Paradigmenwechsel/Meinungsänderung

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e-noon
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Do 8. Okt 2009, 17:28 - Beitrag #1

Paradigmenwechsel/Meinungsänderung

Im Prinzip mehr rhetorische Fragen, die man wohl letztlich nur mit "is halt so" beantworten kann... aber ich versuchs trotzdem mal:

Warum haben so viele Leute Schwierigkeiten mit Paradigmenwechsel, dh. größeren Meinungswechseln? Warum stehen sie diesen ablehnend gegenüber? Wo sehen sie die Gefahr, durch bessere Argumente schlechter dazustehen?
Ich persönlich wäre immer neugierig, wenn jemand sagt, er habe eine neue Theorie über die Welt mit neuen, guten Argumenten. Man merkt ja meist nach fünf Sekunden, ob es ein dämlicher Troll ist oder ein ernsthafter Mensch, Zeitverschwendung kann also nicht das große Problem sein. Ehrlich gesagt würde ich wahrscheinlich vor Neugier platzen, wenn jemand, den ich kenne, mir so etwas sagen würde. Warum gibt es Leute, bei denen genau das Gegenteil der Fall ist, bei denen die Einstellung "Ich habe meine Meinung, jetzt bitte keine Fakten mehr" zum Lebensmotto geworden ist? Ist das nicht irgendwie... traurig?

Lykurg
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Do 8. Okt 2009, 21:56 - Beitrag #2

Die Sorge davor, sich auf völlig neue gedankliche Ausgangslagen einlassen zu müssen, sich neu zu verorten und eine Position, die nicht die eigene war, nun auch noch gegen andere verteidigen zu müssen? Das Gefühl, geistig versagt zu haben und der Person, die einen überzeugt hat, intellektuell unterlegen zu sein? (wesentlich schlimmer als eine körperliche Unterlegenheit, versteht sich)? Schiere Bequemlichkeit, einer Diskussion auszuweichen, die einem mühsam erscheint, gerade weil sie liebgewordene Gewohnheiten gefährdet? Sorge vor einem Dominoeffekt, der nach einem Paradigma auch weitere umstürzt, wenn man sich dem Gedankengang wirklich überläßt? Nur ein paar ganz unmotivierte Vermutungen. ;)

009
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Fr 9. Okt 2009, 05:36 - Beitrag #3

Der Mensch ist ein Gewohnheitstier, oft auch sicherheitsliebend. Gewohnheit, Stabilität - da kommt es schlecht, wenn er sich auf grundlegend neue Dinge einstellen muss, konnte er bislang doch mit dem althergebrachten zumindest überleben.

e-noon
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Fr 9. Okt 2009, 09:58 - Beitrag #4

Hm, klingt logisch ^^ Ist denn das Sicherheitsbedürfnis auch in intellektuellen Dingen so dermaßen groß? Ich meine, ich hätte auch keine große Lust, Solipsist zu werden, das heißt mich der Erkenntnis zu ergeben, dass alle Menschen, die mir so am Herzen liegen, nur Produkte meiner Phantasie sind...
Hm, vielleicht ist das so für Gläubige, die an Gott glauben? Sie wollen nicht darüber diskutieren, weil sie insgeheim wissen oder zumindest fürchten, dass sie im Unrecht sind, und wollen nicht, dass sich ihr alter Freund als Hirngespinst herausstellt?
Was verliert man aber dann, sagen wir, wenn man eine Ideologie aufgibt? Den Sinn für richtig und falsch?
Und inwiefern hat man geistig versagt, wenn man sich durch Argumente (die man ja immerhin erst verstehen muss, um auf ihnen eine Meinung aufzubauen) zu einer begründeteren Meinung bewegen lässt? Für mich wäre das eher ein Fortschritt! Liegt es an unserer Kultur, dass der, der auf seiner Meinung beharrt, als stärker betrachtet wird als der, der bereit ist, seine Meinung zu ändern? :confused:

Ipsissimus
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Fr 9. Okt 2009, 11:34 - Beitrag #5

meiner Ansicht nach verändert sich die Dramatik eines Paradigmenwechsels auch in Abhängigkeit vom Alter. In früheren Lebensabschnitten, wenn die eigene Abgeklärtheit noch nicht sonderlich fortgeschritten ist, dürfte es wohl so sein, dass die Aufgabe von Grundannahmen als eine Art Niederlage empfunden wird; das "empfunden" besagt schon, dass dabei durchaus Intellekt - der den Wechsel ja vollzieht - und Gefühl im Widerstreit liegen können.

Je älter mensch wird - jedenfalls geht es mir so - desto deutlicher kristallisiert sich sowohl auf intellektueller wie auch auf emotionaler Ebene heraus, dass fast alles, was mensch unhinterfragbar für wahr hält, nur Durchgang zu etwas anderem ist, was seinerseits auch wieder nur Durchgang ist ... regressum ad mortem

Andererseits beruhigt sich das Ganze wiederum dadurch, dass die Bereitschaft steigt, ohne Grundannahmen über das Sosein der Welt und der Menschen auszukommen und sich mit aktueller Evidenz der Phänomene zu bescheiden. Je weniger Grundannahmen ich habe, desto weniger können offensichtlich wechseln. Am Ende bleibt eigentlich nur noch eine fundamentale Dichotomie offen. Will ich völlig ohne Grundannahmen leben, oder will ich gegen besseres Wissen um meiner Systemstabilität willen so tun, als gäbe es da doch was. In letzterem Fall hätte ich wahrscheinlich noch ein paar Regress-Schleifen vor mir.

Die Wahrheit ist: wir sind auf Treibsand gebaut. Schlieren im Nebel.

Lykurg
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Sa 10. Okt 2009, 00:33 - Beitrag #6

Ipsissimus, das mag in manchen Fällen so sein; allerdings gibt es auch die Phänomene des Altersstarrsinns und der jugendlichen Verführbarkeit... Ich würde hier also jedenfalls äußerlichen Veränderungen gegenüber eine gewisse Umkehr für wahrscheinlicher halten. Viele vertreten ja auch in jungen Lebensjahren andere (oft auch radikalere) politische Positionen als ab der Lebensmitte, was eher für Wandel- und Beeinflußbarkeit spräche als dagegen.

Ipsissimus
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Di 13. Okt 2009, 13:44 - Beitrag #7

Lykurg, meiner Ansicht nach sind Paradigmenwechsel ohnehin nur etwas für Menschen, die das Wundern und Fragen nicht verlernt haben^^ bei allzu jungen Menschen, die noch in der Meinungsbildungsphase sind, scheue ich mich ohnehin, von Paradigmen zu sprechen.

Andererseits bedeutet der Verzicht auf Paradigmen eben nicht, der Beliebigkeit anheim gegeben zu sein, wie du es anscheinend befürchtest. Hermann Hesse ließ seinen Josef Knecht mal zum Musikspielmeister etwas in der Art sagen (Gedächtniszitat): "Je mehr du das Spiel und seine Grundlagen verstehst, desto mehr stehst du bereits wieder außerhalb des Spiels, desto mehr hast du das Spiel hinter dir gelassen." Der Musikspielmeister war daraufhin sehr beunruhigt, aus seiner Perspektive zurecht, wenn man das Ende Knechts betrachtet^^

trotzdem würde man Knecht alles unterstellen können, nur keine Beliebigkeit und keinen Altersstarrsinn^^

Lykurg
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Di 13. Okt 2009, 14:22 - Beitrag #8

Ein guter Anlaß, das Glasperlenspiel endlich mal zu lesen. - Insofern hast du schon etwas erreicht. Bild

Damit sind wir aber schon bei einer starken Untergrabung der Grundfrage - denn wo beginnt dann ein Paradigma? Ab wann darf man die Meinung eines Menschen ernstnehmen, ohne sie als flüchtige Laune, ein Nebenprodukt ihres Meinungsbildungsprozesses, abzutun?^^

Beim völligen Verzicht auf Paradigmen sehe ich diese Gefahr schon, da ich auch die Werte, anhand derer über Positionen in Detailfragen zu entscheiden wäre, in diesen Bereich einordnen würde... und deren Nichtvorhandensein in der Tat alles ermöglichte.

Ipsissimus
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Di 13. Okt 2009, 15:15 - Beitrag #9

Das Glasperlenspiel ist eines meiner alltimes top ten^^

nun, ich nehme auch die Meinung sehr junger Menschen, selbst Kinder, überaus ernst; ich erachte sie allerdings nur in den seltensten Fällen als stabil und dauerhaft (meine eigenen Meinungen sind es ja noch nicht mal^^).

Ein Paradigma ist aber nicht eigentlich eine Meinung, noch nicht mal eine Anzahl von Meinungen, sondern eher die unhinterfragte Axiomenbasis, die zur Meinungsbildung meist unbemerkt herangezogen wird. Die Summe der Prämissen, wenn du so willst.

Meinungen ändern sich wie Flugsand im Wind, jede neue Information modifiziert sie, und daran ist erst mal nichts Schlimmes. Die Prämissen ändern sich bei weitem nicht mit dieser Geschwindigkeit, und von einem Paradigmenwechsel spreche ich eigentlich nur dann, wenn sich mit einem Schlag ALLE oder zumindest eine signifikante Anzahl derselben nicht nur ändern, sondern schlicht wegfallen und durch andere ersetzt werden.

Natürlich sind die Auswirkungen auf die internen Wertetabellen dramatisch. Da ich das in meinem Leben aber bereits mehrmals in der eigenen Psyche erlebt habe, kann ich mich dafür verbürgen, dass es überlebt werden kann^^

Allerdings hat es mein Empfinden für innere Freiheit empfindlich verschärft. Die Werte-Sicherheit, bei deren Nichtvorhandensein du drohende Entgleisung befürchtest, stelle ich nur noch über "inneren Abgleich" her, sprich, ich bin mir meiner selbst sicher, nicht irgendwelcher externer Vorgaben^^

Aydee
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Mi 14. Okt 2009, 10:11 - Beitrag #10

Kann das nur aus meiner Sicht beschreiben:

Solange meine kleine Welt von den Meinungen anderer & Veränderungen nicht unmittelbar oder länger anhaltend betroffen war, "verschwendete" ich keinen Gedanken an sie; sie waren irrelevant und ihre Änderung oder Nichtänderung ebenfalls.
Als meine kleine Welt selbst Veränderungen erfahren musst, und ein paar von meinen unumstößlich gehaltenen Vorstellungen ins Wanken gerieten und umstürzten, sah die Sache anders aus. Sagen wir, mein Blickwinkel verschob sich, manchmal brach er, ein paar Türen öffneten sich, und "Feste Meinungen" stellten sich häufig als gar nicht so fest heraus, oft jedoch als schlicht "nicht hinterfragt", nur angenommen, übernommen. "In ein tiefes Loch fallen" trifft es sehr gut, was ich vorher wusste, und ja, Schiss hatte ich davor. Sicherheit. Jede Säule die brach, erhöhte die Fallgeschwindigkeit, und verstärkte das Strampeln um Sicherheit. Die ausblieb.
Seitdem fällt es mir schwer, neue "Feste Meinungen" "zu entwickeln" (Treibsand ist ein guter Vergleich) Ein paar der alten stehen noch immer auf ihren Podesten :) wir belauern uns sorgfältig und schließen Wetten ab, wer als erstes stürzt :). Die alten fixen Vorstellungen dröseln sich langsam auf, ohne durch neue fixe Vorstellungen ersetzt zu werden. Was nicht bedeutet, dass ich neuen Ideen offen(er als früher) gegenüberstehe, oder Veränderungen freudig umarme, aber sie gehören nicht mehr unbedingt zum "Feindbild" :) und ich bin ich-bezogener als früher.


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