 00:24 - Beitrag #53

Da gebe ich dir natürlich sofort recht, dass, wenn man einen guten Weg findet, so etwas zu verhindern, man es sofort tun sollte. Aber nur mit Aufklärung wirst du da nicht viel erreichen. Und bevor jeder, der als "potentiell amoklaufend" eingestuft wird (am besten mit McCarthy-artiger Hysterie), zwangseingewiesen wird, nehme ich vielleicht auch lieber ab und zu ein kleines Massaker in Kauf, so zynisch das klingen mag.

Lykurg
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So 15. Mär 2009, 01:37 - Beitrag #54

Padreic, "ab und zu ein kleines Massaker" - das sagt sich so leicht, wenn man selbst nicht betroffen ist! Meine Cousine hat dort zwei Kommilitoninnen verloren, gute Bekannte, die gerade wie sie selbst ihr Schulpraktikum machten. Als ob sie dem Täter je zuvor begegnet wären... Bild

McCarthy ist natürlich ein Totschlagargument erster Güte. Aber ich finde nicht, daß man einfach ab und zu das Blutbad vor der Haustür über sich ergehen lassen sollte, nur weil ein verdammter Kerl in seiner persönlichen Freiheit, sich und dem halben Dorf das Leben zu verderben, nicht eingeschränkt werden soll. Wenn wir da verschiedener Ansicht sind, nehme ich das bedauernd zur Kenntnis.

Anaeyon
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So 15. Mär 2009, 02:13 - Beitrag #55

imho:..

Sarah, ich war selbst - das behaupte ich einfach mal - mal kurz davor, durchzudrehen. Das war sicherlich auch hormonell bedingt, genauso wie meine Fähigkeit, mit Amokläufern mitzufühlen dadurch möglich(er) ist, dass ich noch nicht komplett "Erwachsen" bin. Aber ich bin seitdem zumindest deutlich erwachsener geworden und dennoch kommt es mir nicht in den Sinn, über meine damaligen Gründe nun hämisch oder liebevoll zu lachen.

Ich glaube das unterscheidet uns. Du scheinst zu glauben, dass es für ein Individuum möglich ist, seine eigenen Gedanken irgendwann später im Leben besser einzuschätzen, für mich gibt es da nur ein anders.

Was bringt es, einem Jugendlichen zu erklären dass seine Ansichten hormonell bedingt sind, wenn er dir nach der gleichen Logik erklären kann, dass deine Ansichten alters- bzw. ältersbedingt sind. Hast du mehr recht, oder hat die Ansicht (scheinbar) mehr recht, die sich richtiger anfühlt? Zweiteres für den Jugendlichen.

Ist es hilfreicher, einem potentiellen Amokläufer zu sagen, dass man nur abwarten muss, oder vielleicht eher, dass man gerne nochmal die Kraft hätte, die unzähligen Missstände so emotional Verurteilen zu können, wie er es kann? Und wenn du einsiehst, Sarah, dass auch du dich enorm angepasst hast um besser mit der Welt/Gesellschaft klarzukommen, kannst du dann noch die Gesellschaft in Schutz nehmen und die Schuld auf den Amokläufer abstreifen? Auch das ist wieder eine Anpassung. Natürlich trägt der Amokläufer die Schuld, dass 15 Menschen sterben, aber er trägt nicht die Schuld, dass er zu stark ist um sich anzupassen.

Lykurg: Stimmt. Da habe ich dich falsch verstanden.

Du sagst "erst mehr oder weniger wahllos, dann auf sich selbst". Ich würde es genauso sagen wie du und das Gegenteil damit meinen, glaube ich. Er hat keine Wahl weil es alles Menschen sind, egal ob Anna oder Tom. Das Feindbild ist das Wesen Mensch, daran ist er gescheitert. Er erschießt sich nicht feige, er flieht nicht vor seiner gerechten Strafe, sondern er flieht vor sich selbst, vor seiner Unfähigkeit, etwas Besseres zu sein als seine Opfer. Desweiteren sieht er in dem was er tut keine Straftat, solche Begriffe haben für ihn keine Bedeutung mehr. Er flieht nach vorne weil er an einem Punkt angelangt ist, an dem er für sich entschieden hat, dass er keine Kompromisse eingehen will, keine Trostpflaster. Seine Erwartungen ans Leben sind gerechtfertigt und er ist verzweifelt, weil sie ihm ausgetrieben werden wollen, sowohl von anderen als auch von sich selbst. Dass kann und will er nicht verstehen, darin sieht er den Fehler im Menschen und hasst ihn - gerechtfertigt.

Das klingt sicherlich so, als wolle ich ihn als Märtyrer oder so darstellen. Aber was ich damit nur erklären will ist, dass ihr vll. einfach den Fehler macht, ihn mit menschlichen Maßstäben verstehen zu wollen. Für ihn hat das Wesen Mensch ansich keinen Wert mehr, dadurch ist er kein Wesen mehr, mit dem ihr normalerweise zu tun habt wenn ihr irgendwo mitfühlt.

Deswegen das "imho" am Anfang, weil das sicherlich so klingt als würde ich mir anmaßen, es besser zu wissen als ihr. Ich kenne zumindest das Gefühl von nahezu kompletter Entwertung des Menschen und ihr scheint daran nicht gedacht zu haben, wenn ihr von "miteinander reden, sich zuhören" etc. schreibt.

Da ich gerade minimal angetrunken bin kann es sein, dass ich mich mal wieder unverständlich ausgedrückt habe, aber ich hoffe, es ist ok so Bild ^^

Ipsissimus
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So 15. Mär 2009, 02:14 - Beitrag #56

selbstverständlich war daran einzig und allein die Kaltherzigkeit unserer Gesellschaft schuld


Malte, wenn ich schreibe, dass in den Tätern psychologische (= individuell vom Täter zu verantwortende) und soziologische (= von der Gesellschaft zu verantwortende) Faktoren zusammenfließen, wo vertrete ich da die Ansicht, dass "daran einzig und allein die Kaltherzigkeit unserer Gesellschaft schuld" sei? Was ich tatsächlich vertrete, ist die Auffassung, dass in der Aufarbeitung derartiger Taten der Anteil der soziologischen Faktoren weitgehend unter den Tisch fallen gelassen und den psychologischen Faktoren weitgehend die Alleinschuld zugesprochen wird.

Frankreich geht nicht in Anarchie unter, aber ist es deshalb begrüßenswert oder konstruktiv wenn dort hin und wieder Autos brennen, oder Polizisten oder Demonstranten schwer verletzt oder auch getötet werden?


nein, das ist sicherlich nicht "gut" (als hätte "gut" oder "schlecht" irgendeine Aussagequalität); andererseits, warum fragst du das nicht die französische Regierung? Warum müssen sich immer wieder diejenigen, denen am Ende nichts mehr übrig bleibt, als sich auch mit Gewalt zu wehren, dafür rechtfertigen, während diejenigen, die es im Schutze der Paragraphen mit ihrer Politik darauf ankommen lassen, dass immer wieder eine große Zahl Menschen über die Grenze getrieben wird,offenbar Narrenfreiheit genießen?


Ana, du triffst es meines Erachtens ziemlich gut^^

e-noon
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So 15. Mär 2009, 11:45 - Beitrag #57

Ich glaube das unterscheidet uns. Du scheinst zu glauben, dass es für ein Individuum möglich ist, seine eigenen Gedanken irgendwann später im Leben besser einzuschätzen, für mich gibt es da nur ein anders.
Fuer mich gibt es eindeutig besser. Wenn ich frueher davon ausging, dass ch ohne Robbie Williams nicht weiterleben koennte, denke ich jetzt, das waere mir durchaus moeglich gewesen, und so war es dann auch.

Desgleichen ist, wenn man sagt, dass Hormone einen Hass auf die Gesellschaft verursachen, dieser Hass dadurch imo nicht gerechtfertigt. Kannte der Amoklaeufer jeden Menschen? Erst wenn er jeden kannte, wuerde es ueberhaupt Sinn machen, von "der Menschheit" oder Gesellschaft zu sprechen.

Und wenn jemandem die Welt / Menschheit /wai nicht gefaellt... dann tschuess und gut ist, aber fuer mich ist dadurch wahlloses morden einfach nicht gerechtfertigt, und ich wuesste auch nicht, was die Opfer (wie Lykurg sagt, auch zwei Praktikantinnen wie ich) fuer den Taeter haetten besser machen koennen. Es gab einfach nichts, was sie tun konnten, sie hatten keine Chance. :(

Malte279
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So 15. Mär 2009, 12:26 - Beitrag #58

wo vertrete ich da die Ansicht, dass "daran einzig und allein die Kaltherzigkeit unserer Gesellschaft schuld" sei?
Tut mir Leid wenn es so klang als wenn ich Dir persönlich diese Haltung unterschieben wollte, das war nicht meine Absicht. Aber bei vielen Äußerungen, wie zum Beispiel dem Artikel der hier zitiert worden ist, scheinen die schreiber schon sehr stark in diese Richtung zu denken. Ich sehe in vielen Artikeln etc. die Suche nach der Schuld in der Gesellschaft und im Umfeld des Täters. Ich bestreite auch gar nicht, dass es vollkommen legitim und auch notwendig ist in beiden Bereichen nach Faktoren zu suchen die mit dazu beigetragen haben das der Täter seine fatale Entscheidung getroffen hat, aber getroffen hat ER sie. Trotzdem höre ich fast nirgends irgendwo auch nur ein kritisches Wort über den Täter. Eine psychologische Störung ist so ziemlich das härteste was ihm vorgeworfen wird (und noch nicht einmal wirklich vorgeworfen, da der Mensch ja nichts für seine psychologischen Störungen kann). Das was ich unter Bezugnahme auf e-noons frühere Post als den A***loch-Faktor bezeichnen würde scheint fast nirgends erwähnt zu werden. Versteh mich bitte nicht falsch, ich sehe schon das eine "Diskussion" aus Hasstiraden gegen den Täter wenig konstruktiv wäre, aber ich glaube auch nicht, dass es der Diskussion hilft wenn dem Täter eine gewisse Weihe dadurch zuteil wird, dass man ihm einerseits ein hohes gesellschaftskritisches Potential zuschreibt (obgleich über die Motive bisher nur spekuliert wird, da meines Wissens bisher keinerlei authentische Abschiedsbotschaft oder ähnliches aufgetaucht ist) anderseits Kritik an seinem verhalten praktisch gar nicht geäußert wird (und sei es auch weil sie für viele wahrscheinlich für selbstverständlich gehalten wird, dass es unnötig erscheint sie zu nennen).
Aus diesen Gründen kann ich mich nicht Deiner Sicht anschließen nach der in der Diskussion den psychologischen Faktoren irgendeine Alleinschuld zugesprochen, den soziologischen Faktoren aber nicht nachgegangen werde.
(als hätte "gut" oder "schlecht" irgendeine Aussagequalität)
Das ist eine Ansichtssache. Wir leben natürlich nicht in einer dichotomen schwarz / weiß, gut / böse Welt und die Mehrheit aller Handlungen liegt in einer Grauzone. Trotzdem gibt es in einigen Fällen einen so weiten Konsenz über die Bosheit bestimmter Handlungen (und die Mehrheit dürfte im wahllosen Niederschießen von Schulkindern eine solche Handlung sehen) das es meines Erachtens denjen, die absolut nicht an die Relevanz der Begriffe gut und böse glauben nicht zusteht sie den anderen Diskussionsteilnehmern zu verbieten oder sie für die Verwendung dieser Begriffe ins Lächerliche rücken zu wollen.
Ich philosophiere gerne, aber in bestimmten Diskussionen, die sich auf konkrete Ereignisse beziehen werden solche weltanschaulichen Fragen oft in einer Art und Weise eingebracht die eher dem totreden als dem finden weiterer Erkenntnisse zu dem konkreten Fall dient.
andererseits, warum fragst du das nicht die französische Regierung? Warum müssen sich immer wieder diejenigen, denen am Ende nichts mehr übrig bleibt, als sich auch mit Gewalt zu wehren, dafür rechtfertigen, während diejenigen, die es im Schutze der Paragraphen mit ihrer Politik darauf ankommen lassen, dass immer wieder eine große Zahl Menschen über die Grenze getrieben wird,offenbar Narrenfreiheit genießen?
Ich war bei einer Reihe von weitgehend friedlichen Demonstrationen. Wenn dann aber Autonome anfangen sich zu maskieren und Steine, Flaschen und Feuerwerkskörper nach Polizisten zu schmeißen (oder schlimmeres, das ich aber noch nicht selbst miterleben musste), dann ist irgendwann auch der Punkt erreicht wo ich es als Demonstrant den Polizisten nicht übelnehmen kann wenn sie einschreiten um das zu unterbinden.
Fälle von Polizeigewalt (die ich in jedem anderen Fall als Notwehr, oder zum Schutz von Sicherheit und bis zu einem gewissen gerade Eigentum anderer für unzulässig halte) werden aber für Gewöhnlich in den Medien (zu rcht) sehr breit präsentiert und angeprangert. Politiker werden sowieso (leider auch in vielen Fällen zu recht) angeprangert. Da ich weder Frankreich in ins Spiel gebracht habe, noch behauptet habe ein kenner französischer Verhältnisse zu sein wäre es wohl besser wenn Du (zumal es auch Deine Idee und Frage war) Dich mit der Frage an die französische Regierung wendest. Auf die Antwort bin ich auf jeden Fall gespannt.

Padreic
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So 15. Mär 2009, 13:14 - Beitrag #59

@Lykurg: ich glaube, dass sich unsere Ansichten da nur graduell unterscheiden, und sie primär aus emotionalen Gründen anders formuliert sind.

Natürlich gestehe ich niemandem zu, aus persönlicher Freiheit heraus Leute abzuschießen und ganz vor allem keine unschuldigen Kinder. Und natürlich soll man, so bald irgendwo halbwegs eindeutige Zeichen für die Absicht, einen Amoklauf zu begehen, bestehen, einschreiten und natürlich ist hier eine Zwangseinweisung ein Mittel.

Wovor ich warnen will, ist eine emotional bedingte Hysterie. Der Vergleich mit McCarthy war vielleicht nicht ganz passend, aber was ich damit ausdrücken wollte, war die Mahnung gegen den Exzess. Wenn ein Klima erreicht ist, wo jeder Jugendliche, der vielleicht isoliert ist, und einmal sagt "Dann knall ich euch halt alle ab." gleich unter Amokverdacht steht und in eine Psychatrie eingewiesen wird, halte ich das sicherlich für keinen Fortschritt.

Es gibt andere Bereiche, wo geringere Einschränkungen mehr bringen könnten. Wenn man von persönlichen Freiheiten redet, denke ich z. B. sofort an eine Impfpflicht, besonders für Masern; oder auch an ein konsequenteres Durchsetzen der Gurtpflicht, mit drakonischen Strafen zum Beispiel; stärkere Sicherheitsbestimmungen für LKWs etc. pp.
Vermutlich renne ich zumindest im Prinzip hier ohnehin offene Türen ein und ein Handeln in einem Bereich schließt natürlich kein Handeln in einem anderen Bereich aus. Und Lykurg, du hast ganz recht, es lässt sich vieles leichter sagen, wenn man selbst nicht persönlich daran beteiligt ist. In der Politik muss man leider manchmal Tote gegen andere Faktoren abwägen; es ist gewissermaßen Wahnsinn, aber leider notwendig. Und auch hier muss eine gewisse Rationalität vorherrschen. Die emotionale Grundlage des Helfen-Wollens und des Schlimmes-Verhindern ist wichtig; dabei muss man natürlich die Natur der menschlichen Emotionalität beachten, dass sie sich von den großen Ereignissen mehr beeindrucken lässt als von vielen einzelnen anonymen Toten - wenn Leute, die man kennt persönlich betroffen sind, ist die irrationale Komponente natürlich noch sehr viel stärker vertreten.

Ich glaube, wenn es konkret würde, würden wir da gar keine so unterschiedlichen Positionen vertreten.

Lani
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So 15. Mär 2009, 13:49 - Beitrag #60

Ich hab nicht alles hier und sonstwo, wo man so über den Typen liest, kleinlich und genau durchgelesen, aber ich habe es immerhin halbwegs versucht (so dämlich das jetzt auch klingt).
Und muss doch nochmal meinen Senf abgeben.

Ich find's ja irgendwie süß, wie einige ehrenhaft den Täter verstehen wollen. Das vielleicht Person a, b oder auch c "gemein" zu ihm war. Diese Person a ist dann also böse. Nur: Vielleicht hat jemand Person a auch mal was angetan, weswegen sie gemein zu unserem schnuckeligen Amokläufer war? Und die Person, die fies zu Person a war, war das vielleicht nur, weil ihr Onkel...und der Onkel, der hat das nur gemacht, weil und so....und schließlich hat der das nur gemacht, weil Jesus ihn nicht vor seiner Erblindung retten konnte.

Was ich damit sagen will: Wenn man es schon unbedingt haben muss, ein "Mitleid" zu entwickeln, dann sollte man doch bitte direkt die ganze Welt bemitleiden und zwar von Anfang an.

Wäre er nie in Therapie gewesen, wären immer alle lieb zu ihm gewesen und er hätte einfach geschrieben "Sorry, mir is langweilig, ich knall nun jemanden ab", dann würden wohl mehrere sagen, dass die ganze Sache einfach von a-z scheiße war. Aber sobald es dem Täter irgendwann mal in seinem Leben mies ging, müssen wir ihn natürlich alle bedauern. :(

PS: Ging wieder nicht nur an die User hier, letztes Mal wollte sich dann ja doch der ein oder andere rechtfertigen, obwohl ich das da bereits erwähnt hatte.

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