IpsissimusDämmerung


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Thomas Harlan
Veit
Rowohlt, März 2011
ein im höchsten Maße merkwürdiges, beinahe verstörendes Buch, von dem ich mir nach der Lektüre gewünscht hätte, es stamme von einem jungen Autor. Doch ist es das Buch eines 81jährigen und dessen letztes Werk und die Quintessenz; der Autor starb kurze Zeit nach der Vollendung.
Und das Buch hat es in sich, Thomas Harlan ist nicht irgendwer. Und noch weniger irgendwer ist die Person, um die es in dem Buch zentral geht, Veit, sein Vater. Veit Harlan. Der Veit Harlan.
Man muss sich die Situation bildlich vorstellen. Vater und Sohn haben miteinander gebrochen, haben sich fast 20 Jahre nicht mehr gesehen, hatten keinen Kontakt mehr. Dann der Anruf. Und Thomas begibt sich, gezogen von etwas, das er erst ganz am Ende benennen kann, nach Capri, dem letzten Wohnort seines Vaters. Und der Sterbende empfängt ihn, im Bette liegend, mit den Worten "Mein Sohn, wie es scheint, habe ich dich verstanden, auch in deinen Kämpfen gegen mich." Und was der Beginn eines Gesprächs hätte werden können, der Beginn des dringend notwendigen Gesprächs hätte sein müssen, erstirbt in der Agonie, Veit driftet weg, der Krebs siegt, drei Tage später stirbt er, in den Armen seines Sohnes, der die ganzen drei Tage bei ihm blieb, mit seinen Gedanken allein gelassen, endgültig abgewiesen, nicht mehr sagen könnend, was er hätte sagen müssen.
Und findet erst fünfundvierzig Jahre später, kurz vor seinem eigenen Tod, den Mut und die Worte, zu berichten.
Thomas ist das älteste Kind Veits, dessen zweite Ehefrau Hilde ist seine und zweier jüngerer Schwestern Mutter; zwei Brüder kamen noch mit Veits dritter Ehefrau hinzu.
Nach dem Ende des dritten Reichs wird Veit in mehreren Prozessen vom Vorwurf der Beihilfe und psychologischen Vorbereitung des Völkermords freigesprochen; sehr viel später erst kommt heraus, dass der freisprechende Richter eine Vergangenheit in NS-Sondergerichten und mehrere Todesurteile zu verantworten hat. Als Thomas (und seinen beiden Schwestern) dieser Sachverhalt hinlänglich klar wird, kommt es beim Versuch einer Aussprache mit dem über alles geliebten Vater zum Eklat, der Vater bricht mit seinen drei ältesten Kindern (und wird später, in seinem Testament, nur die Kinder Kristinas, der dritten Ehefrau, als Erben nennen).
Thomas wird fortan in einem beträchtlichen literarischen Werk und einigen Filmen versuchen, sich vom Vater freizuschreiben; seine Schwestern heiraten Überlebende der Shoah, reiben sich aber in dem vergeblichen Bemühungen um Wiedergutmachung auf; ihre Ehen gehen schief, und Susanne, die Jüngere, endet im Selbstmord.
An Veits Totenbett das Dahinscheiden des Vaters verfolgend, führt Thomas das Gespräch in seinen Gedanken; versucht die Antworten Veits zu rekonstruieren anhand dessen, was er über den Vater weiss - und das ist beträchtlich viel. Er reflektiert über das große Schisma zwischen ihnen: Veit war immer unschuldig. In seinem Selbstverständnis und wohl bedingt durch sein Selbstbewusstsein war nie Platz für den Gedanken, er könne Schuld auf sich geladen haben, Schuld durch seinen großen Film, der ihm Unsterblichkeit gebracht hat, den Film, den es nie hätte geben dürfen.
Es war nicht nur der Film. Veit Harlan wurde nach dem Krieg aufgefangen in der braunen Soße, die sich in der jungen Bundesrepublik fest fraß, die hohen Positionen in Justiz, Armee, Polizei und Verwaltung besetzte und von allem nichts gewusst hat, unschuldig an allem was sie getan hatten, genau wie Veit unschuldig war, doch sie hatten jetzt ja sich und konnten einander beschützen. Mittendrin Thomas, der zunächst nicht begriff, warum er mietfrei leben konnte, warum er kein Geld zu zahlen brauchte für Fahrkarten, Kinobesuche, Bibliotheken, warum er in Kantinen kostenlos essen konnte, warum er zusammen mit Klaus Kinski in München Autos in die Luft sprengen konnte ohne belangt zu werden. Wie man heute sagen würde: Das Netzwerk der Unschuldigen und der Bewunderer Veits funktionierte. Als Thomas es schließlich verstand, zog er Hals über Kopf nach Paris, später nach Warschau.
So wurde das beherschendes Thema: wie entschuldet man einen, der nach eigenem Verständnis völlig unschuldig ist?
Und der Versuch einer Antwort lautet: man spürt ihm nach, man hört, was er sagt, und versucht die Risse zu finden. Und der eine Riss in Veits Leben, der für Thomas die Bresche in das Bollwerk der väterlichen Unerschütterlichkeit schlägt, ist Veits Liebe zu Kristina, dem einen Menschen, den Veit über alles geliebt hat, selbst über seine Kinder. Die er so sehr geliebt hat, dass er sie niemals hätte ein Verbrechen begehen lassen, und sei es das Verbrechen einer Hauptrolle in Jud Süß.
Diesem letzten Satz muss man nachlauschen, denn er ist in einer Weise gebrochen, die ganz unfassbar ist, angesichts der Rolle, die Kristina in Jud Süß spielte.
Das Buch ist fragil, extrem, beinahe hoffnungslos fragil, wie kein anderes Buch, das ich bisher gelesen habe, welches wirkliches Leben zum Thema hat, keine Fiktion ist.
Nur das Ende. Ich verstehe es nicht, vielleicht bin ich noch nicht alt genug dafür. Bei einem 20jährigen hätte ich es vielleicht verstanden und mit mangelnder Reife erklärt. Das Gefühl, dem Vater am Ende nahe gekommen zu sein, die stellvertretende Entschuldung vollzogen zu haben - die Sünde des Vater auf den eigenen Schultern abgetragen zu haben.
Vorher Sätze wie "Wenn es scheint, der Vater habe seinen Sohn verstanden, so scheint es auch, der Sohn habe verstanden, um was es dem Vater ging: Erlösung". Am Ende fehlt derartige Relativierung. Am Ende siegt, in aller Deutlichkeit und aller Verzweiflung, die Liebe des Sohnes zum angebeteten Vater: der möge, bitte, ein verzweifeltes bitte, nicht zu nachhaltig betonen, dass Erlösung unmöglich sei, sonst würde sie tatsächlich misslingen.
Ich hätte das lieber nicht als Fazit eines 80jährigen, großartigen Menschen gelesen.
Ruhe in Frieden, Thomas.
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