Der Göttinger Forschungsskandal - ein Einzelfall?

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janw
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Sa 20. Jun 2009, 15:00 - Beitrag #1

Der Göttinger Forschungsskandal - ein Einzelfall?

Vor einiger Zeit war zu lesen, daß in einem Sonderforschungsbereich an der Uni Göttingen bei einem Fördermittelantrag Publikationen genannt wurden, die noch gar nicht geschrieben waren, durch Mehrautorschaft wurden diese dann auch in Listen anderer Wissenschaftler des SFB erwähnt.
Außerdem soll es zu Fehlverwendungen von Mitteln gekommen sein.

Mittlerweile wird gegen 16 Wissenschaftler ermittelt, der Förderantrag wurde zurückgezogen, möglicherweise fordert die DFG als Mittelgeber bereits vergebene Fördermittel zurück.

Näheres dazu
im Tagesspiegel und
hier

Mir stellt sich dabei die Frage, ob dies nur ein Einzelfall ist. Angesichts des Konkurrenzkampfes um Fördermittel, bei dem die Zahl von Publikationen als wesentlicher Maßstab für die Bewertung der bisherigen Arbeit gilt, würde ich eher von einer Regel ausgehen.
Aber...ist dem so? Und wenn, wie könnte dem abgeholfen werden? Woran krankt die Forschungslandschaft im Grunde?

Lykurg
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Sa 20. Jun 2009, 17:42 - Beitrag #2

Es handelt sich tatsächlich um ein Systemproblem. Die DFG-Mittel sind zur Durchführung von größeren Projekten unerläßlich, an denen in der Universtätslandschaft eine Vielzahl von befristeten Jobs hängen. Dementsprechend hart ist der Druck auf die Beteiligten, ihr Projekt bewilligt zu bekommen, da sie ansonsten im Zweifel auf der Straße sitzen, zugleich ihre Chancen auf eine spätere Festanstellung schwinden. Das Verfassen von Förderanträgen ist zu einer eigenen Wissenschaft geworden, man weiß (oder glaubt zu wissen), was die allmächtigen DFG-Gutachter hören wollen, und stimmt daran die Ausrichtung des gesamten Projekts eben so ab wie die Entscheidungen in Detailfragen (von Stellenbesetzungen über die einzuladenden Tagungsgäste bis zum Titel von Vorträgen und Publikationen). Bestimmte Schlagwörter müssen fallen, einige Forscher müssen, andere sollten lieber nicht genannt werden usw.

Ihren Ursprung hat diese Entwicklung meines Erachtens in den Einsparungen, die seit den 70ern zumindest in den Geisteswissenschaften zum weitgehenden Abbau des akademischen Mittelbaus geführt haben. Forscher, die früher von den Universitäten gehalten worden wären und die Möglichkeit hatten, Lehre und Forschung miteinander zu verbinden, werden nun gezwungen, sich in DFG-Projekten Sporen zu verdienen, die ihnen später eine Professur einbringen können. Den Universitäten fehlen einfach die Mittel, sie solange zu alimentieren, was zugleich dazu führt, daß wissenschaftliche Karrieren auf immer unsichereren Füßen stehen. Wenn ein Forscher in die Nähe einer geisteswissenschaftlichen Professur kommt, hat er altersmäßig auf dem freien Markt nicht mehr allzu viele Chancen.

Den Göttinger Fall bewerte ich als halb so wild. Diese Anträge müssen so weit im Voraus formuliert werden, daß tatsächlich ein erheblicher Teil davon auf Voraussagen beruht, die zwangsläufig im Moment der Bewilligung schon obsolet sind (wenn ich mir z.B. den Antrag, der meine Stellenbeschreibung enthält, angucke...^^). Die Ergebnisse des Projekts müssen in gewissem Maße prognostiziert werden, was zwar seitens der DFG verständlich, in der Praxis aber problematisch und mißbrauchsfördernd wirkt. Da ist die Nennung von in Planung befindlichen Publikationen, die dann eben doch nicht zustandekommen, halb so wild - ernster wäre es, wenn über bereits Veröffentlichtes die Unwahrheit verbreitet würde - aber derartiges ließe sich natürlich auch leichter nachprüfen.

Ipsissimus
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So 21. Jun 2009, 11:07 - Beitrag #3

ich teile Lykurgs Einschätzung weitgehend. Aus der Situation, wie sie z.B. an dem Forschungsinstitut herrscht, an dem ich arbeite, kann ich für die Situation nichtuniversitärer Forschungseinrichtungen ergänzen, dass diese Arbeit zur Akquisition von Forschungsmitteln zumindest phasenweise zwei Drittel bis vier Fünftel der Tagesarbeit eines Wissenschaftlers ausmacht. Ausgnommen von der Tretmühle ist übrigens die MPG mit 100% staatlicher Finanzierung.

janw
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So 21. Jun 2009, 12:19 - Beitrag #4

Wie könnte dem nun aber abgeholfen werden?
In Göttingen wurde wohl in die Richtung gegangen, daß nicht mehr die ganze Liste der Publikationen ausschlaggebend sein soll, sondern quasi drei "knackige" Publikationen reichen.
Wobei die Sache natürlich schon etwas absurd wird, wenn Mittel beantragt werden für weitere Forschungen, aber schon Ergebnisse als fix angegeben werden sollen, um deren weitere Absicherung es ja in dem Vorhaben geht.
Mal abgesehen davon, daß die Anträge von Wissenschaftlern beurteilt werden, die teils selbst in der Richtung arbeiten - wie wird da gesichert, daß diese nicht selbst Ergebnisse abgreifen und verwursten?
Entsprechendes wurde mir mal über das peer-review-System berichtet.

Ipsissimus
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So 21. Jun 2009, 14:12 - Beitrag #5

Wie kann man dem Schwachsinn an sich intelligenter Menschen begegnen? Interessante Frage. Ich habe mal irgendwo gelesen, dass Teams wesentlich bessere Ergebnisse ihrer Arbeit erzielen, wenn sie sich aus Experten und Nichtexperten gleichermaßen zusammensetzen, weil erst die Nichtexperten die Experten zwingen, ihre Ergebnisse so zu formulieren, dass sie bewertungsfähig werden und dann auch sehr viel sorgfältiger ausformuliert werden. Vielleicht wäre das auch bei der Verteilung von Zuschüssen ein vernünftiges Mittel? Bei Antragstellern und Antragnehmern auch Nichtexperten in den Kommissionen?

Lykurg
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So 21. Jun 2009, 15:10 - Beitrag #6

Ipsissimus, daß das Formulieren entsprechender Anträge und Berichte einen großen Teil der Arbeitskraft und -zeit vieler Wissenschaftler einnimmt, sehe ich auch (der Rest geht für Verwaltungsaufgaben drauf). Ob die Situation durch Einbindung von Nichtexperten besser wird, weiß ich nicht. In welchem Bereich wurde die Studie durchgeführt? Handelte es sich um Fachfremde aus eher benachbarten Disziplinen oder um Laien? Möglicherweise führt das zu mehr gesundem Menschenverstand in der Entscheidungsfindung, vielleicht sogar zu mehr Ergebnissen, aber ob sie davon besser werden, weiß ich nicht. - Meines Erachtens kommen wir längerfristig um einen kompletten Umbau der Hochschulfinanzierung nicht herum.

Ipsissimus
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So 21. Jun 2009, 20:06 - Beitrag #7

wenn du damit etwas in der Art meinst wie "Wirtschaftsliberalismus in den innersten Strukturen der Wissenschaft", dann stimme ich dir zwar zu, dass das kommen wird, befürchte aber gleichzeitig für Wissenschaft und Menschheit das Schlimmste^^ Mona Lisa Overdrive winkt schon mal von Ferne

Lykurg
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So 21. Jun 2009, 21:12 - Beitrag #8

Da ich "Mona Lisa Overdrive" nicht gelesen habe, entgeht mir der tiefere Sinn der Anspielung leider. - Ich fürchte ebenfalls, daß es so kommen wird - daß, wie bisher praktiziert, Reformen nur wieder weitere Zusammenstreichungen bedeuten und in die Hände von dafür hervorragend qualifizierten Bürokraten gelegt werden. Im schlimmsten Fall wird Forschung tatsächlich reduziert auf Patente.

Hinter dem mir vorschwebenden Ideal steht ein Zeitbegriff, der in der heutigen Universitätslandschaft gar nicht mehr zu gelten scheint; die Möglichkeit zu solider Grundlagenforschung auf allen Gebieten um ihrer selbst willen; Korrektur von Auswüchsen durch Kritik innerhalb des Faches, und ein Abgehen von der derzeitigen Struktur, die zwischen allmächtigen Ordinarii und tippelnden Lehrbeauftragten eine Schranke zieht. Die Universitäten sollten die Mittel haben, auch Spitzenkräfte im Land zu halten, mit angemessenen Assistenten zu versorgen und Anreize für herausragende Lehre und Forschung ebenso zu bieten wie gute Versorgung in der Breite sicherzustellen, aber auch die Möglichkeit haben, diesbezügliche Mängel wirkungsvoll zu sanktionieren. Eine stabile Finanzierung der Universitäten - unabhängig von sparwütigen Landesregierungen - wäre notwendig. Dazu müßten auch Studiengebühren zwar einen Anteil leisten, es gälte aber sicherzustellen, daß der kommunale Anteil nicht kleiner wird, zudem Einnahmen aus Studiengebühren nicht - wie derzeit - zweckentfremdet werden. Längerfristig wären ergänzend große Stiftungen, die entsprechende Stipendien vergeben, anzustreben.

Ipsissimus
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Mo 22. Jun 2009, 10:02 - Beitrag #9

"Mona Lisa Overdrive" ist zusammen mit "Neuromancer" und "Biochips" Teil einer Romantrilogie, die ein ganzes Genre innerhalb der Science Fiction-Literatur begründete, den Cyberpunk (Neuromancer war der erste, Biochips der zweite Teil). Im Kontext dieser Diskussion hier ist dabei die Vision einer relativ nahen Zukunft wichtig, in der internationale Konzerne die Regierungen der Nationalstaaten zur Bedeutungslosigkeit degradiert haben und als Alleinherrscher - begrenzt ausschließlich durch den mehr oder weniger militanten Kampf gegen ihresgleichen - u.a. auch festschreiben, worüber geforscht wird, wie Forschungsmittel verteilt werden und wie die Forschungsergebnisse verwendet werden. Und Geisteswissenschaften gibt es so gut wie keine mehr.

Studiengebühren halte ich für kontraproduktiv; ansonsten stimme ich deinem dir vorschwebenden Ideal durchaus zu, welches im Prinzip dem klassischen Bildungsideal entspricht, nur ein bisschen aufgepeppt.


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