Für jede Frage, die Sie mit Ja beantworten können, erhalten Sie 1 Punkt:
a) Bei einem Roman schätze ich am meisten treffende Wendungen, die eine Situation, eine Landschaft oder ein Gesicht beschreiben - dies alles möglichst mit der Meisterschaft, wie man sie nur von alten Haiku-Meistern kennt.
b) Ich kann gut damit umgehen, wenn ich einen Autor lese, der über geradezu enzyklopädisches Wissen verfügt und davon rege, gezielt, manchmal aber auch redundant Gebrauch macht.
c) Das Fremdwörterbuch ist mein Freund.
d) Ein Endnoten-Apparat gehöhrt zu jedem modernen Roman.
e) Ich werde nicht gleich selbst depressiv, wenn es den Romanfiguren meist eher mies geht und sie sich selber und gegenseitig das Leben schwer machen (dauernd, ohne Ende).
f) Superrealistische Schilderungen von Erkrankungen oder Suchtproblemen stossen mich nicht ab, sondern wecken mein Interesse.
g) Auch Abhandlungen über Hornhäute, Hypersalivation, Erbrechen, pädophile Aktivitäten nach durchzechter Nacht, etc. können mich nicht schrecken.
h) Ich finde ein Roman darf durchaus die ganzen gesellschaftlichen Gepflogenheiten, das politische, wie das wirtschaftliche System über mehere 100 Seiten hinweg durch den Dreck ziehen - schliesslich ist es ja angebracht und Hauptsache: gut gemacht.
Hand aufs Herz, wenn Sie nicht mindestens auf 5 Punkte kommen, rate ich Ihnen vom Unendlichen Spass dringend ab. Ansonstens lesen Sie weiter und geniessen gleich vier Amuse-Bouche, frisch vom Herd des Chefs:
- "Er verfügt über jenen seltenen spinalen Sinn für die Schönheit des Gewöhnlichen, den Mutter Natur nur jenen gewährt, die das Gesehene nicht in Worte fassen können."
- "... im Sprechzimmer seltsam scharf, rein und süss gerochen, das olfaktorische Äquivalent von Neonlicht."
- "Wenn man auf einem belebten Stadtgehweg die Augen schliesst, klingen die Schritte all der Leute in ihren verschiedenen Schuhen zusammengenommen, als würde etwas von etwas Riesigem und Unermüdlichem und Geduldigem gekaut."
- "Das Fensterlicht im Zimmer verdunkelt sich zu dem Kaopectate-Ton, der schon immer die Kurz-vor-Sonnenuntergang-Tageszeit gekennzeichnet hat, ..."
Wer kennt im deutschen Sprachraum denn schon Kaopectate? Ich jedenfalls musste eine Website suchen, auf der man Bilder von Tabletten und Pillen findet, um mir den Kaopectate-Ton vergegenwärtigen zu können. Es hat sich gelohnt - Kaopectate wird oder wurde in der Darreichungsform durchscheinender Gel-Pillen von orange-bräunlicher Farbe verkauft - ... da kommt tatsächlich Abendstimmung auf.
Folgende Fragen sollten Sie mit einem herzhaften Nein beantworten können, sonst besteht die Gefahr, dass "Unendlicher Spass" für Sie nichts neues bereit hält (der Schwierigkeitsgrad steigt von Frage zu Frage leicht an):
Wussten Sie schon, dass ...
1) es Leute gibt, die sich so tief in die us-amerikanische Fernsehserie M*A*S*H verbeissen, dass selbst manische Wetten-Dass-?-Zuschauer noch etwas lernen könnten? (...)
2) das harmlos klingende Demerol eigentlich ein synthetischer Morphinersatz der Einstufung K-II, oder noch genauer Meperidinhydrochlorid ist? (Anmerkung 189, etwas populärwissenschaftlicher auch in Anmerkung 12)
3) Plutonium-239 schliesslich der Abfallfraktion UF4 beigemischt wird, die von Montpellier hochgepumpt wird? (823)
4) auch Sie bei einem Eschaton-Game froh wären, einen super Lobber (Tennis) auf Ihrer Seite zu wissen? (...)
5) Anmerkung b zu Anmerkung 39 nur wieder auf Anmerkung 304 verweist, worin wir auf zehn eng bedruckten Seiten u.a. den lang ersehnten Verweis (5) auf ein "Sektenbestimmungsbuch in Stichworten" erhalten? (1515)
Worum drehen sich denn die 1545 Seiten, 388 Anmerkungen, bzw. die 1480 Gramm Papier?
Wenn man früher mal menschliche Wärme mit einer aromatisch duftenden Pizza aus dem Steinofen hätte vergleichen können, dann hat man es aus Wallace' Perspektive heute wohl eher mit einem billigen Aldi-Fladen zu tun, der lieblos in der Mikrowelle zu einem bleichen, gefrierbrandigen, namenlosen Etwas aufgetaut wurde. Wallace gerät nun wirklich nicht unter den Verdacht irgendetwas schönreden zu wollen - wohltuend ist aber, dass kaum je etwas direkt angeprangert wird, die Figuren sprechen aus sich heraus und disseminieren (Fremdwörterbuch ist mein Freund) nicht einfach in Sprechblasen die Botschaften des Erzählers.
Während es in vielen Romanen sicher um Gefühle, Enttäuschungen, Liebe, Sex, Umweltprobleme und Erfolg geht, engt sich im Unendlichen Spass das Sortiment doch etwas ein. Natürlich kommen die heute gängigen Topoi auch alle irgendwie vor, doch der Fokus liegt auf: Drogen, dann nochmal Drogen, der Beschaffung von Drogen, dem Entzug von Drogen, dem Sprechen darüber, wie man an Drogen kaputt gegangen ist, dem cold turkey, dem Alltagsgebaren von Drogenabhängigen, die in der Meinung irren, sie hätten es noch im Griff, dem Alltag von ehemaligen Drogenabhängigen und aktuell Drogenabhängigen im sogenannten Ennet House, den Anonymen Alkoholikern und ihren Weisheiten, die zwar keine sind, aber dennoch geglaubt werden sollten, denjenigen die schon seit vielen vielen Jahren clean oder trocken sind und gerade deswegen irgendwie noch verrückter wurden, den total durchgeknallten Kanadiern, die sich in ihren Rollstühlen gegen die USA verschwören, ja die ganze O.N.A.N. mit letaler Unterhaltung überziehen wollen, die seinerzeit noch der verrückte Storch, alias Er Selbst, alias J.O.I. ausgebrütet hat. Wir erfahren von einem, der sich in seinem Wahnsinn darauf spezialisiert hat, jeweils ca. um 22:25 die Haustiere anderer Leute aufzuschlitzen und dies eigentlich nur, weil es ihm langsam zu monoton geworden ist, immer nur Katzen in einen Müllsack einzutüten.
Man muss das Buch einfach lieben oder hassen. Man wird abgestossen oder hineingesogen, man beginnt darin zu leben, gemütlich wird einem dabei nicht, aber man beginnt sich zu fragen, ob man die Welt nicht doch einen Tick mehr so sehen sollte, wie Wallace das getan hat. Und warum hat er es so gesehen? Es gibt keine konstruktive Kritik, es gibt keine Polemik oder Satire - denn die haben wahrscheinlich längst abgewirtschaftet; es gibt bittere Anekdoten über die Angehörigen von Figuren, schreckliche Zwänge, es gibt die Anmerkungen, die glatt als Pharmalexikon durchgehen können.
Es kann in diesem Roman vorkommen, dass sich ein Teenager deutlich mehr für die mathematischen Implikationen eines herunterfallenden Möbelbeschlags interessiert als für den staub-allergischen und fast tödlichen Anfall seines Erzeugers, nur wenige Zeilen vorher. Ein Spannungsbogen, der den ganzen Text überstreicht, damit wir als Leser dranbleiben, um quasi mit einer Karotte vor der Rübe durch diesen Folianten zu waten? Fehlanzeige. Figuren tauchen oft von dort auf, wo sie bald darauf wieder abtauchen: dem Nichts. Wer aber schon mal wissen wollte, wie sich eine ausgewachsene Depression von innen anfühlt, kommt ab Seite 99 bis 114 auf seine Rechnung. "... alles klingt scharf, ja, stachelig und scharf, als hätte alles, was man hört plötzlich Zähne." ... "Als wäre jeder Zelle und jedem Atom oder jeder Gerhinzelle oder was weiss ich so schlecht, dass sie kotzen will, aber nicht kann ..." Die Beschreibung der Depression von Kate Gompert ist brillant.
Ferner geht es um einen S.C.H.M.A.Z., also ein übernatürlich schönes Mädchen, das bei einem Säureangriff so richtig die Karte umdekoriert bekommt (sie hat noch Glück, dass sie nicht gleich völlig entkartet wurde), obwohl die Säure eigentlich ihrem spinnerten Dad gegolten hätte und sie dadurch ev. sogar noch schöner geworden ist, also sie eh schon war. Aber so ganz klar wird das nie und David F. Wallace können wir nicht mehr fragen, da er am 12. September 2008 im Alter von 46 suizidiert hat.
Dann natürlich Philosphie, Intention, Ideologie und die Rafinessen aller nach-joyceschen Bemühungen, die sich nur den Adepten der postmodernen Narrationstheorie erschliessen können. Dazu kann ich dann nichts mehr sagen und verweise nur auf
http://www.unendlicherspass.de. Dort tobt der 100-tägige Krieg um das Schattenloch der Transeidetiker, die Anhöhen des Poststrukutralismus, die foucaultschen Kapillarmächte, die psychoanalytischen Resthoffnungen, etc. pp. Amüsant, mit Visualisierungen von Romanfiguren, Örtlichkeiten und Mandelbrotmengen. Hin und wieder finden sich auch geradezu erhellende Passagen (ja, auf dieser Website, wie auch im Buch).
Zu guter Letzt: manchmal habe ich mich gefragt, ob das Original (Infinite Jest) überhaupt an die deutsche Übersetzung von Ulrich Blumenbach herankommt. Danke für das geniale Deutsch.