Das Wunder von Wörgl

Das aktuelle politische Geschehen in Deutschland und der ganzen Welt sowie wichtige Ereignisse der Weltgeschichte.
Ipsissimus
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Di 4. Jan 2011, 15:35 - Beitrag #1

Das Wunder von Wörgl

http://www.zeit.de/2010/52/Woergl?page=1

eine detaillierte Darstellung des Freigeld-Experiments in der Österreichischen Ortschaft Wörgl im Jahr 1932, hochinteressant zu lesen, und im Grunde ein Beweis, dass es praktikable Alternativen zu heutigen Finanzsystemen gibt

Padreic
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Di 4. Jan 2011, 16:47 - Beitrag #2

Ich habe den Artikel gelesen, als er rauskam und gerade nicht nochmal - deswegen verzeiht, wenn mein Gedächtnis mich trügt.

Das Wunder von Wörgl war erfolgreich und es war sicherlich ein Skandal, dass es abgewürgt wurde, auch wenn gewissermaßen ein verständlicher. Der Hauptzweck des alternativen Finanzsystems war der, die Leute vom Sparen abzuhalten und zum Konsum anzuregen - zusammen mit Investitionsprogrammen des Staates. Dass ist in bestimmten Situationen, nämlich genau in Wirtschaftskrisen, eine gute Sache. In anderen Zeiten kann ein solches Verhalten genau schädlich sein. Ein Grund (unter mehreren) der vergangenen (und zum Teil noch andauernden) Wirtschaftskrise ist ja gerade der zu große Konsum und die zu unvorsichtige Haushaltspolitik der Staaten - dass Deutschland da noch ganz gut weggekommen ist im internationalen Vergleich liegt unter anderem daran, dass die Deutschen relativ viel gespart haben. Als dauerhafte Maßnahme scheint das Freigeld also auf Anhieb eher begrenzt tauglich - als temporäre Maßnahme scheint es aber eine vernünftige Alternative oder Ergänzung zu Abwrackprämie und co. Dass es anscheinend in der Wirtschaftswissenschaft nur vergleichsweise wenig erforscht ist, ist sicherlich ein Versäumnis. Es sollte natürlich aber angemerkt sein, dass eine Einführung auf nationaler oder gar internationaler Ebene eine sehr viel größere organisatorische Herausforderung wäre als die damalige Aktion; besonders angesichts dessen, dass viele Geldtransfers heutzutage über den Computer laufen.

Ipsissimus
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Di 4. Jan 2011, 17:18 - Beitrag #3

ich würde nicht soweit gehen zu sagen, dass es der Zweck der Maßnahme war, Leute vom Sparen abzuhalten - weniger zu Sparen war sicher eine Folge, aber auch einer der Mechanismen, über die die Maßnahme Wirkung entfalten konnte - Zweck war vielmehr die Ankurbelung des Wirtschaftskreislaufs, indem verhindert wurde, dass durch Waren nicht gedeckte Geldmengen entstehen konnten. Außerdem gebe ich zu bedenken, dass "Sparen" eine Notwendigkeit ist, die einem gänzlich andersartigen Geldwertsystem, dem unsrigen, inhärent ist, aber nicht dem in Wörgl praktizierten, so dass negative Auswirkungen fehlenden Sparens im Rahmen des Wörglschen Systems vielleicht befürchtet werden, aber kaum als erwiesen gelten können. Die Weltwirtschaft wäre unter den Bedingungen des Wörglschen Systems eine andere, ob eine schlechtere, bliebe noch zu beweisen.

Lykurg
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Di 4. Jan 2011, 18:22 - Beitrag #4

Ähnlich wie Padreic finde ich die Beschreibung faszinierend und das Ende des Experiments angesichts seines Erfolges (zumindest so wie dargestellt) verkehrt. In der Wirtschaftswissenschaft gibt es allerdings durchaus Untersuchungen dazu; ich kenne mich mit deren Bibliographien nicht aus, aber das Suchwort "Wörgl" ergab in ECONIS immerhin 21 Treffer, davon neun (Aufsätze und Monographien) seit 2006. Spontan schien mir z.B. Eva-Maria Hubert: Tauschringe und Marktwirtschaft - eine ökonomische Analyse lokaler Komplementärökonomien, (Diss.) Berlin 2004, vielversprechend.

Ipsissimus, ich bin nicht der Meinung, daß das Geldsystem von Wörgl das Sparen 'überflüssig' gemacht hätte, nur recht wirksam verhindert. Die Notwendigkeit, sich gegen Arbeitsunfähigkeit bzw. für das Alter abzusichern, blieb bestehen, und der Wunsch, etwas mehr Geld für eine größere Ausgabe beiseitezulegen, auch. (Darunter würden analog also vermutlich auch Hersteller höherwertiger Produkte leiden, etwa die deutsche Automobilindustrie.) Allerdings behielt das normale Geld seine Gültigkeit, und ich denke, wer die Möglichkeit dazu hatte, hat Rücklagen darin gebildet.

Allerdings sind wir von diesem System heute grundsätzlich gar nicht so weit entfernt, wenn man die Inflation als schleichenden Geldverfall einbezieht. Und an dieser Stelle zeigt sich auch der massive soziale Haken eines solchen Systems: Inflation und Freigeldentwertung trifft besonders die Geringverdiener, die so die Möglichkeit verlieren, Geld zurückzulegen; dagegen können Besserverdienende, besonders die Produzenten von Exportgütern, Devisenreserven in Fremdwährung oder Aktienbesitz bilden.

Es handelt sich also auch um einen Aufschwung auf dem Rücken der kleinen Leute. Dagegen ist relativ wenig einzuwenden, wenn ansonsten der Arbeitsmarkt am Boden liegt und sie, wie '32 in Österreich, ansonsten mittellos dastehen, es handelt sich dabei aber nicht um eine Dauerlösung in 'guten' Zeiten, denn das zerstört die Reserven. Padreics Hinweis auf die hohe Sparquote der Deutschen und ihre Wichtigkeit für die relative Stabilität unserer Wirtschaft in der derzeitigen Krise ist wichtig und richtig. Der Zusammenbruch der Hypothekenkredite in den USA beruhte eben auf einem überhitzten Markt und einer Spekulationsblase, die die längst schon ohne Rücklagen agierenden Geringverdiener am härtesten traf.

Ipsissimus
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Mi 5. Jan 2011, 11:20 - Beitrag #5

diese Argumente sind kaum zu bestreiten, Lykurg; ich gebe allerdings zu bedenken, dass dem Experiment eine längere Laufzeit verwehrt blieb, so dass nicht erprobt werden konnte, ob es nicht auch für die angesprochenen Probleme sozialfreundliche Lösungen gibt, die mit den Grundlagen des Experiments kompatibel sind oder überhaupt erst auf deren Basis entstehen konnten.

Bei teuren Objekten, z.B. Häusern könnte man Hilfsvereine organisieren. In meinem Wohnort wurden durch einen solchen Verein nach dem Zweiten Weltkrieg innerhalb von 2 Jahren ungefähr 500 Häuser neu erbaut (und in vielen Nachbarorten wurde vergleichbares geleistet), sowas kann also auch funktionieren.

Renten könnten durch Ansparung nicht verfallenden Geldes finanziert werden, welches dann, sobald es ausgezahlt wird, dem normalen Verfall unterliegt; vielleicht könnte es sogar verzinst werden, solange nur Zinseszins verboten bleibt und es eine gesetzliche Obergrenze für den linearen Zinssatz in Abhängigkeit vom Preis/Lohnverhältnis gibt.

Das sind jetzt natürlich alles ad hoc-Lösungen, die also mit Sicherheit genauer bedacht und modifiziert werden müssten. Ganz prinzipiell gilt es aber festzustellen, dass ein Wirtschaftssystem, das auf einem derart massiv geänderten Finanzmodell basiert, eigene Lösungen auf eigene Probleme finden muss; die Probleme und Lösungen eines Kapitalmarkt-basierten Modells sind nur begrenzt übertragbar. Und natürlich würde sich auch die Gesellschaft um ein solches Modell herum anders entwickeln als unter den Bedingungen der kapitalistischen Variante.

Scuba
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Fr 14. Jan 2011, 22:19 - Beitrag #6

sorry, wenn ich ein paar Anmerkungen und Ergänzungen oder gar Richtigstellungen machen möchte ;)

eine detaillierte Darstellung des Freigeld-Experiments in der Österreichischen Ortschaft Wörgl im Jahr 1932, hochinteressant zu lesen, und im Grunde ein Beweis, dass es praktikable Alternativen zu heutigen Finanzsystemen gibt


Ich hatte schon mal hier auf das 'Brakteatensystem' im Mittelalter hingewiesen http://www.the-web-matrix.de/forumdisplay.php?forumid=46, was wahrscheinlich etwas unterging...

Silvio Gesell, die Freiwirtschaft und das Brakteatengeld: http://www.brainworker.ch/Geldtheorie/brakteaten.htm

Es gibt sogar eine Partei für die "natürliche Wirtschaftsordnung", die einem gern eine DVD mit viel Infomaterial schicken: http://www.humanwirtschaftspartei.de/

(Ob aber das Experiment von Wörgl mit dem Verbot zu Ende war, oder an "inneren Widersprüchen" bereits im Scheitern begriffen war, - daran scheiden sich immer noch die Geister)

Es sollte natürlich aber angemerkt sein, dass eine Einführung auf nationaler oder gar internationaler Ebene eine sehr viel größere organisatorische Herausforderung wäre als die damalige Aktion; besonders angesichts dessen, dass viele Geldtransfers heutzutage über den Computer laufen.


Das stimmt überhaupt nicht. Eher ist das Gegenteil der Fall.
Abgesehen davon, dass bei einem konstanten Güterpreis (was ja einer der Effekte von "Freigeld" sein soll: Keine Inflation der Geldmenge) viele Preisaänderungsauszeichnungen überflüssig werden (man denke an die Speisekarte der Pizza oder die Etikettierung in den Supermärkten) verlagert sich die "Preisänderung" ja auf 'Geld selbst' es "schwindet". Das ist in Papierform natürlich sehr umständlich und verwaltungsaufwändig, da ständig Gültigkeitsmarken nachgekauft werden müssen. Bei einer elektronischen Kontoführung entfällt das völlig und es lässt sich problemlos automatisieren (Gesell wäre wohl im Dreieck gesprungen, hätte er um diese Möglichkeiten gewusst) Das derzeit laufende Freigeld"experiment" mit dem "Chiemgauer" hatte ich ja auch schon mal erwähnt (es gibt einige erfolgreiche Regiogeldinitiativen in D): http://www.chiemgauer.info/
...und selbstverständlich gibt es dort auch Chiemgauer Kontos mit Geldkarte!
(Ein interessantes Experiment mit etwas anderen Philosophie läuft hier: http://www.rheingoldregio.de/)

Außerdem gebe ich zu bedenken, dass "Sparen" eine Notwendigkeit ist, die einem gänzlich andersartigen Geldwertsystem, dem unsrigen, inhärent ist, aber nicht dem in Wörgl praktizierten, so dass negative Auswirkungen fehlenden Sparens im Rahmen des Wörglschen Systems vielleicht befürchtet werden, aber kaum als erwiesen gelten können.

Ich weis nicht woher diese Gerüchte kommen, das es mit "Freigeld keine Sparguthaben mehr gäbe"!?

Im Gegenteil es wäre sogar sehr sinnvoll unterschiedliche "Schwund-Zinssätze" je nacht Kontoart einzuführen. Und für langfristige Sparguthaben könnte - genauso wie heute - ein positiver Zins gezahlt werden!? (langfristige Sparauslagen sollen ja der Kreditgewährung dienen)

Woran man übrigen auch erkennen kann, dass die "Inflation" auch unser jetziges Geld zum "wandern" bringen würde (und in naher Zukunft wohl noch mehr wird.)

Padreics Hinweis auf die hohe Sparquote der Deutschen und ihre Wichtigkeit für die relative Stabilität unserer Wirtschaft in der derzeitigen Krise ist wichtig und richtig.

...und genauso falsch. Wir haben derzeit keine Eurokrise, sondern eine Krise des Kaptialstocks. Ein Krise der 'Horter'. Wenn "wir" weniger Geld sparen würden, wäre mehr Geld 'bei uns' in Umlauf (und nicht auf den internationlaen Kapitalmärkten, wo es zu Blasenbildungen führt)

Die Finanzindustrie (u.a. AWD-Maschmeyer) hat unseren Politikern jahrelang eingeflüstert (und wohl "massiv zugesteckt"), das wir das 'umlagegedeckte Rentensystem' gegen ein 'kapitalstockgedecktes' tauschen müssten. Jetzt haben wir den Salat: Anstatt einem effizienten System mit wenig Verwaltungsaufwand haben wir ein blähendes Kapitalmonstum geschaffen, das ständig Geldtransfusionen von denjenigen einfordert, die gar nicht einzahlen wollten (und Boni und Erfolgsprämien an diejenigen ausschüttet, die dieses System installiert haben und den ungedeckten Kettenbrief am Laufen halten)

Es war von Anfang eine Lüge: Wenn ich eines Tages in Rente gehe, bekomme ich die Rente niemals von meinem in jahrzehnten eingezalten Geld (es wird ja nicht im Tresor gestapelt), sondern ausschließlich von der dann "leistenden Generation" - wenn dies kann und mag. Damit diese bereitwillig zahlt (und die Nicht-Leister weitehin leistungsloses Einkommen erzielen können), wird das "Showstück Staatsverschuldung" aufgeführt.

(Wie hirnrissig dieses Märchen und dreiste Schurkenstück ist, wird hier - treffend - polemisiert: http://www.steuerboykott.org/download/Die_Schuldenluege.pdf )

Das sei für alle "Geld-Sparer" in Stein gemeiselt: Es gibt kein Netto-Geldvermögen in einem Schuldgeldsystem! - Eine Gesellschaft kann nur "reich" an 'realen Dingen' sein!


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