Welches Buch lest ihr gerade? (II)

Die Faszination des geschriebenen Wortes - Romane, Stories, Gedichte und Dramatisches. Auch mit Platz für Selbstverfasstes.
Lykurg
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Sa 23. Apr 2011, 15:22 - Beitrag #401

Im letzten halben Jahr waren natürlich auch noch ein paar Bücher dabei, das könnte jetzt komplizierter werden. Nach dem Zustand meines Regals zu schließen, waren Andersch, Freytag, Frisch, Johnson, Kaschnitz, Kempowski, Lewis, Pratchett, und Thadden dabei.

Eben beendet habe ich aber Ilija Trojanow: Der Weltensammler (2006), einen Roman über die Reisen des Richard Burton in Indien, nach Mekka und zu den Nilquellen. Die letzten etwa hundert Seiten haben mich abgestoßen wegen der teilweise ausgedehnten Schilderungen von Mangelerscheinungen, entstellenden Krankheiten, Geschwüren und Parasitenbefall, gut gefiel mir die Multiperspektivität als Erzählweise: Burton wird zu wesentlichen Teilen aus der Sicht seiner ehemaligen Diener und Wegbegleiter, aber auch außenstehender Personen geschildert, die ihre eigene Lebensgeschichte erzählen wollen oder aber versuchen, über sein Wesen mehr zu erfahren (z.B. die Frage, ob er durch die Hadj und völlige Anpassung zum Moslem wurde). Insgesamt wirkt dieser religiöse Kontext aber aufgesetzt, besser als ein Sufi etwa mittig im Buch, der meint, eigentlich sei es für Burton wohl gleich gewesen, wie er es benennt und was er ausübt, er füge sich in jeden Kultus ein, als sei er in ihm geboren, wird es später nicht mehr dargestellt und kreist im Leeren. Der allgemeine kulturelle Hintergrund auch der Schilderungen der Erzählsituation dieser Zeugen ist interessant, aber sehr unterschiedlich farbig geraten. Eine fesselnde Gestalt jedenfalls, und deutlich angenehmer, über solche Entdeckungsreisen zu lesen, als daran teilzunehmen. Bild

e-noon
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So 24. Apr 2011, 20:08 - Beitrag #402

[quote="Lykurg"]... : Fäden des Schicksals (2003)

Eindeutig einer der schönstgewebten Fantasyromane, die mir bisher untergekommen sind. Ich fand die Geschichte glaubwürdig, spannend, überraschend und stellenweise herrlich komisch - das Buch war mir ein großes Vergnügen. Besonders gut gefielen mir das weitgehend schlüssige Magiekonzept und der von feiner Ironie geprägte Umgang mit einigen der Nebenfiguren, insbesondere gegen Ende.^^

Ich hoffe sehr darauf, durch Zufall irgendwann einmal auf ein weiteres Buch der Autorin zu stoßen. ]
Eben habe ich die Lektüre des obigen Buches beendet und kann Lykurg vollinhaltlich zustimmen.

Fäden des Schicksals erzählt aus Sicht mehrerer Figuren von einem Krieg der acht schöpfenden Götter gegen den zerstörenden Gott Ubri'cal. Der Krieg wird über Schicksalsfäden ausgetragen, die die Gestalt von Menschen, Elfen, Zwergen, Drachen sowie Halbgöttern und Dämonen annehmen können. Das Buch baut auf gleich mehreren innovativen Grundideen auf, die mir trotz regelmäßiger Fantasylektüre noch nicht bekannt waren, sehr erfreulich. Wie mehr oder weniger üblich bei High Fantasy ist nicht das Ende selbst die Überraschung, sondern das Wie, was hier gut gelungen ist. Das Magiekonzept hat mir auch gut gefallen, auch wenn ich mir (wie es mir eigentlich immer geht ^^) mehr Informationen zum Aufbau und Entstehung der Magie und einer eventuellen Verbindung zu den Göttern gewünscht hätte.

Lykurgs Wunsch kann ich mich anschließen ^^

e-noon
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Mo 25. Apr 2011, 13:49 - Beitrag #403

Soeben beendet: Carson McCullers - Das Herz ist ein einsamer Jäger.

Klappentextauszug:
"Der Roman spielt im Staat Georgia, in einer häßlichen heißen Innenstadt."
Häßlich und heiß sind auch die meisten Hauptfiguren und bilden damit einen Kontrast zu dem kühlen, gepflegten Mister Singer, einem Taubstummen, der die Verbindung zwischen den anderen Charakteren herstellt. Nachdem sein Freund Antonapoulus in eine Klinik eingewiesen wird, zieht Singer um und lernt in seiner neuen Umgebung nacheinander sehr hitzige Menschen kennen, alle arm, grüblerisch, in gewisser Weise ausgeschlossen und ihren spontanen Launen und denen der anderen häufig ausgeliefert. In Singer finden die sehr verschiedenen Charaktere eine Projektionsfläche für ihre Wünsche und Gedanken - eine beißend ironische Kombination natürlich, denn Singer versteht nicht immer alles und antwortet selten, fühlt sich ihnen auch viel weniger verbunden als sie sich ihm, aber kein literarisches Stilmittel, wie ich vermute, sondern Ausdruck einer tieferen Wahrheit: Je weniger man einen Menschen kennt, desto eher fühlt man sich von ihm verstanden.

Das Buch endet auf verschiedene Weise für verschiedene Charaktere; es ist aber eine Zustandsbeschreibung und der Zustand, den es beschreibt, so allgemein, dass es kein Ende geben kann.

Traitor
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Fr 29. Apr 2011, 20:31 - Beitrag #404

Kurt Vonnegut - The Sirens of Titan
Nicht ganz die Klasse von "Slaughterhouse Five" und "Cat's Cradle", aber ebenfalls eine Offenbarung. Vonnegut erzählt von einem Ostküsten-Aristokraten, der durch ein obskures Weltraumphänomen (chrono-synclastic infundibulum) zum Wellenphänomen wird und an allen Orten und Zeiten gleichzeitig existiert. Somit allwissend, zettelt er u.a. einen Krieg zwischen Erde und Mars an, entführt den reichsten Mann der Welt und seine eigene Frau und hat noch weit darüber hinausgehende Pläne...
Wieder mit herrlichen Absurditäten und der typischen Mischung aus Satire und ernstzunehmender Philosophie. Vonnegut gehört wohl definitiv auf die Liste der "von dem lohnt alles"-Autoren.


Terry Pratchett - I Shall Wear Midnight
Letzter Band der Tiffany-Subserie. Für mich eine leichte Enttäuschung. U.a. passiert zwischendurch zu oft zu viel chaotisch durcheinander, ohne dass die Einzelheiten genug ausgeführt werden. Manche Gastauftritte sind auch mal wieder eher unmotiviert. Das Ende ist viel zu kurz geraten, die lange aufgebaute Bedrohung letztlich nicht ernstzunehmen. Und von der anfangs so wunderbaren Lokal-Atmosphäre des Chalks ist inzwischen leider kaum noch etwas übrig geblieben.
Aber es ist natürlich trotzdem Pratchett, kurzweilig, humorvoll und mit gut gezeichnetem Hauptcharakter. Schon noch ein nettes Buch.

e-noon
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Do 5. Mai 2011, 01:43 - Beitrag #405

Kierkegaard: Philosophische Schriften. Ich habe das Inhaltsverzeichnis noch nicht durchschaut, aber offenbar lese ich gerade Entweder - Oder. Ich kann es nicht am Stück lesen, es ist zu gut. Ich könnte randomisierte Lieblingssätze zitieren, aber ich warte lieber ab, bis ich fertig bin.

Lykurg
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Do 5. Mai 2011, 06:15 - Beitrag #406

Ähnliches ließe sich auch über E. M. Forster: Maurice sagen. Zitierfähige Sätze vielleicht weniger als bei Kierkegaard, aber einige haben es auch in sich. Lesbar auch als Gesellschaftsbild, und besonders interessant angesichts des frühen Entstehens eine Passage zu abstrakter Kunst (oder handelt es sich um eine Einfügung letzter Hand?)

Traitor
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Mo 30. Mai 2011, 23:28 - Beitrag #407

Terry Pratchett - The Bromeliad Trilogy - Truckers
Terry Pratchett - The Bromeliad Trilogy - Diggers
Wings steht noch aus. Jahre her, dass ich diese Bücher über das kleine Volk, das im "All under one roof!"-Kaufhaus lebt, zuletzt gelesen hatte. In ihrer Kondensiertheit fast noch besser als die meisten Scheibenwelt-Bücher.

James Joyce - Dubliners
Als Kurzgeschichtensammlung sicher ein deutlich einfacherer Einstieg, als sich gleich an Ulysses zu wagen. Bisher allesamt sehr interessant, sehr glaubwürdig wird eine heute längst fremde Lebenswelt in unterschiedlichsten Facetten dargestellt. Auffällig ist insbesondere ein Talent dafür, die Geschichten in einer gewissen elaborate pointlessness auslaufen zu lassen.
Besonderer Bonus: nach einigen Unterhaltungen mit einem sehr authentischen Dublin-Iren letzte Woche höre ich den Text im Kopf mit passendem Akzent.

e-noon
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Di 31. Mai 2011, 00:46 - Beitrag #408

Jüngst, Beschreibung folgt:

Brecht - Herr Puntila und sein Knecht Matti
Kierkegaard - Der Verführer
Kant - Kritik der reinen Vernunft (angefangen)
Flaubert - Madame Bovary (halb durch)

Ipsissimus
Dämmerung
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Di 31. Mai 2011, 11:03 - Beitrag #409

Malcolm Lowry
Unter dem Vulkan
Reynal and Hitchcock, New York, 1947
gelesen in der deutschen Übersetzung von Susanna Rademacher, 1963, bei Rowohlt Jahrhundert, Hamburg, 1988

im Mexiko der frühen dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts lebt ein namenloser britischer Konsul in einem namenlosen kleinen Dorf am Fuß des Popocatepetl. Er ist ohne wirkliche Beschäftigung, da die politischen Beziehungen zwischen England und Mexiko extrem angespannt sind; darüber hinaus hat ihn seine Lebensgefährtin Yvonne verlassen - korrekt gesagt, sie ist trotz großer Liebe und Zuneigung vor seiner Trunksucht geflohen.

Das Buch erzählt Eskapaden aus dem letzten Stadium dieser Trunksucht, wobei Schreibstil und Inhalt einander entsprechen. Wer selbst schon einmal erlebt oder wenigstens bei anderen beobachtet hat, wie ein Mensch im Vollrausch kurz vor dem Filmriss versucht, sich oder anderen irgendetwas klar zu machen, hat eine ungefähre Vorstellung davon, wie der Stil dieses Buches ist - Wiederholungen, Diskontinuitäten, Gedankenfragmente und Sätze wie verlaufende Tinte, die sich nach starkem Beginn ins Nichts verlieren. Nicht zuletzt wegen dieses Stils gilt Lowry als ein Klassiker und bedeutender Exponent der literarischen Moderne.

zeitliche Strukturierung erfolgt über den Vollrausch; zwischen zwei Vollräuschen passiert aus der Perspektive des Konsuls nichts von Belang; selbst als Yvonne, von Gewissensbissen gepeinigt, zu ihm zurückkehrt und sein Halbbruder Hugh ihn besucht, dient das nur als Motiv für weiteres massives Trinken. Die im klassischen Sinne nicht vorhandene Handlung plätschert entlang trivialster Vorkommnisse, die sich in der Rauschwelt des Konsuls zu monumentaler Bedeutung aufblähen, welche aber regelmäßig in sich zusammenfällt wie ein aufgeblasener Luftballon, in den mit einer Nadel gestochen wird. Er schlendert durch den völlig verwilderten Garten seines Hauses, auf der Suche nach den Schnapsflaschen, die er vorher dort versteckt hat. Auf dem Rummelplatz der Stadt wird er im Riesenrad vergessen und dreht sich ganze Nacht im Kreis; dabei fällt seine Brieftasche heraus und die Straßenjungen stehlen ihm Geld und Ausweise, und mit letzterem auch seine Existenzberechtigung. Folgerichtig wird diese Existenz kurz danach bei einem Ausflug in eine Nachbarstadt durch ein paar Ultra-Nationale beendet, die ihn für einen Spion halten.

Das Buch ist brilliant depressiv bis zur Verzweiflung. Nichts für Leute, die selbst Probleme mit Depressionen oder Alkohol haben. Dazu eine Zeitgeschichte für die Zustände in Mexiko aus der Zeit unmittelbar nach der Revolution. Eine definitive Leseempfehlung, aber nur für eine stabile Lebensphase.

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Do 2. Jun 2011, 23:44 - Beitrag #410

Gustave Flaubert - Madame Bovary.

Treffendes Porträt einer gewöhnlichen Frau mit außergewöhnlich starkem Verlangen nach Romantik, Liebe, Ekstase. Die ersten Seiten driften so dahin mit der Beschreibung eines jungen Mannes, der schließlich zum Landarzt ausgebildet wird - erst, als er eine junge Bauerstochter heiratet, verschiebt sich der Focus von dem zufriedenen, mittelmäßigen Charles auf seine Frau Emma, nun Madame Bovary.
Sie ist mit sich und der Welt, insbesondere der kleinen, dörflichen Welt, in der sie ihr Dasein fristet, unzufrieden. Was sie sucht, weiß sie selbst nicht - was sie findet und kurzfristig genießt, sind übersteigerte Liebesfantastereien, die teilweise im Ehebruch enden, und Luxus, der sie dem finanziellen Ruin nahebringt. Das faszinierende an dem Buch ist die rastlose Ungeduld und Rücksichtslosigkeit, mit der Emma ihr kühles Verhältnis zu ihrem Ehemann betrachtet und sich andernorts das verschafft, was sie zuhause vermisst.

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Fr 3. Jun 2011, 00:20 - Beitrag #411

Immanuel Kant - Kritik der reinen Vernunft.

Es wird noch dauern, bis ich mit diesem Buch fertig bin.

Was bisher geschah:

Das Aufgabengebiet der Vernunft (Metaphysik) und ihre Grenzen werden erläutert. Der Anspruch des Werkes wird formuliert:
"Nun ist Metaphysik nach den Begriffen, die wir hier davon geben werden, die einzige aller Wissenschaften, die sich eine solche Vollendung und zwar in kurzer Zeit und mit nur weniger, aber vereinigter Bemühung versprechen darf, so daß nichts für die Nachkommenschaft übrig bleibt, als in der didaktischen Manier alles nach ihren Absichten einzurichten, ohne darum den Inhalt im mindesten vermehren zu können" (S. 26). Da völlige Widerspruchsfreiheit eines der wichtigsten Kriterien des Gesamtkonzeptes ist, somit ein Fehler sofort ins Auge fallen würde, gilt "widerlegt zu werden, ist in diesem Fall keine Gefahr, wohl aber, nicht verstanden zu werden" (S. 50).

Grundlegende Begriffe werden eingeführt. Zunächst erfolgt die bekannte Unterscheidung in Erkenntnisse a priori und a posteriori.
A priori sind hierbei Erkenntnisse, die unabhängig von der Erfahrung, also nicht auf empirischem Wege, erworben werden. Es handelt sich bei einem Satz genau dann um reine Erkenntnis, wenn der Satz zum einen notwendig ist und zum anderen von keinem anderen Satz her abgeleitet wurde (S. 56). Der größte Teil solcher Erkenntnisse liegt somit in den Begriffen. A posteriori beschreibt natürlich das Gegenteil, Erkenntnisse, die durch Erfahrung gewonnen werden.

Danach nimmt er eine Unterscheidung in analytische und synthetische Urteile vor. Analytische Urteile fügen dem Begriff, von dem sie handeln, nichts hinzu; sie lassen sich durch Analyse der Bestandteile schließen, sind also im Wesentlichen Tautologien. Synthetische Urteile sind hingegen solche, die über die Definition des Begriffes hinausgehen und ihm etwas Neues hinzufügen. Es liegt nahe, dass die analytischen Urteile a priori sind und die meisten synthetischen Urteile a posteriori.

Das eigentliche Gebiet der reinen Vernunft sind nun die synthetischen Urteile a priori. Sie gehen einerseits über die Definition des Begriffes hinaus, sind somit nicht tautologisch; sie bedürfen aber andererseits auch nicht der Erfahrung. Die Frage ist nun, woraus sie das Neue, das sie dem Begriff hinzufügen, beziehen sollen, wenn nicht aus dem Begriff und auch nicht aus der Erfahrung. Diese dritte Quelle der Erkenntnis, aus der sich synthetische Urteile a priori schöpfen lassen, nennt Kant die Anschauung.

Als zwei reine Formen sinnlicher Anschauung als Prinzipien der Erkenntnis a priori nennt er die Konzepte 'Raum' und 'Zeit'. Diese definiert er als notwendig, da sich ohne diese Konzepte nicht denken lässt; die Erscheinungen, die das einzige sind, was dem Menschen aus der äußeren Erfahrung bekannt ist, und die innere Betrachtung als Abfolge von Gedanken sind nur unter der Voraussetzung der Konzepte 'Raum' und 'Zeit' möglich. Im Grunde sind Kants "Anschauungen" menschliche Denknotwendigkeiten: Jene Konzepte, ohne die die menschliche Vernunft nicht funktionieren könnte. Dass dies eine sehr anthropozentrische Sicht ist, sieht Kant auch und betont, dass er nicht von den Dingen an sich rede, sondern von der Art, wie wir sie (notwendigerweise) wahrnehmen:
"Denn wir können von den Anschauungen anderer denkender Wesen gar nicht urteilen, ob sie an die nämlichen Bedingungen gebunden seien, welche unsere Anschauung einschränken und für uns allgemein gültig sind" (S. 86).


Kurzfassung:

Erkenntnis a priori - Erkenntnis vor der Erfahrung.
Erkenntnis a posteriori - Erkenntnis nach, durch Erfahrung.

Analytisches Urteil - Urteil aus dem Begriff heraus.
Synthetisches Urteil - Urteil, das dem Begriff Neues hinzufügt.

Synthetisches Urteil a priori - Notwendige Bedingungen und Kategorien menschlichen Denkens.

To be continued...

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Fr 3. Jun 2011, 00:46 - Beitrag #412

Kierkegaard - Das Musikalisch-Erotische und Tagebuch eines Verführers.

Die beiden Teile des ästhetischen Teiles von Kierkegaard Werk Entweder - Oder sind eng aufeinander bezogen. Das Musikalisch-Erotische ist Kierkegaards Deutung von Mozarts Don Giovanni, in meiner Übersetzung meist Don Juan, in der eine schwärmerische Verehrung Mozarts und der Oper auf ästhetische Überlegungen gestützt wird. Hier wird die Musik als reinste Art von Lebenslust, Liebesfreude und Verführung dargestellt, sozusagen 'Begehren an sich' in seiner Unmittelbarkeit, der die literarische Verführung gegenübergestellt wird, jene, die mit Worten, Strategien und Bewusstheit vollzogen wird. Dieser zweiten Art der Verführung ist dann das Tagebuch eines Verführers gewidmet, ein als Collage aus Tagebucheinträgen und fingierten Briefen strukturierter Roman, in dem Johannes (Giovanni/Juan) einem Mädchen, Cordelia, nachstellt und sie immer fester an sich bindet. Kierkegaards Stil ist im ersten, 'theoretischen' Teil wesentlich prägnanter und auch mitreißender; das Tagebuch hätten viele schreiben können, das Musikalisch-Erotische nur er.

Lykurg
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Sa 11. Jun 2011, 00:00 - Beitrag #413

Johann Amos Comenius: Das Labyrinth der Welt und das Paradies des Herzens (1631)

Allegorischer Bericht in zwei Teilen (teilweise mit autobiographischen Bezügen), erstaunlich aktueller Text in vielerlei Hinsicht, der erste Teil stellenweise große Satire. Die didaktische Absicht ist allerdings ständig sehr offensichtlich und seine Weltsicht sehr pessimistisch, aber daran kann man ja durchaus auch Gefallen finden und darin seine Qualität erkennen. Besonders gelungen fand ich die Gelehrtensatire (vor allem das 10., 11. und 16. Kapitel). Die Unwissenheit über das Judentum ist erschreckend (bzw. allgemein die religiösen Vorurteile, da aber besonders kraß; kritisch auch gegenüber diversen innerchristlichen Kontroversen, wie in der Zeit nicht anders zu erwarten).

Die Erklärung, warum die Königin Weisheit (mit ihrem Räten Güte, Mäßigkeit, Wahrheit etc.) keine Macht über die Welt hat, liegt für den Ich-Erzähler darin, daß es alles Frauen sind. Dagegen sind an anderer Stelle seine Aussagen über Frauen sehr spannend, es kommt zu einem gerichtlichen Vergleich zwischen Männern und Frauen über die Frage der Vorherrschaft, das Ergebnis ist zwar traditionell, aber augenzwinkernd: "Denn sonst würde das große Geheimnis er öffentlichen Verwaltung, daß die Männer die Gemeinde, die Gemeinde die Weiber und die Weiber wieder die Männer lenken, an den Tag kommen; und dazu sollten, bitte Ihre Majestät, es beide Teile nicht kommen lassen."

Der zweite Teil baut dagegen (aus meiner Sicht) stark ab, der Pilger begibt sich ins Innere seines Herzens, gewinnt die Reinheit seiner Seele zurück und lernt die Gegenwelt des Wahren Christen kennen, mitsamt Abschluß im Himmel, stark mystisch, versteht sich. Die Antwort auf alle Fragen sind jedenfalls für ihn Gottesliebe und Nächstenliebe; ich bin mir auch nicht sicher, wie ernsthaft er ein Mönchstum einfordert oder das nur im übertragenen Sinne meint. Naja.

Traitor
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Sa 25. Jun 2011, 22:55 - Beitrag #414

Worin liegt die Aktualität, Lykurg?

Nach den Dubliners (bis zum Ende gut gefallend):
Kurt Vonnegut - Breakfast of Champions
Vonnegut-Bücher sind immer seltsam, chaotisch und metaebenenlastig, aber bei diesem sind das sogar eindeutig die definierenden Eigenschaften. Die eigentliche Handlung ist eher irrelevant (ein geistig instabiler Autohändler hält eine SF-Story für Gottes Wort und läuft Amok), wird anfangs groß angekündigt und findet dann irgendwann eher nebenbei und unspektakulär statt. Dafür treten aber sowohl ein Alter Ego des Autors als auch der Autor selbst auf, zig weitere SF-Story-Ideen werden als Werke im Werk kurz angerissen, die Welt des 20. Jahrhunderts wird für zukünftige Beobachter in Wort und Bild erklärt (wobei u.a. nur eine Seite zwischen einer Statistik über amerikanische Penislängen und einer Kurzzusammenfassung der deutschen Geschichte ("waren geistig kranke Nazis, wurden wieder gesund, haben dann Autos gebaut") liegt), und unzählige herrliche Witze und grob unsinnige Nebenhandlungen und -bemerkungen sind längst keine Auflockerung, sondern eben eigentlicher Sinn der Sache.
Die inhaltliche Größe von "Cat's Cradle" und "Slaughterhouse Five" erreicht Vonnegut wieder nicht, ist aber auch hier einfach ein Meister der Groteske.

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So 26. Jun 2011, 18:38 - Beitrag #415

Hmm, rückblickend sehe ich nicht mehr, was genau ich damit meinte. Überzeitliche Aktualität vielleicht ein bißchen in der Gelehrtensatire die Darstellung der Voraussetzungen eines akademischen Werdeganges, eher noch allgemeinmenschliches. Der Text ist vielen Dingen gegenüber recht drastisch, ähnlich den beiden letzten, die ich gefressen habe...

Thomas Bernhard: Goethe schtirbt (2010)
Schmaler Band mit vier Erzählungen, deren erste, die titelgebende, Goethes letzte Lebenstage etwas abweichend von der Wirklichkeit beschreibt: der alte Dichter ist besessen von dem Wunsch, (Ludwig) Wittgenstein zu begegnen - stattdessen erhält er nur jede Menge Möglichkeit, über seine eigene Unzulänglichkeit zu reflektieren, Bemerkungen, die allerdings im wesentlichen von seinen verschiedenen Sekretären untereinander mitgeteilt werden. - Die weiteren Erzählungen befassen sich mit einer Montaignelektüre, der besonderen Grausamkeit von Gebirgsspaziergängen mit gestrickten roten bzw. grünen Wollstrümpfen, und mit der Hoffnung, Österreich möge endlich niederbrennen. Alle vier sind typische Bernhard-Texte voller bösartiger Polemik, besonders der letzte liest sich rauschhaft und enthält besonders wohldosierte Gemeinheiten, ohne allerdings die Geschlossenheit seiner Romane zu erreichen.

Deshalb gleich im Anschluß

Thomas Bernhard: Holzfällen (1984)
Der Roman beschreibt den Verlauf einer künstlerischen Abendgesellschaft im Haus der Auersbergers, die vom Ich-Erzähler monologisierend kommentiert werden. Unversehens gerät der Leser in den Sog einer gewaltigen Schimpftirade gegen die Wiener Gesellschaft und vor allem scheinbares Kunstinteresse, die sich über 300 Seiten erstreckt, ohne wesentlich mehr zu erzählen als auf der ersten Seite dargestellt wird - das aber in glänzendster Weise dramatisiert und durchgeformt; ständige Wiederholungen, die jedesmal Variationen und absurde Steigerungen beinhalten. Witzig fand ich auch, wie sehr der Autor völlig indirekt (!) meine Erwartungen erzeugte und erfüllte, z.B. fand ich auf Seite 170, allmählich könne mal etwas passieren, und ein oder zwei Seiten später ging plötzlich die Handlung los; meine Neugier auf persönliche Details zur Erzählerfigur wurde genauso jeweils etwa eine Seite nach ihrem Aufkommen gestillt, mein zunehmender Ekel vor deren Selbstverliebtheit führte sofort zu einer entsprechenden Selbstreflexion im Text uvm. - das fand ich als Leseerlebnis sehr, sehr eigenartig.
Spannend als Hintergrund der Literaturskandal um Gerhard Lampersberg(er), das literarische Vorbild, der zunächst gegen die Veröffentlichung des Buches klagte, die Klage aber zurückzog.

Zuvor
Aimee Bender: The Particular Sadness of Lemon Cake (2010)
Die Geschichte eines Mädchens, das zu Anfang des Buches, mit neun Jahren, eine übernatürliche Fähigkeit in sich entdeckt: Sie schmeckt in Nahrungsmitteln die Emotionen und Gedanken dessen, der sie zubereitet hat. Das macht sie über die Jahre eher fertig, weil sie darüber ziemlich viele Dinge mitbekommt, die sie nicht wissen möchte, deswegen jedes Essen fürchtet und sich zu einer Neurotikerin entwickelt. Die titelgebende Traurigkeit zieht sich aus mehreren weiteren Gründen durch den Roman, der in ihrem Aufwachsen auch eine schön erzählte, zugleich aber reichlich defizitäre Familien- und Liebesgeschichte schildert.

Emily Brontë: Wuthering Heights (1847)
Über drei Generationen erzählte Geschichte zweier Familien voller Trostlosigkeiten und Grausamkeit in einer wilden Landschaft; wesentlich das Geschehen um das Findelkind Heathcliff, der sich in den Besitz beider dazugehörigen Herrenhäuser bringt und erst durch seinen etwas Deus-ex-Machina-artigen Tod die verbliebenen Nachkommen ein glückliches Ende beschert. Sehr spannende Erzählweise, vermittelt aus den pseudotagebuchartigen Notizen eines Außenstehenden, der sich die Geschichte großenteils von einer alten Dienerin erzählen läßt (mit eingestreuten Binnenerzählungen) und in gewissem Maße selbst daran Anteil hat, ein ziemlich komplexes Spiel im Spiel.

(vorher Brecht: Herr Puntila und sein Knecht Matti; Das Leben des Galilei)

e-noon
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Di 12. Jul 2011, 10:05 - Beitrag #416

F.M. Dostojewski: Der Spieler.

Gefiel mir wesentlich besser als Schuld und Sühne, wenn auch hier wieder gegen Ende Elemente des Wahnsinns, bzw. wahnhafte Gedanken ansetzen; diese sind aber bei einem Spielsüchtigen leichter und damit auch leichter zu verstehen als bei einem Mörder.

Eine sehr witzige Bemerkung gleich zu Anfang (S. 16) hat es mir angetan:

"Ich kann jenes Lakaientum in den Feuilletons der ganzen Welt und besonders in den russischen Zeitungen gar nicht ausstehen, wo fast jeden Frühling unsere Feuilletonisten nur von zwei Dingen zu erzählen wissen: erstens von der außergewöhnlichen Pracht und Herrlichkeit der Spielsäle in den Kurorten am Rhein und zweitens - von den Goldhaufen, die dort auf den Tischen liegen sollen. Man bezahlt sie ja gar nicht dafür - das wird einfach aus selbstlosem Schmeichlertum berichtet."

Viel wichtiger und im Grunde bestimmend nicht nur für dieses Buch, sondern für andere Bücher und auch andere Leben, ist hingegen dieser Satz:
"Vereinigt sich ein Gedanke mit einem heftigen, leidenschaftlichen Verlangen, so hält man ihn bisweilen schließlich für etwas vom Schicksal Bestimmtes, Unerläßliches, für etwas, das unbedingt eintreten muß!"

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Di 12. Jul 2011, 11:35 - Beitrag #417

Katinka3

Das letzte Buch was ich gelesen habe, handelte von einem Mann der Taub und Blind war. Zuerst war er als Kind Taub, später in der Jugend kam die Blindheit dazu. Der Mann heißt Peter Hepp. Den gibt es übrigens wiklich, der steht sogar im Internet. Sein gesamtes Schicksal ist da zu erlesen. Es ist unglaublich wie der sein Leben lang gekämpfte hat, um was zu erreichen. Mittlerweile ist er Verheiratet hat soweit wie ich weiß 2 Kinder, ist Diakon für gehörlose und Blinde. Ein gutes Buch, finde ich.

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Di 12. Jul 2011, 12:30 - Beitrag #418

@e-noon: Spielbank Bad Neuenahr? ;)

@Katinka: Und der Titel?

Nach dem Vonnegut:
Terry Pratchett - Wings
Abschluss der Nomentrilogie. Natürlich mit den großartigen Fröschen: "- - Mip Mip - -". :D

Dann:
Ray Bradbury - Long After Midnight
Wieder mal eine Kurzgeschichtensammlung. Interessante Mischung klassischer SF (Marserkundung), semiklassischer SF (Jesus auf dem Mars, ein George-Bernard-Shaw-Roboter...) und Non-SF (ein Papagei, der Hemingways letzten, ungeschriebenen Roman memorisiert).

Lykurg
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Di 12. Jul 2011, 13:47 - Beitrag #419

Ja, Traitor! Diese Frösche sind absolut großartig! Bild

Zuletzt
Markus Zusak: The Book Thief (2005)

Geschichte eines anfangs neunjährigen Mädchens, das als Kommunistenkind (?) und Halbwaise 1939 von einer armen Familie in der Nähe von München aufgenommen wird; Erzählung über ihre Erlebnisse während der Kriegsjahre, eine zweifache Liebesgeschichte und ziemlich viel Tod; entsprechend ist Tod auch der Erzähler der Geschichte (er hat eigenartigerweise ein Faible für Farben, nicht für Katzen). Schöne Ideen drin und eine bewegende Handlung, allerdings schwerwiegende Recherchefehler, die mir das Lesevergnügen deutlich geschmälert haben, weil Teile des Plots nur bedingt einen Sinn ergeben.

Verwirrung herrscht übrigens um die Zielgruppe; einerseits wird das Buch für 12-15jährige beworben, andererseits gibt es eine abweichende Ausgabe für Jugendliche, von der abweichend die, die ich gelesen habe, als Erwachsenenbuch bezeichnet wird. Fand es auch recht heftig, aber bin zwiegespalten über die Erwachsenentauglichkeit. In jedem Fall scheint es mir ungeeignet für jemanden, der mehr über das Leben in den Kriegsjahren und jüdische Flüchtlingsschicksale erfahren will; dafür ist der Autor nicht beschlagen genug (ein Deutsch-Australier, der sich zwar auf die Erinnerungen seiner Eltern stützt, aber vermutlich nie die Handlungsorte besucht hat? Jedenfalls lesen sich die Beschreibungen nicht so, als gäbe es einen der Orte außerhalb von Filmen).

und mehrere Wiederlektüren zur Auffrischung.

Katinka3
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Di 12. Jul 2011, 16:59 - Beitrag #420

Traitor

Der Titel heißt: Die Welt in meinen Händen: Leben ohne Hören und sehen. Von Peter Hepp.

@Lykurg: Was heißt unter meinem Namen Growing Newbie, wo kann ich ein schönes Bild herbekommen.? Du hast diesen Mozart Menschen als Bild

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