Nachtgedanke

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janw
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Do 7. Apr 2011, 20:44 - Beitrag #1

Nachtgedanke

Gestern abend kam mir ein Gedanke, den ich mal zur Diskussion stellen möchte.
Mir ging ein fiktiver Dialog durch den Kopf, der sich zwischen einem Künstler und einem ihn interviewenden Journalisten entspinnen könnte.
Gegeben sei ein bildender Künstler, der eine Darstellung eines Menschen geschaffen habe, die von der Art und Weise der Darstellung her auf den Betrachter merkwürdig, vielleicht irritierend wirke; dies sei dem Künstler bewusst.
Journalist: Wie so oft ergeben sich sich auch bei Ihrem Werk verschiedene Möglichkeiten des Zugangs, darunter autobiographische. Wie würden Sie solchen Erklärungsmustern begegnen?
Künstler: Nun, wenn es einen autobiographischen Bezug hätte, würde ich einer solchen Erklärung natürlich nicht zustimmen, andererseits, gibt es Kunst ohne den Künstler...?

Ich stell das einfach mal so zur Diskussion.

Ipsissimus
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Do 7. Apr 2011, 20:57 - Beitrag #2

warum würde der Künstler einer solchen Erklärung gegebenenfalls nicht zustimmen?

janw
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Do 7. Apr 2011, 21:03 - Beitrag #3

Weil er vielleicht davon ausgeht, daß ein Betrachter das Irritierende im Kunstwerk nicht als eben Irritierendes sehen oder auf sich als Irritierten zurück führen würde, sondern auf die Biographie des Künstlers.

Ipsissimus
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Do 7. Apr 2011, 21:37 - Beitrag #4

das heißt, der Künstler möchte, dass der Irritierte die Irritation als sein ureigenstes Problem erkennt und nicht in die Lage versetzt wird, diese Erkenntnis mit Spekulationen über den Künstler zu verhindern?

janw
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Do 7. Apr 2011, 21:50 - Beitrag #5

Die Deutung wäre ihm lieb, ja, und ihm ist andererseits auch klar, welche Folgen das Zurückführen des Werkes auf die Biographie durch manche Betrachter haben könnte, "armer Mensch" als Mildestes...

Ipsissimus
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Fr 8. Apr 2011, 00:23 - Beitrag #6

warum aber sollte ein gebildeter Rezipient, der um solche Zusammenhänge weiß und die Zurückweisung des Künstlers ohnehin antizipiert, sich auf die Deutungsvorgaben des Künstlers einlassen? Gäbe er damit nicht einen Teil seiner Mündigkeit ab?

e-noon
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Fr 8. Apr 2011, 00:45 - Beitrag #7

Die Haltung ist paradox, der Künstler möchte, dass ein Kunstwerk Irritation auslöst, die für ihn aus seiner Biographie erwächst und sich hierin ausdrückt, aber diese Irritation soll vom Betrachter dann gerade nicht mit der Biographie verbunden werden? Die einzige Möglichkeit dazu ist wohl, dem Betrachter die eigene Biographie nicht zugänglich zu machen. Selbst, wenn man sich entsprechende Kommentare verbitten würde, wenn ich, sagen wir, eine Skulptur einer Frau mit einem Loch im Bauch sehe und weiß, dass die Künstlerin eine Fehlgeburt hatte, dann ziehe ich zwangsweise die Verbindung, so unangenehm diese Verletzung der Intimsphäre der Künstlerin dann auch (möglicherweise für beide Seiten) ist. Es wird schwer, Kunst mit autobiographischem Bezug zu schaffen, ohne etwas von sich preiszugeben; wieviel man preisgibt, muss man selbst entscheiden, und ob dasjenige vor allem als autobiographisch oder als zeitloses Kunstwerk angesehen wird, entscheidet unter anderem auch die Qualität des Machwerks.

Ipsissimus
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Fr 8. Apr 2011, 09:44 - Beitrag #8

na ja, Jans Frage ist nicht ganz so trivial. Diese "psychologisierende" Rezeption ist ja doch recht jung, und ich hatte auch schon das ein oder andere Mal den Verdacht, dass das Interesse am Autor vornehmlich dazu dient, die Auseinandersetzung mit dem Werk zu verhindern. Denn es ist ja tatsächlich so, wenn das Kunstwerk als Kunstwerk aus sich selbst heraus bestehen kann, sind die Motive des Autors für die Wirkung des Kunstwerks gegenstandslos. Und andererseits wäre es eben naiv von einem Künstler, zu glauben, er könne das Kunstwerk vom Interesse an seiner Person freihalten; das war das letzte Mal vielleicht vor 150 Jahren möglich. Also ein echtes Spannungsfeld. Wie damit umgehen?

Maglor
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Fr 8. Apr 2011, 18:03 - Beitrag #9

Ein autobiografischer Zugang:
Die merkwürdige Darstellung eines menschlichen Körpers weist auf spezielle sexuelle Vorlieben, Paraphilien, Charakterneurosen, Psychosen,Rot-Grün-Blindheit usw. des Künstlers hin.
Die meisten Künstler wollen dies jedoch eigentlich lieber geheimhalten, von den exhibitionistischen Surrealisten mal abgesehen. Der Gedanke klingt ansonsten sehr nach dem Hesse'schen Goldmund, der Marienfiguren schnitzt, weil er in die Jungfrau Maria verliebt ist.

Die einfachere Erklärung für die merkwürdige Drastellung: Der Künstler heißt Jean-Auguste-Dominique Ingres.
Ganz suspekt ist natürlich die Erklärung, dass die verlinkte Dame von Orks entführt wurde. ;)

e-noon
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Fr 8. Apr 2011, 20:43 - Beitrag #10

Wo passt es hin?, da passt es hin.

Zitat von Wikipedia: [Gottfried] Benn selbst hat die Bedeutung der Biographie und der familiären, sozialen und regionalen Ursprünge für das Werk und die Künstlerexistenz häufig als unbedeutend bezeichnet und heruntergespielt:

Herkunft, Lebenslauf - Unsinn! Aus Jüterbog oder Königsberg stammen die meisten, und in irgendeinem Schwarzwald endet man seit je.


Dies entspricht Benns auch praktizierter Vorstellung einer strikten Unabhängigkeit und Trennung von realem, beruflichem Leben und rein künstlerischer Existenz.

Zitat von Ipsi:Denn es ist ja tatsächlich so, wenn das Kunstwerk als Kunstwerk aus sich selbst heraus bestehen kann, sind die Motive des Autors für die Wirkung des Kunstwerks gegenstandslos.

Darauf bezog ich mich mit
ob dasjenige vor allem als autobiographisch oder als zeitloses Kunstwerk angesehen wird, entscheidet unter anderem auch die Qualität des Machwerks.


Also ein echtes Spannungsfeld. Wie damit umgehen?

Wie mit allen Spannungsfeldern ^^ So, wie's gerade passt, mit deinen Worten, so, wie es demjenigen angemessen ist; wenn der Künstler psychologisierende Betrachtungen ablehnt, muss er seine Psyche abschirmen, wenn er das nicht tut, muss er mit den Konsequenzen leben. ;)

janw
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Mi 13. Apr 2011, 15:06 - Beitrag #11

Zitat von Ipsissimus:warum aber sollte ein gebildeter Rezipient, der um solche Zusammenhänge weiß und die Zurückweisung des Künstlers ohnehin antizipiert, sich auf die Deutungsvorgaben des Künstlers einlassen? Gäbe er damit nicht einen Teil seiner Mündigkeit ab?

Ein so gebildeter Rezipient würde sich natürlich auf keine Deutungsvorgaben einlassen, aber das Problem aus Sicht des Künstlers ist, daß viel Unbildung durch die Museumsgänge pilgert, und daß diese oft genug durch Journalisten ihre Löcher füllen lässt. Meine Haltung zu Journalisten ist ja bekanntermaßen durch ein gerüttelt Maß an Skepsis geprägt^^

Künstler könnte sich daraufhin der Journaille verweigern, dann würde dies aber auf ihn zurückfallen, wie Hockney seine Zurückgezogenheit durch die Journaille zum Kern seines Soseins und Schlüssel zu seinem Werk gemodelt wird. Spielst Du nicht mit uns, wirst Du gespielt^^
Das heißt, daß Künstler sich sicher sein kann, daß seine Kunst auf ihn zurück geführt werden wird, je "aneckender", umso mehr als Hinweis auf vermeintlich in ihm Steckendes, ihn grundlegend Prägendes, Charakterisierendes gedeutet.

"Ist Kunst vor solch einem Hintergrund überhaupt möglich?" könnte man fragen, Kunst als Ausdrucksform, die mehr will als in Farbe oder Form geronnene Stimmung oder dargestelltes Konkretum zu sein, sondern den Betrachter zu betreffen.



[quote="e-noon"]Die Haltung ist paradox, der Künstler möchte, dass ein Kunstwerk Irritation auslöst, die für ihn aus seiner Biographie erwächst und sich hierin ausdrückt, aber diese Irritation soll vom Betrachter dann gerade nicht mit der Biographie verbunden werden? Die einzige Möglichkeit dazu ist wohl, dem Betrachter die eigene Biographie nicht zugänglich zu machen. Selbst, wenn man sich entsprechende Kommentare verbitten würde, wenn ich, sagen wir, eine Skulptur einer Frau mit einem Loch im Bauch sehe und weiß, dass die Künstlerin eine Fehlgeburt hatte, dann ziehe ich zwangsweise die Verbindung, so unangenehm diese Verletzung der Intimsphäre der Künstlerin dann auch (möglicherweise für beide Seiten) ist. Es wird schwer, Kunst mit autobiographischem Bezug zu schaffen, ohne etwas von sich preiszugeben]
Für den Künstler ist es eine Zwickmühle, er weiß, daß keine Kunst im luftleeren Raum entsteht, zugleich aber ist sein eigenes Sosein und entsprechendes Biographisches Privatum, sein Schutz ist Selbstschutz, und ihm wohnt die Gefahr inne, daß schon der Gedanke, es könnte existieren, den Betrachter vom Werk, seiner eigenen Betroffenheit, ablenkt.
Die Skulptur einer Frau mit einem Loch im Bauch wird automatisch Assoziationen in Deiner Richtung wecken, auch ohne Wissen um entsprechendes Biographisches, auch ohne derart Vorliegendes.
Zeitlose Kunst, ist das nicht überwiegend anonyme Kunst?

Ipsissimus
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Mi 13. Apr 2011, 16:21 - Beitrag #12

es hat etwas Paradoxes: Künstler sucht für sein Werk die Öffentlichkeit, möchte aber die Deutungshoheit über sein Werk behalten. Oder weniger freundlich formuliert auch etwas Totalitäres: Künstler möchte mich als Teil der Öffentlichkeit nicht nur mit seinem Werk belästigen sondern auch noch bestimmen, wie ich mit diesem Werk umzugehen, wie mich ihm anzunähern habe. Das ist Hybris. Das einzige Recht, was ich einem Künstler nach der Veröffentlichung seines Werkes hinsichtlich der Werk-Rezeption noch zugestehe, besteht darin, dass er seine Deutung ebenfalls öffentlich machen kann, die sich dann aber wie jede andere im Kampf der Interpretationen behaupten muss.


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