Afghanistan

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Ipsissimus
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Do 24. Jun 2010, 12:13 - Beitrag #1

Afghanistan

eine erstaunlich luzide Darlegung im Stern online zur Politik der USA in Afghanistan (mit einem klitzekleinen Abstecher in den Irak^^). Es geht zwar primär um General McChrystal, aber die Nebensätze haben es in sich^^ besonders brilliante Passagen habe ich in fett gesetzt (und einen offensichtlichen Schreibfehler in einer Zwischenüberschrift korrigiert)

http://www.stern.de/politik/ausland/geschasster-afghanistan-oberbefehlshaber-mcchrystal-general-mccrazy-fliegt-die-kriegsluege-bleibt-1576831.html

Offizielle Treffen mit Vier-Sterne-General Stanley McChrystal waren ein stets gleich bleibendes Zeremoniell. Chrystal erklärte mir, Kollegen, Delegationen in ausgesuchter Höflichkeit seine Strategie. Oder das, was er so nannte: mehr Truppen, gezielter zuschlagen, aber gleichzeitig viel mehr Rücksicht auf die Bevölkerung nehmen, für die eroberten Gebiete eine "government in the box" schaffen, mithin das Verwaltungspersonal gleich im Gepäck zu haben. In Kurzform sah die Strategie vor, raffinierter zu töten, zugleich viel netter zu sein und nebenbei noch den Staat aufzubauen.

Auf Vorhaltungen, dass dies offenbar nicht so recht funktioniere, kam, den Kopf aufmerksam schräg haltend, stets die gleiche Antwort: "It's a challenge", ja, es sei eine Herausforderung. Ungesagt: Aber dafür sind wir ja hier, diese zu bewältigen.

Konfrontierte man ihn mit Beispielen, dass auch die neu eingesetzten afghanischen Spitzen korrupte Drogenhändler und Mörder seien, kam die nächste Stufe im Antwortprogramm: "Yeah, it's critical", wirklich schwierig. Aber dafür seien sie ja hier, das Unmögliche möglich zu machen.

Zumindest bis gestern. Denn gestern stürzte Amerikas wichtigster General.
Ein Kontrollfreak schießt sich ins Aus

Es waren nicht die Taliban, die ihn besiegten, er stolperte nicht über ein Massaker an Zivilisten, zu Fall brachte ihn das Musikmagazin "Rolling Stone". Oder genauer: zu Fall brachte ihn die Annahme, dass man in Gegenwart eines Journalisten den amerikanischen Präsidenten, dessen Vize, den Nationalen Sicherheitsberater und diverse andere eher mächtige Männer zu Clowns, Weicheiern und Idioten erklären kann. Kann man nicht, das weiß McChrystal spätestens jetzt. Seine Annahme rührt ja auch irgendwie am Grundsatz, dass in einer Demokratie nicht die Militärs den Zivilisten sagen sollten, was sie zu tun und zu lassen haben - sondern dass es sich zumindest in der Theorie umgekehrt verhält.

Was aber mag McChrystal, diesen überkontrollierten, auf Knopfdruck charmanten Kontrollfreak geritten haben, sich selbst so zielsicher ins Aus zu schießen?

General McChrystal sollte dafür sorgen, dass die USA Afghanistan binnen kurzer Zeit erhobenen Hauptes würden verlassen können. Aber diese Aufgabe, besser: Mission, war so unschaffbar, jenseits aller Chancen, dass McChrystals Team begann, sich eher wie die Besatzung eines Raumschiffs zu fühlen denn als Untergebene ihrer fernen Regierung. Im kleinen Kreis haben McChrystal und seine verschworene Entourage oft so geredet, wie es "Rolling Stone" nun dokumentierte. Voller Verachtung für die Ignoranz, die Eitelkeit der Politiker, die keinen blassen Schimmer hatten, wie sie irgendetwas in Afghanistan erreichen könnten.

Und hatten McChrystals Männer nicht recht zumindest in ihrer Arroganz? Waren sie nicht diejenigen, die in der Scheiße saßen, deren Männer von Sprengsätzen zerrissen, erschossen wurden, die Seite an Seite mit einer afghanischen Armee kämpfen sollten, deren Offiziere ihren Treibstoff und ihre Waffen verkaufen? Seite an Seite mit einem afghanischen Präsidenten, der eher das Land vollends vor die Hunde gehen lässt, als den Drogengroßhandel seines Halbbruders anzurühren? So selbstverständlich war die Verlogenheit des ganzen Unternehmens geworden, dass jedem doch klar sein musste, dass es eine Lüge ist.

[...]

Wir hier gegen die da draußen

Wir hier gegen all die Idioten da draußen. Das war ungefähr die Gefühlslage in McChrystals Führungsstab. [...] Einen Monat lang ließen sie sich vom Reporter des "Rolling Stone" begleiten und nahmen seine gemurmelten Ausflüchte als Einverständnis hin, wenn sie dieses oder jenes Zitat nicht gedruckt sehen wollten. Vorgestern dann, kurz vor McChrystals Abflug nach Washington, saß sein Stab fassungslos in den Büros. Damit hatten sie einfach nicht gerechnet. Dabei waren sie doch der Welt und sich als letzte Rettung erschienen, desto schlechter die Lage in Afghanistan auch wurde.

"COIN", McChrystals wundersame Anti-Aufstands-Strategie, mit weniger zivilen Opfern, zivilem Aufbau und Razzien ohne Türeneintreten hatte gut geklungen - aber ihr Erfolg war von Anfang an unvereinbar gewesen mit dem Zeitrahmen, den ihr Obama dazugegeben hatte: Ab Juli 2011 soll mit dem Rückzug begonnen werden. Denn danach beginnt bald der amerikanische Vorwahlkampf, und ein ungelöster, gar verlorener Krieg gehört nicht zu den Dingen, die einen Kandidaten siegen lassen.

Amerikas Afghanistan-Strategie, die echte wie die vermeintliche, ist ein faszinierendes Spiel, ein skrupelloses, bei dem es um eines zuallerletzt geht: die Afghanen. Zu viel ist über achteinhalb Jahre falsch gemacht worden, zu illusionär, unmöglich und chaotisch waren die munter wechselnden Pläne, Afghanistan zu befrieden. George W. Bush war weder an Demokratie, noch an Nation-Building interessiert, sondern daran, Osama Bin Laden umbringen zu lassen. Also wurden die finstersten Warlords wieder an die Macht gehievt - wo sie bis heute sitzen. Jetzt geht es für Washington nur noch um eines: abziehen zu können, ohne dass es allzu deutlich nach Niederlage aussieht.

Petraeus und die Wirklichkeit seiner Irak-Mission

Im Irak ist McChrystals Mentor, Ex-Chef und nun Nachfolger David Petraeus das Kunststück gelungen: soviel Ruhe, soviel Zeit zu kaufen, dass der Krieg nicht gewonnen war - sondern einfach aus den Medien verschwand. Für jede US-Regierung läuft das aufs Gleiche hinaus. Für rund zwei Jahre waren so ziemlich alle irakischen Milizen schlicht mit US-Dollars gekauft worden und brachten zwar immer noch Iraker um, aber keine Amerikaner mehr. Das reichte, den Irak aus den amerikanischen Schlagzeilen und Abendnachrichten verschwinden zu lassen. Egal, wie schlecht die Situation seither geworden ist, egal wie oft wieder Selbstmordattentäter sich in Bagdad und andernorts inmitten von Menschenmengen sprengen, egal wie dreist Präsident Nuri al-Maliki die Wahlen fälscht - als Thema ist der Irak erledigt, und damit auch politisch kein Problem mehr.


Genau das sollte McChrystal auch in Afghanistan schaffen. Zeit kaufen. Damit der Abzug früh genug vor den nächsten US-Präsidentschaftswahlen beginnen kann und das Thema Afghanistan erledigt ist. Genau das tat er - nur konsequenter als alle anderen in der US-Regierung, die Karzai in der einen Woche am liebsten absetzen wollten und in der nächsten wieder hofierten. McChrystal wusste, dass er diese Illusion eines funktionierenden Afghanistan nur aufrecht erhalten konnte, wenn er auch die Illusion Karzai mit erhielt. Oder wie es eine Amerikanerin formulierte, die seit langem in Kabul lebt: "Karzai tut so, als ob die Amerikaner gewinnen, und sie tun so, als ob er ein legitimer Präsident wäre". Ungeachtet der Drogengeschäfte seines Halbbruders in Kandahar, der dort eine mafiöse Schreckensherrschaft aufgebaut hat, deren Kritiker in den letzten Monaten in Serie von, selbstredend, Unbekannten umgebracht wurden. Ungeachtet dessen, dass fast ein Jahr nach der Präsidentschaftswahl die Hälfte der Ministerien noch immer nicht besetzt ist, während Karzai ausschließlich daran interessiert ist, seine Günstlinge an die Macht zu bringen. Ungeachtet der Tatsache, dass eine der dringendsten Amtshandlungen nach seiner Wiederwahl darin bestand, die Wahlbeschwerdekommission auszuhebeln, um sicherzustellen, dass die Fälschung der Parlamentswahlen diesen Herbst reibungslos vonstatten gehen kann.

Alles egal. Den Chef der "Grenzpolizei" am wichtigsten Grenzübergang nach Pakistan in Spin Buldak nahe Kandahar, "Commander Razik", bezeichnete McChrystal in Gegenwart eines stern-Reporters als "guten Mann". Der Mann hat den Drogenhandel dort unter seine Kontrolle gebracht, ließ und lässt von seiner Truppe Konkurrenten und Missliebige umbringen. Egal. Ein Partner.

McChrystal, lange Zeit Befehlshaber der geheimen US-Kommandoperationen vor allem im Irak, "der beste Killer des Militärs", sollte die Atempause verschaffen. Es wäre ein zynischer Erfolg geworden, denn er hätte die Afghanen anstatt in den Händen der Taliban in jenen konkurrierender Warlords zurückgelassen. Das hätte Washington kaum gestört. Nun aber hat Obama genau den Mann gefeuert, dem dieser Erfolg wohl noch am ehesten gelungen wäre. Würde Mullah Omar, spiritus rector der Taliban, Alkohol trinken - in Karachi würden die Champagnerkorken knallen.

Lykurg
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Do 24. Jun 2010, 15:29 - Beitrag #2

Ja, eindrucksvoll, ich finde auch schon den Raumschiff-Vergleich ziemlich faszinierend, gerade wenn man sich den Fuhrpark der internationalen Truppen in Afghanistan ansieht - und ihre verständliche Abneigung dagegen, sich außerhalb dieser und ihrer Basen zu bewegen. Worauf der Artikel aber meines Erachtens zu wenig eingeht, ist, warum bei aller Aufmerksamkeit, die dem General verständlicherweise schon längst galt, diese seine Ansichten nie zuvor sichtbar wurden. Der Stern bezeichnet ihn als Kontrollfreak und unterstreicht die schematischen Antworten, aber es scheint mir doch sehr eigenartig, daß nie zuvor etwas in dieser Richtung bekannt wurde. Ob da nicht doch eine selbstauferlegte Zurückhaltung der Mainstreammedien mit im Spiel war?

Angesichts der fortbestehenden Macht und steigender Erträge der Opiumbarone ist noch nicht einmal gesichert, daß sich der Krieg mit Geld ähnlich 'unschädlich' machen ließe wie im Irak. Nur: wo sind die Alternativen?

Ipsissimus
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Fr 25. Jun 2010, 11:31 - Beitrag #3

Nun, eine Alternative zu Krieg ist immer "kein Krieg", zumindest in der Theorie^^

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Fr 25. Jun 2010, 11:46 - Beitrag #4

Das haben wir doch laut offizieller Sprachregelung. Bild

Ipsissimus
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Fr 25. Jun 2010, 12:56 - Beitrag #5

dann brauchen wir die offizielle Sprachregelung nur noch Wirklichkeit werden zu lassen^^


aber ich denke, du hast im Prinzip mit den Opiumbaronen natürlich den springenden Punkt getroffen: wir wollen noch längst nicht bedingungslos, einfach so, keinen Krieg mehr dort machen. Bevor wir - die internationale Gemeinschaft gegen Afghanistan - an den Punkt kommen, an dem die Amerikaner in Vietnam am Ende standen, benötigen wir noch ein paar 10000 Tote unter unseren Soldaten. Schade um soviel weggeworfenes menschliches Potential, aber wohl nicht zu ändern, wenn die Konzerne es so wünschen.

Lykurg
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Fr 25. Jun 2010, 15:34 - Beitrag #6

Ich zweifle nach wie vor sehr daran, daß es 'die Konzerne' waren, die den Afghanistan-Krieg wollten. Für den Irak kann man darüber reden - Öl, insbesondere in der Währungskoppelung, und die Sicherung geostrategischer Positionen, mögen dazu beigetragen haben. Die wesentlich stärkere Motivation hinter Afghanistan war aber der Wunsch nach Vergeltung für 9/11, Auslieferung der Täter und der Zwang, ein entsprechend großes Symbol zu setzen, um sich vor vergleichbaren Angriffen zu schützen: macht uns die Stadt kaputt, und wir krempeln 'euer' Land um. Ich bin nach wie vor nicht bereit, das Vorwissen um Bodenschätze und die Hoffnung auf deren 'leichte' Ausbeutung als Motor dahinter zu sehen - so naiv sind die betreffenden Vertreter nicht. Wenn, wären eher die direkten Kriegsprofiteure (wie der Blackwater-Nachfolger Xe) in Betracht zu ziehen. Aber das kann ich nicht überblicken. Offensichtlich ist, daß der Krieg für die Gegenseite weitaus billiger, ja weitgehend umsonst zu führen ist, eine Differenz, die einem nachhaltig denkenden Rüstungsunternehmen dieses Maßstabs (vergleichbar mit dem Militär eines mittleren Staates) als bedenklich auffallen müßte.

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Mo 28. Jun 2010, 12:59 - Beitrag #7

Ich zweifle nach wie vor sehr daran, daß es 'die Konzerne' waren, die den Afghanistan-Krieg wollten.
im eigentlichen Sinne beweisbar ist das natürlich nicht. Aber

Die Pipeline soll Erdgas von Chardschou in Turkmenistan am Kaspischen Meer durch Afghanistan zu Häfen am Indischen Ozean in Pakistan leiten. Die Kosten für ihren Bau belaufen sich nach Schätzungen auf 3,5 Milliarden US-Dollar. Die TAP soll den Plänen zufolge entlang der Fernstraße von Herat nach Kandahar in Afghanistan und über Quetta und Multan in Pakistan verlaufen. Ausgehend von den Förderfeldern um Dauletabad in Turkmenistan soll die im Endausbau knapp 1700 Kilometer lange Pipeline jährlich 30 Milliarden Kubikmeter Gas transportieren. - Befürworter sehen in dem Vorhaben eine moderne Fortsetzung der alten Seidenstraße. Die Gasvorkommen in Dauletabad werden auf 1,7 Billionen Kubikmeter (2002) geschätzt. 830 Kilometer der TAP sollen in Afghanistan, etwa 400 km in Pakistan verlaufen

....

Neben seinen eigenen Bodenschätzen machen Afghanistan vor allem die riesigen Erdöl- und Erdgasvorräte in den Nachbarländern Kasachstan, Aserbaidschan, Turkmenistan und Usbekistan zu einem Schlüsselland. Die Idee, eine Gaspipeline durch Afghanistan zu legen, geht zurück auf den Unternehmenschef des argentinischen Ölunternehmens Bridas, Carlos Bulgheroni. Bridas investierte schon 1991 in die Erdgasförderung in Turkmenistan und suchte nach einer Möglichkeit, das geförderte Gas exportieren zu können. Aber auch das Unternehmen Unocal, das zwölftgrößte Ölunternehmen der USA, Mitglied eines Konsortiums aus acht westlichen Ölkonzernen zur gemeinsamen Ausbeutung der Ölfelder um Baku, Aserbaidschan, hatte großes Interesse an einer Pipeline durch Afghanistan. Nachdem Turkmenistan und Pakistan bereits einen Vertrag über eine solche Pipeline mit der argentinischen Bridas Oil abgeschlossen hatten, visierte Unocal 1995 in einer Vorvereinbarung mit den Taliban ebenfalls eine Pipeline an, ein Jahr bevor diese Kabul eroberten. Trotzdem gelang es Bridas 1996, die Zustimmung aller Kriegsparteien in Afghanistan, einschließlich der Taliban, zu erhalten. Der Vorschlag einer öffentlich zugänglichen Pipeline, in die andere Unternehmen und Länder im Laufe der Zeit eigenes Gas einspeisen könnten, sagte den Kriegsherren zu, da sie Transitgebühren erheben könnten und Afghanistan im Norden über eigene Gasfelder verfügte.


Artikel Turkmenistan-Afghanistan-Pakistan-Pipeline bei deutscher Wikipedia.

Also seit 1991, und spätestens seit 1995 konkret. Reiner Zufall?

Natürlich gebe ich dir zu, dass eine ursächliche Zuweisung an "die Konzerne" eine Verkürzung darstellt, die das Multi-Kontext-Problem nicht angemessen beantwortet. Dass Zusammenhänge bestehen, auch wenn diese in noch größere Zusammenhänge eingebettet liegen, scheint mir aber offensichtlich.

Die Billigkeit des Krieges für die Gegenseite resultiert aus Todesbereitschaft und Wut. Der Islam stellt da offenbar ein erhebliches Bollwerk gegen Todesangst zur Verfügung, fehlende humanistische Aufklärung tut den Rest. Und für die Wut sind unsere aktuellen militärischen Aktionen wie auch frühere Kriege möglicherweise nicht völlig irrelevant

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Mo 28. Jun 2010, 13:41 - Beitrag #8

Interessant, wobei ich die Chronologie tatsächlich für zufällig bzw. historisch folgerichtig halte. Das Datum 1991 ist direkte Folge der relativen Selbständigkeit Turkmenistans nach Zusammenbruch der UdSSR; 1995 ist noch weniger überraschend, schließlich ist in dem Jahr der Weltmarktpreis für Erdgas um über 50% gestiegen (das war der viertstärkste Preisanstieg überhaupt, noch stärker war es nur 2000, '02 und '05). Zugleich ist die Nachfrage stark angestiegen, so hat der deutsche Gasimport 1995/96 einen massiven Sprung gemacht. Die Verbindung zum Siegeszug der Taliban 1995 sehe ich nicht; mit den Warlords hätten sich vermutlich einfacher Verträge schließen lassen, auch wenn es letztlich auch mit denen geklappt zu haben scheint.

Bei hinreichend komplexer Darstellung des Sachverhalts wird man im vernetzten System immer Verbindungen aufzeigen können; wie bestimmend sich diese auswirken, muß untersucht werden, inwiefern die massive Vereinfachung der Struktur auf einen Verantwortlichen Vorteile bringt, ebenfalls. Als Argumentationslinie ist es sicherlich nützlich. ;)

Eben mit dieser Wut und ähnlich primitiven Symbol-Mechanismen haben ja auch Kriegsbefürworter argumentiert; inwiefern das begründetermaßen geschah, läßt sich schlecht entscheiden, da Bushs großer Blutrachefeldzug von seinen wehleidigen Nachfolgern ausgebremst wurde.^^

Man könnte aber darüber diskutieren, ob der Bau einer Erdgaspipeline durch Afghanistan wirklich sicherer und preisgünstiger ist als der Transport per Tankflugzeug, Zeppelin oder in der offenen Hand. Bild

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Mo 26. Jul 2010, 09:33 - Beitrag #9

da werden demnächst Köpfe rollen

http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,708311,00.html

92.000 geheime Dokumente, die ein Bild von der Situation in Afghanistan zeichnen, welches deutlich düsterer daherkommt, als es die Kriegslyrik der "Verteidigungs"-Ministerien bisher der Öffentlichkeit zeichnete.

Lykurg
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Mo 26. Jul 2010, 12:14 - Beitrag #10

Ja, heftig, der Artikel im Guardian ist ähnlich, der in der New York Times konzentriert sich auf die Pakistan-Geheimdienst-Connection. Insgesamt kommt mir das ganze aber nicht so überraschend vor. Ich meine, daß die Pressesprecher der Truppen das alles etwas positiver darstellen als es ist, war zu erwarten. Über die freien Rückzugsräume der Taliban in Pakistan wurde längst offen gesprochen (wenn auch noch nicht von ihren Auftraggebern innerhalb des ISI, des pakistanischen Geheimdienstes), und daß Kriegsführung mit Drohnen zwar auf der eigenen Seite den Krieg virtualisiert, Verluste reduziert und ganz eigene Operationsformen ermöglicht, andererseits aber zivile Opfer verursacht und die Dinger selbst nicht ganz billig und nicht pannenfrei sind, kann man sich auch denken. Auch die Existenz von Special Forces mit gezielten Tötungsaufträgen ist wenig überraschend angesichts eines so verfahrenen Guerillakampfes gegen einen Feind, der zumindest teilweise in Clanstrukturen organisiert ist, so daß man auf ein Nachfolgechaos hofft. Das zeigt letztlich nur, daß man aus früheren asymmetrischen Konflikten gelernt hat.

Ziemlich düstere Perspektiven bietet allerdings das (wohl auch begründete) Mißtrauen gegenüber der afghanischen Seite und deren mangelnde Kampfbereitschaft für die Sache des Westens, die sie offenbar nicht als die eigene verstehen. Und düster sind die Folgen, wenn eine breite Öffentlichkeit diese Informationen als neuartig und Anlaß sieht, einen sofortigen Truppenabzug zu fordern. Denn daß damit dem Land wirklich gedient wäre, sehe ich nicht.

Ipsissimus
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Mo 26. Jul 2010, 13:00 - Beitrag #11

Ziemlich düstere Perspektiven bietet allerdings das (wohl auch begründete) Mißtrauen gegenüber der afghanischen Seite und deren mangelnde Kampfbereitschaft für die Sache des Westens, die sie offenbar nicht als die eigene verstehen.
Was brächte es ihnen und wie könnten sie denn die Sache des Westens als die ihre verstehen? Genau das, alle Nebenkriegsschauplätze mal beiseite gelassen, ist doch von Anfang an die Crux an der ganzen Sache gewesen. Wir tun immer noch so, als würden und müssten die Afghanen die Welt mit unseren Augen sehen. Tun sie aber nicht, taten sie noch nie.

Man sollte meinen, die USA wüssten es besser. Aber Geschichte scheint sich doch zu wiederholen. In Afghanistan taumelt die gesamte Nato ihrem Vietnam-Trauma entgegen. Dass die Entscheidungsträger noch rechtzeitig von Einsehen erleuchtet werden, ist leider nicht zu erwarten.

Lykurg
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Mo 26. Jul 2010, 13:42 - Beitrag #12

Ich hätte lieber "offensichtlich" als "offenbar" schreiben sollen, und mit einem hinzugefügten "wollen" wäre die Absicht dahinter deutlicher geworden. "Der Krieg des Charlie Wilson" macht am Ende ziemlich deutlich, woran es von Anfang an gefehlt hat - einer tieferen Einsicht und einem Interesse daran, was außer Krieg dort anzustellen sei (allerdings anscheinend wirklich nicht viel - in Anbetracht der Aufbauerfolge der Bundeswehr).

Ja, es ist nicht leicht, und es sind auch Entscheidungen, die ich nicht treffen möchte. Vermutlich wäre es besser, sich auf einfachere Ziele zu beschränken und ansonsten auf Verhandlungen zu setzen.

Ipsissimus
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Mo 26. Jul 2010, 14:04 - Beitrag #13

ja, das sehe ich so ähnlich. Wobei ich mich frage, womit - und ob - diesem Land überhaupt noch zu helfen ist. So, wie es der Westen bislang angestellt hat, ganz sicher nicht ... Ipsi, sei nicht naiv ... es ging noch nie darum, Afghanistan zu helfen

Padreic
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Mo 26. Jul 2010, 14:39 - Beitrag #14

Natürlich ging es darum, Afghanistan zu helfen. Natürlich ging es nicht darum, Afghanistan zu helfen. Es sind so viele Menschen an Entscheidungsprozessen in Sachen Afghanistan beteiligt, dass es dumm wäre, anzunehmen, dass sie eine homogene Motivationslage haben. Und ich bin sehr davon überzeugt, dass einige dieser Leute zumindest zeitweise die Absicht hatten, Afghanistan zu helfen. Für den Moment ist das aber wohl erstmal unrettbar verpfuscht; ich denke mal, es hätte im Prinzip Möglichkeiten gegeben, die Sachen zumindest deutlich besser abzuwickeln, auch wenn es immer sehr schwierig war. Es hätte z. B. vielleicht etwas geholfen, in zeitweise befriedeten Gebieten massiv und ohne große Bürokratie Geld in Entwicklungsarbeit zu stecken, um Vertrauen zu schaffen. Es hätte wohl geholfen, anders aufzutreten etc.

Was mich an den Dokumenten besonders interessiert: wer hat sie denn ins Internet gestellt (bzw. wikileak zur Verfügung gestellt)?

Ipsissimus
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Mo 26. Jul 2010, 15:46 - Beitrag #15

ich denke, das wird diverse amerikanische Geheimdienste ebenfalls brennend interessieren^^ 92000 Dokumente, das ist kein Pappenstiel, selbst wenn sie in digitalisierter Form vorlagen

natürlich unterstelle ich keine homogene Motivationslage, Padreic. Das Motiv "helfen" als Primärmotivation halte ich in Kreisen von Entscheidungsträgern - aus der Kategorie, die über Krieg oder Nicht-Krieg entscheidet - allerdings für äußerst dünn gesät.

Maglor
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Mo 26. Jul 2010, 21:00 - Beitrag #16

Jaja, wir wollen helfen. Darum folgende To-do-List:
    Osama bin Laden töten
    Al Kaida ausrotten
    Taliban vernichten
    vielleicht danach noch Afghanistan demokratisieren und Manna vom Himmel fallen lassen


Ansonsten verdeutlichen die Akten nur einmal mehr, was sich am Hindukusch abspielt, wenn Drohnen gegen Guerilla kämpfen.
Mit dem Bombenkrieg machen sie sich auf jeden Fall keine Freunde, verstärken im Rahmen der Blutrache nur den Widerstand, da immer mehr Unbeteiligte in die Frontenbildung gezogen werden.
Die Ursache ist klar ersichtlich. Es handelt sich um die neue Unfähigkeit der USA und seiner Verbündete einen konventionellen Krieg zu führen, allen voran die Bundeswehr als die größten Hasenfüße. Kapern die Taliban einen Tanklaster, bestellt man Bomber. Fahren Afghanen einfach mit dem Auto weiter, werden sie abgeschossen. Treffen sich auch Heckenschützen, bestellen sie Haubitzen. Und die größte Gefahr der Welt ist natürlich, dass Panzerfahrzeuge Opfer von Sprengfallen werden. Gell, und bei der Loveparade sind ja auch mehr Deutsche durch Gewalteinwirkung gestorben, als in 9 Jahren Afghanistan-Krieg.

Sicher das westliche Bündnis könnte diesen Kampf gewinnen, nur eben mit deutlich mehr Personaleinsatz. Als die Sowjets Afghanistan besetzt hielten, taten sie es mit 200.000 Soldaten. Die Amerikaner hatten 2 Millionen in Vietnam. Und glaubt die NATO mit lächerlichen 80.000 Mann einen Krieg zu gewinnen.

Aussichtslos. Sicher sie können ihre Lager absichern, vielleicht einzelne Städte. Sie können ganz Afghanistan ausbomben. Vereinzelte Spezialeinheiten können auf Menschenjagd.
Aber sie sind nicht in der Lage, die Bevölkerung zu entwaffnen. Das wäre meiner Ansicht nach der erste Schritt zu einer Befriedung Afghanistans, zum Aufbau einer Zivilgesellschaft.

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Di 27. Jul 2010, 09:12 - Beitrag #17

wenn es die Amerikaner mit 2 Millionen Soldaten in Vietnam nicht geschafft haben, wieviele willst du dann in den afghanischen Bergregionen einsetzen, um den Sieg militärisch zu erzwingen? Meines Erachtens ist ein militärischer Sieg illusorisch. Eventuell könnte eine Ohrfeige für unsere pakistanischen Freunde was nützen, aber erstens ist Pakistan Atommacht und zweitens dürfte es nicht so einfach sein, sich mit dem pakistanischen Geheimdienst anzulegen.

Das einzige, was dieser Krieg bewirkt hat, ist die Langzeit-Destabilisierung der gesamten Region. Man müsste mal schauen, wem das nützt.

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Di 27. Jul 2010, 12:14 - Beitrag #18

Nein, die Region war schon vorher hochgradig instabil, das hat sich jetzt nur verschärft, und wird vielleicht auch wieder abnehmen. Vielleicht sollte man es statt Manna lieber Antibabypillen regnen lassen (in der bösartigeren Variante auch beides miteinander vermischt). Das hätte - zumindest wenn man vor neun Jahren damit angefangen hätte - schon bald erhebliche Auswirkungen auf das Konfliktpotential.

Das Terrain war in Vietnam ja auch nicht gerade einfach, und die geostrategische Einbettung als Nachbarland Chinas damals mindestens so explosiv. Aber Maglors Hinweis auf die deutschen Opferzahlen finde ich schon spannend (wenn auch leicht übertrieben, es waren in den neun Jahren 43 deutsche Soldaten, also zweimal Duisburg). Insgesamt hat die Koalition (unter Nichteinrechnung Afghanistans...) bisher knapp 2.000 Tote zu beklagen, gegenüber 60.000 US-Soldaten in Vietnam (und später noch einmal so vielen traumatisch bedingten Suizidfällen). Und auch in den Dimensionen der zivilen Opfer dürfte dieser Krieg weitaus weniger blutig sein, so furchtbar auch jeder Krieg ist. Das entschuldigt nichts und meint auch kein "vorwärts, und schnell vergessen", sondern nur, daß Vietnam-Dimensionen noch nicht erreicht sind und hoffentlich auch nicht erreicht werden. Der Westen ist ziviler geworden, und man wird sehen, was das für die Welt bedeutet.
(Gerade die bekanntgewordenen Protokolle zeigen das - ich möchte nicht wissen, was eine vergleichbare Dokumentenflut aus dem Vietnamkrieg alles an Massakern und Verzweiflungsberichten enthalten hätte.)

Ipsissimus
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Di 27. Jul 2010, 13:13 - Beitrag #19

vielleicht hätte man nicht den Krieg der Taliban gegen die Russen finanzieren sollen^^ solche Kleinigkeiten haben manchmal große Wirkungen^^ nicht, dass es die Russen geschafft hätten, aber dann hätten die heute den Schlamassel am Hals^^

mein Hinweis auf Vietnam bezog sich auf Maglors Bemerkung
Sicher das westliche Bündnis könnte diesen Kampf gewinnen, nur eben mit deutlich mehr Personaleinsatz.
in Vietnam hatten wir eine dramatisch höhere Anzahl an Soldaten, und es hat nichts genutzt; warum sollte es in Afghanistan nutzen, die Leute dort sind mindestens ebenso verbissen desinteressiert an westlichen Werten wie die Vietkong es waren, wenn auch aus geringfügig anderen Gründen.

Davon abgesehen wäre es ganz nett, mal herauszufinden, wieviele Opfer den 2000 Toten der Allianz auf afghanischer Seite entgegenstehen, denn ein bisschen was haben die Amerikaner sicher gelernt - geh erst mit Bodentruppen rein, wenn sich nichts mehr bewegt, dann hast du weniger eigene Verluste.

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Di 27. Jul 2010, 15:05 - Beitrag #20

http://www.sueddeutsche.de/politik/afghanistankrieg-die-afghanen-in-die-arme-der-taliban-getrieben-1.980154

interessantes Interview

sueddeutsche.de: Aus den Geheimdienstinformationen wird ersichtlich, dass die Taliban im Norden vermehrt versuchen, die Bevölkerung für ihre Zwecke einzubinden. Geht der Kampf um die Gunst der Bevölkerung verloren, den die Deutschen vor allem durch Aufbauarbeit eigentlich gewinnen wollten?

Herz: Die berühmten Hearts and Minds, also die Köpfe und Herzen der Gesellschaft, scheinen gerade die Taliban zu gewinnen. Am Kriegshandbuch der Taliban, das ich gemeinsam mit einer Mitarbeiterin übersetzt habe, ist sehr interessant zu sehen, wie sie ihre Politik strukturieren möchten. Sie versuchen eine Parallel-Administration aufzubauen: eine Gerichtsbarkeit etwa und soziale Dienste, die gut funktionieren. Dann geben sie finanzielle Anreize, den verschiedenen Taliban-Gruppen beizutreten.

sueddeutsche.de: Und dem haben die Soldaten der internationalen Schutztruppe nichts entgegenzusetzen?

Herz: Wesentliche Teile der afghanischen Gesellschaft sind realistisch. Sie sagen: 'Der Westen wird sich irgendwann zurückziehen und ich muss dann mit den Taliban leben. Also arrangiere ich mich besser jetzt schon mit ihnen.' Den Taliban ist gelungen, die Nato-Präsenz als Besatzung des Landes darzustellen. Das war früher nicht so. Diese Interpretation hat sich erst durchsetzen müssen. Dies erklärt im Übrigen auch die gelegentlichen Versuche des afghanischen Präsidenten Hamid Karsai, sich vom Westen zu distanzieren - etwa wenn er von den Taliban als seinen Brüdern redet, die zurück in die afghanische Familie müssen.

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