Sarrazin und Berlin

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Padreic
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Mi 8. Sep 2010, 22:35 - Beitrag #81

@Maglor:
In der Sowjetunion war die jüdische Religion nicht minder verfolgt als die anderen. Auf der anderen Seite wurde die Juden jedoch als ein Volk betrachtet und genau das waren sie: Eine Bevölkerungsgruppe mit eigener Sprache und Kultur, von Russen, Tataren, Georgiern usw. klar verschieden.
In der Tat gab es die eigentümliche Sache, dass man von Nationalität Judentum genauso sein konnte wie von der Nationalität ukrainisch.

@Ipsissimus:
Inwieweit "linker" Antisemitismus eine originäre Geschichte ist oder ob er nicht doch eher im Rahmen des "linken" Standard-Topos der Religionskritik als ganzer zu verstehen ist, müsste auch genauer untersucht werden. Ich glaube, es gab in der Sowjetunion keine Religion, die sich so richtig unverfolgt fühlte^^ Argumente der Art "Gottesmörder", "in der Bibel nachlesen" oder "Jesus war selbst Jude" sind jedenfalls schon von Ansatz her so hoffnungslos naiv, es verwundert mich ein bisschen, dass du sie verwendest.
Linker Antisemitismus kann durchaus auch im Gewand der Religionskritik kommen. Der spezifisch sozialistische Antisemitismus wurzelt aber, denke ich, eher in der Gleichsetzung Judentum = Kapital = Banker = Ausbeuter und Blutsauger. Er ist in diesem Sinn weder rassisch noch religiös motiviert, sondern mehr in einer spezifischen gesellschaftlichen Stellung. Dass dieser in den eindeutig rassistisch formulierten Antisemitismus der Nationalsozialisten einfloss, ist bekannt.

Ipsissimus
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Do 9. Sep 2010, 11:25 - Beitrag #82

es gibt auch (unabhängig vom Staat Israel) eine jüdisches Volk.
da ich nicht genau weiß, was ein "Volk" ist, verstehe ich diesen Satz nicht so recht, Maglor. Ist eine Großgruppe, die sich als politische und/oder religiöse Einheit fühlt, bereits ein Volk? Wohl eher nicht, aber was ist das definierende Spezifikum eines Volkes? Wikipedia meint dazu "Seit der Neuzeit wird generell auch eine Gemeinschaft oder Großgruppe von Menschen mit gleicher Sprache, Kultur oder ethnischer Verwandtschaft Volk genannt." Von daher bezweifele ich, dass die Juden nach der Vernichtung des Tempels den Charakter ihrer Großgruppe als Volk aufrecht erhalten konnten, da sie zwar einzelne Aspekte dieser 3 Punkte teilten, aber kaum die Rede davon sein kann, dass sie die Einheitlichkeit von Sprache und Kultur durchgehalten haben, und die ethnische Verwandtschaft wäre nach 20 Jahrhunderten genetischer Durchmischung ein statistisches Wunder^^

von daher: es gab/gibt keine Nationalität "Jude" sondern "nur" seit kurzem die Nationalität "Israeli". Dass dies dem Selbstverständnis der einheitsstiftenden Religion und somit dem Selbstverständnis orthodoxer Juden zuwider läuft, spielt m.E. sachlich dabei eher eine untergeordnete Rolle.

Der eigentliche Grund für die Verfolgung von Religion im alten Ostblock war simpel: Religion stiftet Identität über ein Kriterium, das den für diesen Zweck vorgesehenen Kriterien der Staatsmacht zuwider lief und damit die Subsummierung des Staatsvolkes unter ein spezifisches Konzept und damit letztlich die Staatsmacht selbst in Frage stellte.

... Der spezifisch sozialistische Antisemitismus wurzelt aber, denke ich, eher in der Gleichsetzung Judentum = Kapital = Banker = Ausbeuter und Blutsauger ...
es ist gut möglich, dass dies stellenweise relevant war, allerdings glaube ich, dass Lenin der letzte Machthaber in der Sowjetunion war, der das inhaltlich noch ernst genommen hat. Danach war das zu reiner Propaganda verkommen, und ich frage mich, ob man tatsächlich den Machthabern die Naivität unterstellen muss, dass sie ihrer eigenen Propaganda erliegen. In solchen Herrschaftsformen darf man nicht dumm sein, wenn man an die tatsächliche Macht und nicht nur Anchorman sein will. Insofern wurde dieses Ressentiment ganz sicher zur Begründung benutzt, aber die Ursache für die Verfolgung ist m.E. in dem oben angesprochenen Umstand zu suchen

Er ist in diesem Sinn weder rassisch noch religiös motiviert, sondern mehr in einer spezifischen gesellschaftlichen Stellung. Dass dieser in den eindeutig rassistisch formulierten Antisemitismus der Nationalsozialisten einfloss, ist bekannt.
nu ja, das halte ich für schwierig. Stalin war eigentlich die Nemesis alles Lebendigen in seinem Staat. Begründungen fand er, wo immer er eine brauchte, und letztlich waren diese Begründungen allesamt irrelevant, weil wichtig nur war, dass ein Mensch danach tot war, gemäß seiner bekannten Maxime "Wenn du ein Problem hast, töte einen Menschen. Ein toter Mensch mehr ist ein Problem weniger." Dabei bediente er sich zwecks Fundierung der Brgündung auch fleißig bei anderen totalitären Herrschern, er war ja lange Zeit von Hitler fasziniert und weigerte sich anfangs zu glauben, dass der die Sowjetunion angreifen ließ. Ich glaube von daher, dass es weniger ein systematischer Antijudaismus/Antisemitismus war, als vielmehr Personalstil von Stalin. Dass sich sowas dann verselbstständigt, wenn es lange genug betrieben wird, ist auch klar. Das liegt aber wiederum an der Bürokratie, nicht an den Grundlagen "linker" Staatstheorie.

Padreic
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Do 9. Sep 2010, 12:51 - Beitrag #83

@Ipsissimus:
Ich habe nicht über Stalin und seine Psyche gesprochen. Auch wenn ich bezweifle, dass er nur aus Machtstreben und Tötungswillen bestand, war das sicher ein nicht unwesentlicher Teil seines Charakters.

Es ging mir um frühere Tendenzen im Sozialismus, besonders in Deutschland und Frankreich. Ich zitiere wikipedia
Einige Frühsozialisten setzten Juden und Kapitalisten gleich. Pierre Leroux z. B. bezeichnete die Juden als „Verkörperung des Mammons“. Pierre Joseph Proudhon sah sie im Gefolge von Tacitus als „Feinde der Menschheit, die man nach Asien zurückschicken sollte.“ Bakunin schrieb in „Persönliche Beziehungen zu Marx“ 1871: „Nun diese ganze jüdische Welt, die eine ausbeuterische Sekte, ein Blutegelvolk, einen einzigen fressenden Parasiten bildet, eng und intim nicht nur über die Staatsgrenzen hin, sondern auch für alle Verschiedenheiten der politischen Meinungen hinweg, – diese jüdische Welt steht heute zum großen Teil einerseits Marx, andererseits Rothschild zur Verfügung.“
Auch in linksgerichteten Gruppen und Parteien gab es Antisemitismus, zum Teil als konsequenter Antikapitalismus ausgegeben und gerechtfertigt. So forderte das Vorstandsmitglied der KPD Ruth Fischer 1923: „Tretet die Judenkapitalisten nieder, hängt sie an die Laterne, zertrampelt sie!“
Diese Zitate sind sicherlich keineswegs repräsentativ. August Bebel war z. B. wahrlich kein Antisemit und allgemein wandte sich die Führung der SPD tendentiell gegen Antisemitismus. Aber allein, dass Bebel Antisemitismus als "Sozialismus der dummen Leute" bezeichnete, deutet darauf hin, dass es nicht nur Einzelne waren. Ich wollte aber sicherlich nie sagen, dass Antisemitismus Grundlage linker Staatstheorie ist.

Auch wenn 'Juden' im Ganzen sicherlich seit der Diaspora nie wirklich als Nation zu verstehen war, gab es sicherlich Zeiten, wo gerade die Ostjuden durchaus Charakterstika einer Nation hatten. Sie waren oft abgesondert in Ghetto oder Schtetl und haben auch oft noch Jiddisch als Hauptsprache gesprochen. Darüberhinaus habe ich schon weiter oben darauf hingewiesen, dass 'Jude' zumindest in der Sowjetunion im Allgemeinen als Nationalität angesehen wurde. So seltsam mir das selbst auch vorkommt oder zumindest vorkam, als ich das erste Mal davon hörte.

Ipsissimus
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Do 9. Sep 2010, 13:05 - Beitrag #84

auch angesichts dieser Zitate bleibt trotzdem die Frage, ob hier ein dezidierter, originärer "linker" Antisemitismus vorliegt, oder ob frühere Protagonisten der linken Szene nicht einfach nur dem Zeitgeist ihrer Zeit erlegen sind - Antijudaismus war wahrhaftig keine reservierte Angelegenheit bestimmter Zirkel. In dem Fall würde ich denken - was ich ohnehin denke^^ - dass es nicht vor Torheit schützt, einer Ideologie anzuhängen, auch nicht bei linksgerichteten Ideologien.

Wenn man wiederum Untergrupen der jüdischen Diaspora in den Fokus nimmt, stimme ich zu - da bildeten sich volksähnliche Gemeinschaften heraus. Für die Gesamtheit aller dieser Gruppierungen und darüber hinaus weltweit verstreut lebenden Juden bleibe ich hinsichtlich des Volkscharakters aber immer noch skeptisch. Eine Religion ist ein volks- und nationenübergreifendes Konzept zur Stiftung von Identität, und die Koppelung dieser spezifischen Religion an angebliche Familienzugehörigkeit - letzten Endes zwölf Familien, der Brüder Josephs, und damit letztlich auf eine einzige, der Familie Abrahams, halte ich für reinen Mythos. Das wird in dem Ausdruck "abrahamitische Religionen", welchen Status Judentum und Islam gleichermaßen beanspruchen, auch recht deutlich

Maglor
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Do 9. Sep 2010, 19:19 - Beitrag #85

Zitat von Padreic:Der spezifisch sozialistische Antisemitismus wurzelt aber, denke ich, eher in der Gleichsetzung Judentum = Kapital = Banker = Ausbeuter und Blutsauger. Er ist in diesem Sinn weder rassisch noch religiös motiviert, sondern mehr in einer spezifischen gesellschaftlichen Stellung. Dass dieser in den eindeutig rassistisch formulierten Antisemitismus der Nationalsozialisten einfloss, ist bekannt.

Damit hast du den spezifischen Antisemitismus der Nationalsozialistischen Arbeiterpartei schon ganz gut beschrieben, vielleicht noch Blutsauger durch das viel intelligenter klingende Wort Parasit ersetzen.
"Links" im klassischen Sinne ist das nicht. Wenn wir schon auf die Sowjet-Union und Stalin anspielen, so setzte er das Vorurteil, dass die Anhänger der trotzkistischen Verschwörung in den Schtetln zu finden seinen, daher Juden wären. Folglich erfand er das antisemitische Zerrbild einer jüdischen Konterrevolution, prädistiert in den ranghohen (wohlbemerkt atheistischen) Juden innerhalb der Partei. Das interessante ist, das er dabei nie von Juden oder gar dem jüdischen Glauben sprach, sondern eben von kleinbürgerlichen Schtetl-Bewohnern oder wurzellosen Kosmpoliten. Über die jüdische Religion wird kaum ein Wort verloren.
Die Frühsozialisten sind ein interessanter Exkurs, stehen aber in der Folge ohne Nachfolger innerhalb der marxistischen Bewegung, zu der die Frühsozialisten auch gar nicht gehören. Klar ist, dass sie auf die traditionelle soziale und wirtschaftliche Rolle der Juden im westlichen Europa anspielte. Die Möglichkeit dieser Rolle entstand allein aufrund ihrer Nichtzugehörigkeit zum Christentum. Für sie galten die Gesetze der Christen nicht, ebensowenig hatten sie die Rechte der Christen. So waren ihnen die meisten ehrlichen Gewerbe aufgrund der Zunftordnung verboten, während sie kirchliche Verbote nicht zu achten brauchten. So dürften sie im frühen Mittelalter noch mit Sklaven handeln, während dies Christen verboten war, später Darlehen verzinsen, als dies verboten war. So erlangten sie zusätzlich zu ihrem üblen Ruf als Fremde, Ungläubige usw. noch den Paria-Status dieser Berufe.

Zum Status als Volk:
Es ist sicher richtig, dass die Abstammung des jüdischen Volkes von einem gewissen Abraham ein Mythos ist. Dies kann aber keineswegs ein Gegenargument sein, denn die Existenz eines nationales Mythos beweist vielmehr die Existenz einer Nation.
Genauso ist beim Staate Israel: Eine jüdische Nation entstand nicht erst nach der Gründung des modernen Staates, sondern existierte bereits davor. Es gab die zionistische Bewegung als eine jüdische Nationalbewegung. Folglich hielten sie sich für einen Nation, waren daher eine Nation.
Ich halte die Einbildung auch für den wesentlichen Punkt. Aus keinem anderen Grund werden auch Serben und Kroaten, oder noch besser Österreicher und Deutsche unterschieden.
Volkscharakter ist im wesentliche das Selbstverständnis als Volk.
"von daher: es gab/gibt keine Nationalität "Jude" sondern "nur" seit kurzem die Nationalität "Israeli". Dass dies dem Selbstverständnis der einheitsstiftenden Religion und somit dem Selbstverständnis orthodoxer Juden zuwider läuft, spielt m.E. sachlich dabei eher eine untergeordnete Rolle.

Aha, und jedem Juden ist es erlaubt (unabhängig von der Religions- oder Nichtreligionszugehörigkeit) in den Staat Israel einzuwandern und dortiger Staatsbürger zu werden, als ob ihre vorherige Zugehörigkeit zum jüdischen Volk nichts bedeuten würde. :rolleyes:
Angemerkt sei hier nur das sich das jüdische Selbstverständnis tatsächlich gewandelt hat. Bis weit ins 20. Jahrhunder waren äthiopische Juden und einige andere exotische Splittergruppen von Seite der europäischen Juden gar nicht als vollwertige Juden anerkannt. Ein alle umspannendes Einheitsgefühl gab es nicht, dass es die ganz anderen Juden gab, war gar nicht mal bekannt.

Scuba
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So 12. Sep 2010, 12:01 - Beitrag #86

Zitat von Ipsissimus:das hat mit Bewegungen zur direkten Demokratie eigentlich absolut nichts zu tun


Oh doch! Die Botschaft war: Der Mensch ist des Menschen Wolf. Es wäre empirisch, dass der Stärkere den Schwächeren unterdrückt und umbringt, wenn er nur losgelassen wird. Mensvchen schlagen sich die Köpfe ein, - werden sie nicht gegängelt und überwacht.

Alle Eliten, die sich nicht vor der Allgemeinheit rechtfertigen wollen, haben stets Interesse daran dieses 'dumpfe Menschenbild' am Leben zu erhalten. Es generiert ein 'perfides System' an selbsterfüllenden Prophezeiungen. Hintergrund ist hier wohl, das aus der Psyschologie (Transaktionsanalyse) bekannte "ich bin OK -Du bist nicht OK", - und dient ausschließlich dazu einen Herrschaftsanspruch zu legitimieren und sich "als guter Mensch" dabei zu fühlen. (der sprichwörtlich "linke Gutmensch" dürfte sich hier wiederfinden) Das 'Helfersyndrom' gehört daher ebenfalls in diese Kategorie. - Und deshalb dürfen wir letztlich wohl auch nicht 'in freier Selbstbestimmung' über eine Verfassung abstimmen (Die vielleicht auch noch einen Volksabstimmungsparagraphen beinhalten könnte). Denn auch die herrschenden Eliten in den indirekten Demokratien (bis hinunter zu den Kommunalparlamenten) haben auf dieser Basis effektive Methoden entwickelt "Andersdenkenden" ein 'un-gutes' Gefühl zu vermitteln um sich vor sich selbst zu rechtfertigen - Eben die "politcal correctness" - wie (nicht nur) im Fall Sarazzin. - Einen Sprengstoffgürtel an der Hüfte der Demokratie

Zitat von Ipsissimus: ich bezweifele massiv, dass es sachlich auch nur andeutungsweise angemessen ist, Lykurg faschistischer Bestrebungen zu bezichtigen.

ok, tschuldigung Lykurg - das ist nicht richtig.

Genauso (wie an einer anderen Stelle hier) unangemessen ist, mit der Nazikeule schwingend, "persönliche Distanzierungen" von mir einzufordern, für etwas, das ich nicht gesagt habe und 'ausdrücklich nicht zur Debatte' stand'. Ich lasse mich nicht "ver-eva-herman-isieren"!

Zitat von Ipsissimus:Das wäre mir aufgefallen. Dawkins trennt sehr genau, was Menschen machen, weil sie es aus sich selbst heraus machen wollen, und was dann Religionen für sich verreinnahmen. Aber dass Dawkins belegt, dass Christentum usw. sachlich Religionen der Liebe seien? Nee^^

Ich hatte nicht ohne Absicht die "Religion der Liebe in "Gänsefüßchen" gesetzt...

zu: Linker Antisemitismus
http://www.hagalil.com/antisemitismus/europa/linker-antisemitismus.htm


Zitat von Ipsissimus:zu den Ursachen der historischen Herausbildung des Antijudaismus hat Lykurg das wesentliche ja schon gesagt, es gibt nicht die eine Ursache. Religiöse Motive sind mit wirtschaftlichen Motiven verquickt, auch der schlichte kleine Umstand, dass es nach der Zerstörung des Tempels 71 u.Z. bis 1946 u.Z. kein Staatsgebiet mehr gab, in dem Juden sich hätten sammeln können, also keine Staatsmacht hinter ihnen stand, spielt seine Rolle, das Thema der Fremdheit, und, selbstverständlich, führte das alles auch dazu, dass sich die jüdischen Bevölkerungsanteile immer mehr zum Sündenbock eigneten, wenn irgendwas schief ging. Antijudaismus war Waffe im ökonomischen Kriegsspiel]

Den letzten Satz, halte ich für zentral. Das Vorhergehende für Symptome. Warum ich das so sehe, und warum ich das (immer noch gegenwärtige) Geld und Wirtschaftssystem, als ursächlich für immer wieder aufkommende Krisen und schwerste gesellschaftliche Verwerfungen halte, dazu werd ich bei Gelgenheit vieleicht mal einen separaten Thread eröffnen. (Vorab: Das Zinsverbot gilt übrigens auch für Juden und Muslime. Es fand bestimmt nicht ohne Grund Eingang in ein 'Jahrtausendwerk', sondern zeugt wohl eher von (blutiger) 'Erfahrung')

Zitat von Ipsissimus:Du neigst für meinen Geschmak zu sehr zu einem "die edlen Opfer hier unten gegen die verwerflichen Sieger dort oben"-Denken.


Wenn Du schon meine persönlichen Beweggründe erforschen, willst, dann kann ich Dir verraten, dass Du hier möglicherweise etwas grundsätzliches mißverstehst. (ich bin nach wie vor 'Vielweltler' ^^ ) In diesem Kontext 'fordere ich lediglich etwas ein': Evolution auf Basis von Selbstreflexion. Und das funktioniert nur, wenn man 'das ganze System' - mal aus einer grundsätzlich anderen Perspektive betrachtet, als die gerade herrschende zulässt. In diesem Sinne sind Reibungspunkte nicht hinderlich, sondern (dringend) 'nötig' um den Hintergrund vom Vordergrund zu unterscheiden und sich dann daran weiterbewegen zu können.

Viele Grüße

Maglor
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So 12. Sep 2010, 13:31 - Beitrag #87

Ich für meinen Teil sehe Vorbehalte gegen Zinsen, Banken, Kapital usf. durch als Anlass für meine Sarrazin-Feindlichkeit. ;)
Interessant wäre natürlich die Frage nach Sarrazins Beitrag zur wirtschaftlichen Entwicklung. Immerhin lebte ja er ja vom Staat. Nachdem er bei er sich im Vorstand der Deutschen Bahn wegen seiner Sticheleien und Nebentätigkeiten gefeuert wurde, versorgte ihn die SPD 2002 mit dem Amt des Finanzsenators von Berlin, nach einer Aneinanderhäufung von Skandalen um Nebentätigkeiten und Begünstigung einzelner Firmen wurde er schließlich als Bundesbank-Chef recyclet. Der Wechsel von einem Amt ins andere erfolgte übergangslos.
Mal sehen welche politische Versager Sarrazin nun im Bundesbank-Vorstand ersetzt. Eine Alternative zur Frühpensionierung oder Hartz IV ist es ja alle mal, wobei letzere Möglichkeit Sarrazin zum Glück nie drohte.
Nun hat Sarrazin endlich die Möglichkeit von seinen über Jahre angehäuften Pensionen zu leben und sich voll und ganz und eine Einschränkung seiner "Arbeit" in diversen Aufsichtsräten zu widmen oder eben gegen Minderheiten und Unterschichten zu hetzen oder die Rentenkürzung auf das "Niveau der Grundsicherung" zu fordern.
Zitat: "Jemanden, der nichts tut, muss ich auch nicht anerkennen. Ich muss niemanden anerkennen, der vom Staat lebt, diesen Staat ablehnt..."

Ansonsten kann man in der Wikipedia mittlerweile ein Inhaltsverzeichnis seines Werkes "Deutschland schafft sicht ab".
Daraus ist ersichtlich, dass seiner speziellen Ausländer- und Islamfeindlichkeit nur die populären Teile eines weniger populären Sozialdarwinismus sind.

Die Kernthesen davon: Intelligenz sei im wesentlichen erblich. Es gebe eine sich unkontrolliert vermehrende asoziale Unterschicht von genetisch bedingten Vollidioten.
Den Islam beachtet er vor allem als erbliches Phänomen, weniger als Religion, allenfalls als eine Kultur der Inzucht mit schwerwiegenden Folgen für die geistige Volksgesundheit.
Die Lösung des Problem erinnert mich schon irgendwie an das Gesellschaftsmodell des antiken Vordenkers Lykurg von Sparta. Wenn sich während der Schulkarriere ein Kind asozialer Herkunft als genetisch bedingt Vollidiot aus dem Raster fällt, sollte eine weitere Heranführung an die geistige Bildung eingestellt werden und der Schüler solle stattdessen mit Koch- und Werkkursen auf die Selbstversorgung als mittelloser Hartz-IV-Empfänger vorbereitet werden.

Beachtenswert ist an der Stelle, dass Sarrazin zwar keine Ahnung hat, was Gene und Chromosome sind, aber als Oberlehrer der Vererbungslehre auftritt. Er präsentiert damit eine Art gefährliches Halbwissen, dass aber auch für die Metaebene typisch.
Wovon er spricht wissen und verstehen nur wenige. Ein Teil Bevölkerung sieht sieht in ihrer Ausänderfeindlichkeit und Islamophobie bestätigt, kennen aber den Ausmaß von Sarrazin Sozialdarwinismus nicht. Einige Gutmenschen halten Sarrazins Thesen für einen ernsten und wichtigen Hinweis an die Politik, die Muselmanen besser zu integerieren, dabei schreibt er ja, dass dies wegen der Inzuchtschäden und anderer genetischer Defizite der Muselmanen nicht möglich ist. Wie auch immer, andere Gutmenschen hören die Sache mit dem "Juden-Gen", verstehen Bahnhof und schwingen die Nazikeule.
Alles Beispiele von gefährlichem Halbwissen.

Naja, hier noch ein wenig Realsatire von der ZDF "heute show":
Thilo Sarrazin erklärt offensichtlich xenophoben Brandenburger in Potsdam, warum Brandenburger verglichen mit Schwaben minderwertige Idioten sind.
Man beachte die Kommentare des Publikums.

Maglor
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Di 21. Sep 2010, 20:23 - Beitrag #88

Exklusiv:
Thilo Sarrazin über die Evolution der Juden zu Intelligenzbestien
Ungekürzt!
Man beachte den klug gewählten Dauer-Konjuktiv, den plakativen Philosemitismus des politisch-korrekten Rassisten, die Verweis auf Studien von 1900 und die Stete Grenzüberschreitung zum Lamarckismus.
Die Juden wurden in Handel, Banken und intellektuelle Berufe abgedrängt. Die Schriftgelehrten genossen besonderes Ansehen. Der Rabbi hatte hohe Fortpflanzungschancen, weil er die reiche jüdische Kaufmannstochter heiraten konnte. Eine über Jahrhunderte betrieben Familien- und Heiratspolitik, die dem intellektuellen Element überdurchschnittliche Fortpflanzungschancen gab, führte allmählich zur Ausbildung der überdurchschnittlichen Intelligenz.

Wenn Bänker über Jahrhunderte mit Rabbis gekreuzt werden, oh Welt Übermenschen, Sarrazine...
Aber lassen wir doch lieber die Zahlen für sich sprechen.

Lykurg
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Mi 22. Sep 2010, 16:48 - Beitrag #89

Faszinierend, auch wieder, wie gespalten das Meinungsbild auf der Seite ist (ohne Kommentar zu den dort geäußerten Positionen Bild ).
Die Bezeichnung Sarrazins als 'politisch korrekten Rassisten' trifft in speziell diesem Zusammenhang den Nagel auf den Kopf.

Maglor
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Mi 22. Sep 2010, 18:24 - Beitrag #90

Die Kommentare habe ich gar nicht gelesen, sind schon irgendwie jenseits von allem möglichen.
Nach genauerer Prüfung musste ich feststellen, dass die verlinkte HP "Altermedia" die Sarrazin im Fließtext zitiert, dem rechtsextremen Spektrum zugehört. Das dürfte die deutlich antisemitischen Kommentare erklären, die von der Mehrheit der xenophoben Kreise abgelehnt werden. Das spärliche Vorwort scheint mir jedoch eine ungewohnt sachliche, wortgetreue Analyse der Sarazin'schen Theorien, ohne die übliche Vereinfachung oder Überspitzung.
Aber gut zu wissen, dass zumindest die Rechtsradikalen Sarrazin wirklich verstehen. :crazy:

Lykurg
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Mi 22. Sep 2010, 19:00 - Beitrag #91

Ja, Altermedia war mir als rechtsextreme Seite bekannt. Daß sie dieses Spektrum bedient, wird auch aus der Einführung ersichtlich, die ihren Lesern zuliebe zum Beispiel ethnisch mit völkisch 'übersetzt'. Auch die Anführungsstriche im ersten Absatz ("nicht so schlimm") machen recht deutlich, wogegen sich die Empörung ihres Verfassers richtet. Der Ausdruck "dieselbe Duftnote" macht dann eine Sarrazins Philosemitismus massiv ablehnende, vermutlich also tendenziell antisemitische Haltung des Artikelschreibers sehr deutlich, was die Ironie der folgenden Passage noch unterstreicht.

Deswegen fand ich ja auch die Konfrontation in der Diskussion so grotesk - einerseits teilen sie Sarrazins Rassismus, andererseits sind fast alle antisemitisch geprägt. Deswegen regen sie sich ja auch so darüber auf, meinen, Sarrazins Statistiken seien falsch oder was auch immer. (Auf den ersten Blick hatte ich gedacht, es hätten sich mehrere Teilnehmer dort nicht antisemitsch geäußert, das hat sich aber so nicht bestätigt. Die scheinen dort fast komplett rechts der NPD zu stehen. :kotz: )

Ipsissimus
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Do 30. Sep 2010, 13:12 - Beitrag #92

http://www.spiegel.de/spiegel/0,1518,719944,00.html

ein wirklich interessanter Artikel mit jeder Menge gelungener Einsichten, allerdings auch mit jeder Menge ideologischem Schwachsinn, wenn er z.B. "Freiheit" als Anliegen des Liberalismus darlegt, ohne gleichzeitig darauf zu verweisen, dass der Freiheitsbegriff des Liberalismus von Anfang an die Freiheit meinte, unbeeinträchtigt von beschränkenden staatlichen Auflagen Handel treiben zu können, oder wenn er Gewalttätigkeit auf Killerspiele zurück führt.

Das was er als Moralverlust beschreibt empfinde ich als Wegfall persönlicher Ethik, aber das ist nur ein winziges Pünktchen

Thilo Sarrazin braucht kein Mitleid. Er könnte auch schlecht damit umgehen. Und es geht schon gar nicht darum, ihm recht zu geben, in was auch immer. Fürs Rechtgeben sind seine Ansichten viel zu durchwachsen und zu missverständlich, mit Ausnahme vielleicht all des Unverstandenen und Unverständlichen aus der Genetik. Hier ist er eindeutig - und zwar eindeutig ohne Sachkenntnis.

Und auch die Frage, ob Sarrazin weiter als Sozialdemokrat betrachtet werden darf oder nicht, ist eine langweilige. Kein Sozialdemokrat zu sein und trotzdem in der SPD zu bleiben ist kein Widerspruch. Ehemalige Bundeskanzler haben es vorgelebt. Die weit spannendere Frage ist: Wieso kann ein hölzerner Finanzmann mit seinen Vorurteilen, seinen turmhoch gestapelten Statistiken und seinen biologischen Nachschlagewerken eine solche Aufregung verursachen? Weil er ein Tabu gebrochen hat? Weil er der schweigenden Mehrheit eine näselnde Stimme gibt? Weil den Massenmedien langweilig war? Oder doch: weil er ins Schwarze traf, als er ins Braune redete?

Es gibt Integrationsprobleme von Migranten in Deutschland, es gibt einen Moralverlust in allen sozialen Schichten, einen Sittlichkeitsverfall im öffentlichen Umgang, eine Enthemmung bei Sex und Gewalt, eine soziale Erosion der Mittelschicht und vor allem: Desorientierung. Das Schwarze, in das Sarrazin trifft, ist jener Satz, auf den sich Sarrazin-Freunde wie -Gegner einigen können: So geht es nicht weiter!

Wirklich begriffen wird dieses Problem allerdings nur jenseits aller Sarrazinaden um gefährdete Deutsche und gefährliche Migranten. Es stehen sich keine Völker gegenüber und keine Ethnien, sondern zwei moralische Kulturen. Diese beiden Kulturen sind nicht das Christentum und der Islam, kein "Kampf der Kulturen" im Sinne Samuel Huntingtons. Es ist das Ethos des Sozialen und das Ethos des Dissozialen. Die Grenze verläuft nicht zwischen Volksgruppen oder Religionen, sondern zwischen reichlich durchmischten Milieus. Ein deutscher Dissozialer, der sich zur bürgerlichen Wertegemeinschaft nicht zugehörig fühlt, ist für unsere Gesellschaft ebenso gefährlich wie ein türkischer.

Bedrohlich ist die Moralferne der Halbintegrierten

Bedrohlich ist nicht der religiöse Fundamentalismus, sondern die Moralferne der Halbintegrierten, die Melange von religiösem Machismo und Gangsta-Kult, islamistischem Chauvinismus und westlichem. Was die Kinder von Allah und 50 Cent gefährlich macht für unseren sozialen Konsens, sind nicht Gene oder Glaube. Gewalttätige Migranten sind nicht in erster Linie von religiösen Wahnvorstellungen unheilvoll beseelt, sondern weit häufiger von Drogen. In diesem Punkt unterscheiden sie sich nicht von Deutschen.

Der weitaus größere Teil der Bevölkerung in Deutschland nimmt dies auch so wahr. Der türkische Gemüsehändler an der Ecke wird geschätzt, auch wenn seine Töchter Kopftücher tragen. Er ist ein Bürger wie wir mit ähnlichen Werten von Fairness und Gerechtigkeit, Hilfsbereitschaft, Höflichkeit, Arbeitsmoral und Anstand. Wenn der Streit um Kopftücher, Karikaturen und Koran-Verbrennungen solche Aufregung verursacht, dann deshalb, weil solche Symbole beiden Seiten helfen, die Welt kurzfristig einfacher zu machen, als sie ist. Die generelle Ausländerfeindlichkeit in Deutschland hingegen hat über die vergangenen Jahrzehnte stark abgenommen. Ein kurzer Blick zurück auf die "Kümmeltürken"- und "Spaghettifresser"-Aversionen der siebziger Jahre belehrt darüber. Deutschland hat viel dazugelernt. Idioten gibt es immer und überall. Aber flächendeckender Rassismus ist (noch) nicht unser Problem.

Dafür gibt es ein anderes. Es ist die Angst vor einem Sozialkrieg. Es gibt viele Deutsche und Migranten, die sich zu dieser Wertegemeinschaft nicht mehr zugehörig fühlen. Die Schere zwischen Arm und Reich geht auseinander, die Milieus ohne Tugenden werden vermutlich wachsen: Eure Werte, euer sozialer Friede und eure Moral sind uns scheißegal!

...
danach wird es dann richtig interessant^^

Maglor
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Do 30. Sep 2010, 20:38 - Beitrag #93

Durchaus interessant, wobei an der Stelle der explizite Hinweis auf die Moralferne und den Egoismus der Person Sarrazin fehlt, inwiefern nämlich die zur Debatte stehenden Sarrazinismen und ihre Folgen nicht Hinweis sondern Symptom des Problems sind, indem nämlich ein grundlos kompetenter Wichtigtuer sich in staatlichen Pensionskassen bedient und mit seiner Aneinanderreihung von Vorurteilen und Fehlschlüssen eine öffentliche Person ist, weil er eben "wichtig" im Sinne der Anklage ist.

(Man muss Sarrazins Werk schon eine gewisse Kreativität und Hartnäckigkeit zusprechen, sich wäre seine Theorien interessant als Foren-Betrag im WWW oder ein Vortrag bei der Jungen Freiheit, letztlich bleibt es aber dabei, dass seine B-Prominenz der entscheidende Faktor für die Bekanntheit ist, also bekannt weil bekannt...)

Ansonsten halte ich es für unverkennbar, dass in der Debatte um Ausländerfeindlichkeit geht, wenn nicht um generelle, wie ja zumindest die echten Rechten erkannt, wohl aber um spezielle, vergleich etwa mit Sarkozys Roma-Politik.

Übersehen wird all zu gerne, dass wir es mit einem reinen Sozialdarwinismus zu tun haben, Sarrazin auch deutschen "Asoziale" systematisch abwertet, wobei das auf eine Stufe stellen mit Arabern und Türken im Kontext des islamophoben Rassismus sicher nur als Beleidigung gemeint sein kann.
Bedauerlich ist, dass eben weite Teile der Öffentlichkeit dies übersehen und eben jene als minderwertig eingestuften Deutschen, wohlmöglich "dissoziale Milieus", Sarrazin zujubeln, wenn er scheinbar gegen die Muselmanen ausholt.
Ich fürchte nur, dass ein Aufklärung nie erfolgen wird, schon allein wegen der allein auf Emotion und Skandal setzenden Presse, aber ich fürchte ein Großteil der Menschheit ist ohnehin nur zu emotionalen Urteilen bei komplexen Sachlagen fähig. :(

Maglor
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Mi 13. Okt 2010, 22:03 - Beitrag #94

Die Meinungsmache macht nun also Meinung.
Report Mainz
Neue Studie: Islamfeindlichkeit in Deutschland nimmt zu

Auch in der CSU. Seehofer fordert, dass künftig nur noch Migranten aus unserem "Kuturkreis" einwandern dürfen und keine schädlicer Araber und Türken. Scheint wohl keine Reaktion auf die französische Roma-Politik zu sein, immerhin könnten fruchtbare Katholiken wie eben Deutschlands Abschaffung gerade noch vereiteln. :rolleyes:

Auf jeden Fall hat sich die Geschichte bei Teilen der Bevölkerung vollends emotionalisiert. Es geht gar nicht mehr um Gedanken sondern Gefühle. Es geht auch gar nicht um Argumente, sondern um das Gefühl der Genugtuung, dass da ein auf den ersten Blick intelligent wirkender Mann die eigenen Vorurteile scheinbar wissentschaftlich bestätigt.
Besonders beschämend wirken auf mich Nachrichten, dass Sarrazinismus- und Islamophobie-Kritiker mittlerweile auch Morddrohungen erhalten und nicht nur die Islamkritiker.

Die interessante Frage bleibt, ob da einer sagt, was alle denken, oder alle "denken" (besser meinen), was einer sagt.
Den gesunden Menschenverstand will weiten Teilen der Bevölkerung ohnehin absprechen. Weite Teile spiegeln nur wieder, was sie in einer Scheinrealität hören, sehen oder lesen, schnappen Meinungen in den Medien auf und halten diese für die eigenen.
Es fürchteten schon viele die Schweinegrippe, den Rinderwahn, die überall lauernden Triebtäter usw. Sie fürchten auch den bösen Muselman.
Angst existiert auch losgelöst von der Realität, Hass ebenso.

Lykurg
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Mi 13. Okt 2010, 23:37 - Beitrag #95

Angst und Haß existieren flächendeckend überhaupt nur losgelöst von der Realität, denke ich; Dinge, vor denen man Angst haben müßte, wenn das denn nützte, verlaufen unterhalb der Wahrnehmungsschwelle oder jenseits des geistigen Horizonts.

Aber tatsächlich scheint Bild mit der "das muß man doch noch sagen dürfen"-Kampagne genau ins Schwarze getroffen zu haben; alle, die ihren unreflektierten Müll immer schon auf die Straße kippen wollten, fühlen sich nun dazu berufen; und wer etwas gegen Sarrazin zu sagen wagt, wird ausgepfiffen.

Sehr schön fand ich aber den Kommentar zu Seehofer in der Welt von heute:
Wären wir in Debatten geübt und hätten ein Gespür für Maß und Unsinn, dann wären Horst Seehofers Äußerungen darüber, ob wir mehr Zuwanderung brauchen oder nicht, unkommentiert geblieben. Denn sie sind, wie nicht selten bei diesem Politiker aus diesem Bundesland, allenfalls von folkloristischer Bedeutung.

Maglor
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Mi 3. Nov 2010, 20:42 - Beitrag #96

Neulich im Buchladen ging mit der Ware zur Kasse und erblickte just daneben, einen roten Karton, darinnen lagen sie zu dutzenden übereinander gestapelt, die Sarrazine ein Band wie der andere. An gleicher Position finden sich in gemeinen Supermärkten Schokoriegel, Schnapsflaschen und andere Kleinigkeiten, die für kurz die Sinne erfreuen mögen und für den lang den Geldbeutel leeren.

Da schleicht ja schon ein neues gesellschaftliches Thema ins Haus: Die Verflachung des Buchmarktes, indem zunehmend einzelne Bestseller meist B- und C-prominenter Autoren mit reißerischen Titeln die große Kasse machen.

Deutsch schafft sich ab ist zweifellos ein Bestseller. Die Erstauflage ist schon lange vergriffen. Das Buch bricht alle Rekorde. Der finanzielle Erfolg des Thilo Sarrazin steht außer Frage, doch wurde es wirklich millionenfach gelesen?
Zusammenhang besteht nicht immer, mitunter genügt schon der Erwerb des Buches zur Profilierung.

e-noon
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Mi 3. Nov 2010, 20:52 - Beitrag #97

Zitat von Maglor:Deutsch schafft sich ab
finde ich eine schöne Adaption des Titels, der optimal auf das von dir geschilderte Problem des verflachenden Buchmarktes passt ;)

Feuerkopf
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Do 4. Nov 2010, 01:25 - Beitrag #98

Team Sarrazinkomplettverweigerer.

Mir ist der ganze Kerl zuwider.

Lykurg
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Do 4. Nov 2010, 13:17 - Beitrag #99

Witzigerweise habe ich es seit Erscheinen des Buches geschafft, keine Buchläden mehr zu betreten außer der campusnächsten Fachbuchhandlung (Heine), die das Ding wahrscheinlich unter ihrer Würde findet. Schnapsflaschen gibt es da ja auch nicht. ;)

009
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Mo 10. Jan 2011, 14:35 - Beitrag #100

Einen recht lesenswerten Bericht zu den soziodemografischen Daten der Käufer von Sarrazins Bucht hat die Süddeutsche. Dort verlinkt ist auch ein Dossier der Humboldt Uni Berlin bzw. eine Seite mit wissenschaftlichen Untersuchungen der Äußerungen Sarrazins. Dies umfasst auch eine Antwort des Polizeipräsidenten, wonach Sarrazins Aussage, "Ich habe an anderer Stelle zitiert, dass in Berlin 20 Prozent aller Gewalttaten von 1000 türkischen und arabischen Intensivtätern begangen werden.“ [Quelle: Berliner Morgenpost 29.08.10 ] durch offizielle Statistiken auch nicht ansatzweise belegt werden kann. Aus meiner Sicht schlicht eine als Tatsache verkaufte Behauptung von Sarrazin.

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