Klassenkampf sozialverträglich?

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blobbfish
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Di 18. Jan 2011, 19:44 - Beitrag #1

Klassenkampf sozialverträglich?

Inspiriert von einem umfangreichen Flyer, dessen Inhalt ich später wohl noch anspreche, stelle ich die Frage in den Raum.

Maglor
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Di 18. Jan 2011, 20:12 - Beitrag #2

Kommt ganz darauf an, ob man eine Kulake ist oder nicht. :crazy:
In jedem Falle eine Bedrohung des "sozialen Friedens". Das liegt ja in der Natur der Sache.
Keine Ahnung, warum es geht. Das Abbrechen von Mercedesternen ist natürlich sozialverträglich, besonders wenn die Täter irgendwelche alternativlosen Alternativ aus dem Lehrerkindspektrum der philsosphischen Fakultäten sind - aber was soll die Frage?

Ipsissimus
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Di 18. Jan 2011, 20:40 - Beitrag #3

Wann überschreiten soziale Auseinandersetzungen die Schwelle zum Klassenkampf, und wodurch genau ist Sozialverträglichkeit gekennzeichnet. Je nach Antwort dürften völlig unterschiedliche Diskussionen geführt werden.

Ipsissimus
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Fr 21. Jan 2011, 13:16 - Beitrag #4

Die Frage kann meines Erachtens sachlich nicht eindeutig beantwortet werden, da sie mit Perspektiven und Definitionsmacht verknüpft ist.

"Sozialverträglichkeit" kann bei massiv gestörtem sozialen Frieden vorliegen; im schlimmsten Fall geht das soweit, dass ihre Feststellung dazu verwandt wird, sozialen Unfrieden zu zementieren, indem die Störungen der Lastbalance, die zu sozialem Unfrieden führen, als sozialverträglich dargestellt werden. Als Bild: Wir haben eine Balken-Schaukel, die auf der einen Seite mit 80 kg, auf der anderen Seite mit 20 kg belastet ist; entsprechend muss der Drehpunkt verschoben sein. Wenn er entsprechend verschoben ist, der eine Arm also 8 Meter, der andere nur noch 2 Meter lang ist, ist das Gleichgewicht (die Sozialverträglichkeit) gewahrt, obwohl die Lastarme (sozialer Friede) unterschiedlich lang sind. Das Bild muss nicht überbelastet werden, es dient nur zur Verdeutlichung dessen, was ich meine.

Zunächst mal müsste also geklärt werden, unter welchen Bedingungen "Sozialverträglichkeit" mit "sozialem Frieden" einhergeht. Es ist ohne größeren Aufwand möglich, sozialen Frieden durch strukturelle Maßnahmen ("strukturelle Gewalt") zu sichern, ohne dass auch nur im geringsten die Sozialverträglichkeit der Lastbalance gegeben wäre, ein Umstand, der in privilegienbasierten Gesellschaftssystemen wie dem unsrigen der Sache gemäß gleichermaßen vorhanden wie umstritten ist.

Dann müsste geklärt werden, in welchem Maß die formalen Mittel, die von der Verfassung und allgemeinen Gesetzgebung zur Erzielung von sozialem Frieden vorgesehen sind, faktisch in der Lage sind, diese Aufgabe zu erfüllen, also für ihren Zweck ausreichen, es also keiner informeller Alternativen bedarf. Es ist eine der trivialeren Taktiken, darauf zu verweisen, ein formales Mittel sei formalkorrekt angewandt worden, also sei das Ergebnis unvermeidlich sozialer Friede, ein Argument, das bei Privilegienträgern üblicherweise den Status eines Axioms hat, während alle anderen trotzdem unzufrieden sind.

Die eigentliche Frage wäre also, inwieweit "Sozialverträglichkeit" auf echten sozialen Frieden (die Lastverteilung wird so geregelt, dass der Drehpunkt der Schaukel in der Mittel des Balkens liegt) abzielt, oder inwieweit sie dazu dient, soziales Gefälle zu zementieren (die Lasten werden auf beide Seiten des Balkens aufgetragen, so dass die gesamte Schaukel einen Gleichgewichtszustand einnimmt, bei dem aber der Drehpunkt vom geometrischen Mittelpunkt massiv verschoben sein muss). Oder anders gesagt: definieren wir (1) irgendeinen wie auch immer verschobenen Gleichgewichtszustand als Gleichgewicht, oder geht es (2) darum, die anteilige Erfüllung (40% (a%) der Personen erhalten auch Zugriff auf 40% (a%) der Ressourcen und deren Verwendung) der Bedürfnisse zum Ausgangspunkt sozialen Friedens zu machen?

Folgen wir der Sichtweise, die (1) zugrunde liegt, dürfte die Antwort klar sein: Klassenkampf ist in jedem Fall sozialunverträglich.

Folgen wir der Sichtweise, die (2) zugrunde liegt, ergeben sich mehrere Möglichkeiten:

a) Klassenkampf stellt sozialen Frieden überhaupt erst her, ist also mögliche Voraussetzung für Sozialverträglichkeit
b) Klassenkampf sichert vorhandenem sozialen Frieden
c) Klassenkampf stört vorhandenen sozialen Frieden

"Sozialverträglichkeit" kann ist im Lichte dieser Differenzierung alles sein, von einem wünschenswerten Charakteristikum sozialen Friedens bis hin zu einem propagandistischen Werkzeug, das zur Begründung des status quo einer Gesellschaft dient, selbst wo dieser gar nicht auf sozialem Frieden aufbaut noch darauf abzielt. Und letztlich steht und fällt jede Einschätzung damit, wann echter sozialer Friede als gegeben erachtet wird.

Aus meiner Sicht: wir leben nicht in sozialem Frieden, Sozialverträglichkeit ist nicht gegeben, aber beide Sachverhalte sind so gut verschleiert, dass Klassenkampf gegenstandslos geworden ist, weil die dazu notwendige Bewusstheit verloren gegangen ist.

Ipsissimus
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Mo 24. Jan 2011, 16:27 - Beitrag #5

keine weiteren Stellungnahmen oder Diskussion?

Stell doch mal den Flyer vor, blobbfish

janw
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Mo 24. Jan 2011, 17:51 - Beitrag #6

Als Probleme treten IMHO hinzu, daß es die "Klassen" im Sinne selbstreferentiell konstituierter Gruppen mit einem positiv konnotierten Bewusstsein der Gruppenzugehörigkeit nicht (mehr) gibt, sondern im Wesentlichen Atomisierte, die statistisch zu Merkmalskonglomeraten zusammengefasst und modellhaft als "Schichten" bezeichnet werden können, dazu eine gesellschaftliche Vertretung nur des tarifgebunden arbeitenden Anteils der Gesellschaft.

Des weiteren, daß kein Konsens besteht hinsichtlich der Umgrenzung des zu verteilenden Lastbetrages:
Deckung des Grundbedarfs menschengemäßer Lebensführung - siehe die Debatte um die Höhe der Hartz IV-Beträge
Gesundheitsvorsorge - paritätische Krankenversicherung und Selbstversicherung der Selbständigen ist Konsens, Einbezug der Kinder ebenfalls.
Altersvorsorge ebenso, aber ungelöste Frage nach Ausmaß und Deckung von Deckungslücken, beitragsfreie Zeiten durch Arbeitslosigkeit usw.
Kinderbetreuung - für welchen Kreis soll die Kostenbefreiung gelten?

Damit in Verbindung steht die Frage, wer auf welcher Seite der Waage zu sitzen kommt.
Zwei Menschen in meiner Umgebung verdienen beide gut, die Frau arbeitet nur etwa halb, um für die beiden Kinder da sein zu können.
Der eine ist im Kindergarten, der andere wird bald in die Vorgruppe kommen.
Im Gespräch mit der Frau komme ich häufiger an den Punkt, daß sie sich im Bereich der vom Sozialsystem Überlasteten sieht.

blobbfish
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Do 27. Jan 2011, 18:13 - Beitrag #7

Grundsätzlich hat der Flyer mit Sozialverträglichkeit wenig zu tun, er hat allerdings immer wieder sehr penetrant darauf hingewiesen, man müsse umbedingt einen Klassenkampf führen, der als Ziel hat, die Ausbeutung der Arbeiterschaft zu stoppen, speziell auch einen dritten Weltkrieg zu verhindern, der natürlich durch den massiven Kapitalismus und einer seiner Krisen ausgelöst wird und natürlich von deutschem Boden ausgehen wird. Das Problem ist, so scheint mir, dass es nur sei Klassen gibt, einmal die Großkapitalisten, in Neudeutsch glaube ich Global Player, und den gemeinen Arbeiter, dazwischen gibt es nichts. Im Prinzip interessiert mich aber eben das, was dazwischen ist, quo vadis Leute, die keine Kapitalisten sind aber trotzdem soweit profitieren insofern sie etwa ein gutes bis auch üppiges Einkommen haben.

Insofern frage ich mich dann auch immer, wer die Profiteure des „neuen Systems“ sind und wer die Verlierer.

Ipsissimus
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Fr 28. Jan 2011, 14:10 - Beitrag #8

da scheint dir ein Flyer in die Hände gefallen zu sein, der die Dinge aus einer klassisch-marxistischen Sichtweise beschreibt, wie sie in der DDR und anderen Ostblock-Ländern gepflegt wurde, zumindest deren Geist atmet.

Ich schätze mal, in dieser Perspektive ist zum einen die Unterscheidung zwischen "Arbeiter" und "Angestellten", wie sie sich im frühen 20ten Jahrhundert herausbildete, gegenstandslos, weil die Angestellten, auch wenn sie im Verhältnis zum Arbeiter privilegiert sind, im Vergleich zum Kapitaleigner, Besitzer der Produktionsmittel oder heute auch zur Managementebene, nur in irrelevanter Weise privilegiert sind, eine Weise, die sie im Normalfall daran hindert, zu sehen, dass ihre Interessen kongruent zu denen der Arbeiterschicht sind, von der andererseits aber keine wie auch immer geartete Gefährdung der Privilegiertheit der Privilegienträger ausgeht.

Seit der ursprünglichen Herauskristallisierung der Trennung zwischen Angestellten und Arbeitern hat sich gesellschaftlich natürlich einiges getan, die Arbeiter haben in einigen Aspekten die Angestellten eingeholt, dafür sind die Angestellten nach oben "gewachsen", insbesondere durch die Einführung der Managementschicht. Hinzu kommen selbstständige Unternehmer von KMU, die formal zwar der Schicht der Kapital- und Produktionsmitteleigner zugehören, in vielen - nicht in allen - Fällen hinsichtlich ihrer faktischen Privilegien aber eher der Schicht der Angestellten zuzuordnen wären, wenn sie es nicht schaffen, ihre Firmen aus der Abhängigkeit von nur wenigen Großkunden herauszuführen.

Die Mischung ist also bunter geworden seit den Tagen des heiligen Karl, und die Forderung nach Klassenkampf müsste im Vergleich zu damals deutlich differenzierter daher kommen. Und auch das Thema des Klassenkampfes müsste neu durchdacht werden und über die ursprüngliche Reichweite hinausgehen. Natürlich gibt es mit Themen wie Hartz IV, Leiharbeiter und Ich-AG genügend Themen, die ähnliches Konfliktpotential bieten wie die damaligen Verhältnisse, aber in der Mittelschicht erübrigt sich eigentlich ein klassischer Klassenkampf, zumindest solange die Schicht gehalten werden kann. Andererseits sind durch die Globalisierung neue Themen stärker ins Bewusstsein gerückt, fairer Handel, Schuldenpolitik; und andere wie die Auslagerung von Produktionsstätten in Länder mit geringen Lohnkosten sind ganz neu.

Ich bezweifele, dass Klassenkampf das Mittel der Wahl sein wird, "Klassen" haben zu sehr an Kontur verloren und bieten infolgedessen heute zu wenig Identifizierungspunkte. Trotzdem gibt es im eigentlichen Sinne "unterdrückte" Menschen, Menschen, deren Leben aus vielerlei Gründen unter Druck steht, und das sind weltweit betrachtet viele. Ob das ausreicht, Identifikation zu stiften, die letzten Endes zu einer neuen Gruppenzugehörigkeit führt, welche sich als neue "Klasse" dann verteidigt bzw. um ihre Rechte kämpft, bleibt abzuwarten, halte ich aber für unwahrscheinlich, da die Ähnlichkeiten der Situation durch die überstaatlichen Unterschiede in politischer, gesellschaftlicher und religiöser Hinsicht überdeckt werden. Wahrscheinlich wird es, sollte der Druck in einzelnen Staaten zu hoch werden, neben der weiteren Ausweitung von Terrorismus auch eine erhebliche Zunahme an Bürgerkriegen oder bürgerkriegsähnlich ausgetragenen Konflikten geben.

janw
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Fr 28. Jan 2011, 18:17 - Beitrag #9

D'accord.

Ich bezweifele, dass Klassenkampf das Mittel der Wahl sein wird, "Klassen" haben zu sehr an Kontur verloren und bieten infolgedessen heute zu wenig Identifizierungspunkte. Trotzdem gibt es im eigentlichen Sinne "unterdrückte" Menschen, Menschen, deren Leben aus vielerlei Gründen unter Druck steht, und das sind weltweit betrachtet viele. Ob das ausreicht, Identifikation zu stiften, die letzten Endes zu einer neuen Gruppenzugehörigkeit führt, welche sich als neue "Klasse" dann verteidigt bzw. um ihre Rechte kämpft, bleibt abzuwarten, halte ich aber für unwahrscheinlich, da die Ähnlichkeiten der Situation durch die überstaatlichen Unterschiede in politischer, gesellschaftlicher und religiöser Hinsicht überdeckt werden. Wahrscheinlich wird es, sollte der Druck in einzelnen Staaten zu hoch werden, neben der weiteren Ausweitung von Terrorismus auch eine erhebliche Zunahme an Bürgerkriegen oder bürgerkriegsähnlich ausgetragenen Konflikten geben.

Könnte es sein, daß die überstaatlichen Unterschiede medial bewusst gehypet werden, divide et impera^^?

Ipsissimus
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Fr 28. Jan 2011, 20:05 - Beitrag #10

ich gehe davon aus^^

Maglor
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So 30. Jan 2011, 20:27 - Beitrag #11

Im wesentlichen streiten sie sich heute um Steuervergünstigungen und staatliche Transferleistungen. Die revolutionären Tendenzen sind verkümmert, es dominiert der Neid.

Keiner gönnt dem anderen irgendetwas und natürlich wolle alle den Fiskus melken. Am Ende sind es bizarre Grabenkämpfe, nach dem Motto Arbeiter finanzieren faule Studenten. Sogenannte Hartzer leben auf Kosten von irgendwem. Der Steuern fressen das ganze Netto auf um Kopftuchmädchen zu subventionieren.

009
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So 30. Jan 2011, 22:44 - Beitrag #12

Wobei der Fiskus sich auch noch gerne selber melkt bzw. austrickst. Würde er mit der Mineralölsteuer zB nicht zu großen Teilen den Haushalt schmieren, damit das Loch dort nicht ganz so groß wird, würden die Löcher in Deutschlands Straßen längst nicht so häufig und groß sein


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