Muss mal Dampf ablassen

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Anaeyon
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Mo 25. Jul 2011, 23:28 - Beitrag #1

Muss mal Dampf ablassen

Hallo Matrix. Lange nicht gelesen, aber ich brauche mal wieder ein wenig "Web 1.0"-Feeling. *schamlos ausnutz* Bild

tl;dr: Ich finde alles blöd und brauche neue Gedanken. Und es hat einen Bezug auf den gedopten Tempelritter, passt aber so glaube ich nicht in den entsprechenden Thread.

Seit einigen Monaten schon gibt es ein neues Gefühl in meinem Kopf. Eins, was mir nicht ganz fremd ist, welches jedoch nie so stark und permanent auf sich aufmerksam gemacht hat. Und auch wenn dieses Wort normalerweise in einem anderen Kontext verwendet wird und auch wenn es dramatischer klingen mag als es gemeint ist: ich radikalisiere mich. Glaube ich zumindest.

Nicht so wie ein Terrorist oder ein Amokläufer. Eher wie ein Demokrat und ein Befürworter der Menschenrechte. Aber ich verspüre eine ähnliche Wut und Verzweiflung wie man sie so oft in Abschiedsbriefen oder Manifesten eben jener lesen muss. Ich glaube nicht mehr an die Welt in der ich aufgewachsen bin. An das demokratische Deutschland, an westliche Werte. Ich glaube mittlerweile, dass ich lediglich das Privileg hatte, in einer freundlichen und friedlichen Umgebung aufzuwachsen, in einer Gesellschaft die zerbrechen wird. Die sich brechen lassen wird.

Jede politische Diskussion über Sicherheit löst in mir starke Angst um die Freiheit aus. Jede Ungerechtigkeit macht mich unglaublich wütend. Und nach und nach begreife ich auch, wie unglaublich unfähig Menschen sind.
Ich dachte früher immer, dass die "sozial stärkere" Umgebung aus der ich komme sich nur ein wenig von der weniger sozial starken Schicht abhebt. Mittlerweile fühle ich mich von Wesen umgeben, die ich nichtmal als Tiere bezeichnen möchte. Hirnlos, sorglos, unwissend über die Konsequenzen ihres eigenen Verhaltens. Da liegen Welten zwischen meiner Welt und deren und das nimmt mir den Mut, den ich früher noch hatte.

Früher sah ich in Regierungen und Lobbys den Feind und in den normalen Menschen "meine Leute". Mittlerweile sehe ich nur noch Inkompetenz auf jeder Seite. Und Inkompetenz in mir, mit dieser Realität klarzukommen.
Ich liege manchmal im Bett und versuche erfolglos, einzuschlafen, sehe einen CDU-Politiker im Fernsehr, der was von Vorratsdatenspeicherung erzählt und Sekunden später sehe ich mich als Widerstandskämpfer in einer Welt, die von Zierckes Sturmtruppen (no pun intended) mit einer schwarzen Pest aus Sicherheit überzogen wird. Auf Dauerschleife, bis ich einschlafe.

Ist mir auch klar, dass das ein wenig spinnert ist. Aber es ist ein Ausdruck meiner Wertschätzung für die Werte, deren Existenz und vor allem deren "Ewigkeit" mir mein ganzes Leben lang glauben gemacht wurde.
Und langsam begreife ich, wie schnell das alles in sich zusammenfallen kann. Ein (ich vermute..) großer Teil unseres Volkes ist so dermaßen dumm, da bräuchte es nur einen "geglückten" Anschlag hier und sie würden sich noch bedanken dafür, dass man ihnen die Freiheit nimmt.

Die Aussage von Norwegens Premier Stoltenberg ist für mich quasi Weihnachten und Geburtstag gleichzeitig. Die Aussage, dass man angesichts solch eines Vorkommnisses die eigenen Werte, die Freiheit und die Offenheit wahren muss. Und sofort ist da wieder diese Angst und Wut in mir, und dieser Film der sich in meinem Kopf abspielt, von dem deutschen Politiker XY, der in einem vergleichbaren Fall als erstes nach mehr Sicherheit kreischen würde, nach verdachtsunabhängiger Überwachung, pardon, nach irgendwas, das in Politik-Sprech ganz flauschig klingt.

Als nach der Explosion in Norwegen gleich von Islamisten gefaselt wurde, hätte ich am liebsten irgend einen Deutschen mit nem Koran krankenhausreif geprügelt. Die ganzen Leute in der Presse und auch ein paar Politiker. Und in genau dem Moment war mir auch klar: Wenn das kein Islamist war, dann wird unsere Medienlandschaft nach Ausreden suchen. Und was ist mal wieder der Fall? Ach ja, er hat Ballerspiele gespielt. Leute, er ist christlicher Fundamentalist. Punkt. Wenn das ein Islamist wäre, dann wäre das genau alles an Information, was benötigt worden wäre. Was man hätte "wissen müssen" über ihn. Aber wenn das was aus unserem eigenen Kulturkreis ist..nee...Das geht nicht. Christentum ist doch was tolles, und wir hier, wir sind doch eh die moralischen Vorbilder dieser Welt.

Am Ende werden die Gründe für seine Taten dann offiziell "Internet, Ballerspiele, Drogen und irgend eine psychische Störung" sein. Internet besteht ja eh nur aus Pädophilen und Terroristen. Sollte man gleich abschalten. Deutsche Angst? Und genau diese Haltung macht mich so dermaßen krank.

Ich weis ja, dass ich sehr dazu neige, zu übertreiben. Sowohl in Gedanken, als auch beim Aufschreiben meiner Gedanken. Aber ich sehe auch nach viel Überlegen keinen logischen Weg, von diesen Gefühlen wegzukommen. Für mich gibt es keine "Kultur" mehr zu der ich dazugehören könnte. In meinem Land fühle ich mich nicht mehr wohl. Wir verkaufen Kampfpanzer an Saudi Arabien? Damit die dann damit indirekt oder direkt auf Demokraten ballern? Und warum brennt der Bundestag noch nicht? Warum sind die Verantwortlichen dafür noch nicht restlos aus der Politik (und aus der Öffentlichkeit) entfernt worden? Kann mir vielleicht irgend jemand einen Weg aufzeigen, überhaupt noch irgendwas ernst zu nehmen? Denn entweder werde ich langsam paranoid (ich schließe jugendlich-hormonell bedingte Gefühlswallungen einfach mal so langsam aus ^^) oder die Kultur der Menschenrechte und der Freiheit wird gerade von allen erdenklichen Seiten mit Füßen getreten und keiner hat was (wirksames) dagegen.

Die Vorratsdatenspeicherung wird vom Verfassungsgericht abgelehnt und die Verfassungsfeinde aus der Regierung fordern weiter danach, so als würde es ein Verfassungsgericht gar nicht geben. Sie wollen Netzsperren wegen Kinderpornos und es ist nur allzu offensichtlich, dass diese Begründung bullshit ist. Als das nicht geklappt hat, hat mans mit der Begründung "Glücksspiele" versucht. Zehntausende Handys wurden Verdachtsunabhängig ausgespäht, der "Verantwortliche" dafür darf jetzt afaik in der Landespolizeidirektion arbeiten, anstatt gar nicht mehr. Man hört vielerorts Gemunkel über Provokateure in Zivil, auf Demos. Dann fast wöchentlich so Glaubwürdigkeits-Killer, so Geschichten wie die 720°-Wende in der Atompolitik, wo die CDU auf einmal schneller aussteigen wollte als die Grünen. Dann so Sachen wie das kaputte Wahlrecht.

Ist das eigentlich noch demokratisch, was hier abläuft? Oder darf ich mich zurecht ein wenig "radikalisiert" fühlen? Ich sehe hier nur noch Verrückte, die sich den Überwachungsstaat herbeiwünschen.

Ist das nur eine alte Generation von Politikern, die neue Gesellschaftsvorstellungen, die durch das Internet entstanden sind, nicht versteht? Lese ich zu viel unreflektiert Fefes Blog?

Ich entschuldige mich schonmal für den Schreibstil und die wilden Emotionen *hust* Bild

Ipsissimus
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Di 26. Jul 2011, 00:42 - Beitrag #2

willkommen im Club^^

Anaeyon
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Di 26. Jul 2011, 08:59 - Beitrag #3

Das beruhigt mich jetzt nur indirekt. In welches Land lässt es sich denn gut auswandern, mit jenen Bedenken? Ich mag ja Skandinavien...Bild

C.G.B. Spender
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Di 26. Jul 2011, 09:01 - Beitrag #4

Ein brillianter Beitrag, Anaeyon.

Lykurg
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Di 26. Jul 2011, 10:54 - Beitrag #5

'Wilde Emotionen' ja, jugendlicher Überschwang nein? Immerhin den spontanen Wunsch zum Krankenhausreifprügeln eines beliebigen Deutschen hoffe ich doch auf letzteres zurückführen zu können. Bild

Ja, der Verlust unserer Freiheit und einiger Grundwerte unserer Demokratie ist genau das, was der Attentäter bezweckte, und es ist traurig, daß die daraufhin wieder angestoßenen Debatten sein Ziel befeuern. Andererseits hat aus der Sicht konservativ denkender Menschen der Staat eben den Auftrag, Taten wie diese mit allen demokratisch tragbaren Mitteln zu verhindern, und dabei handelt es sich Punkt für Punkt um Abwägungen, die von Mensch zu Mensch unterschiedlich beurteilt werden, und ebenso wie viele den Verlust ihrer Freiheit beklagen, erheben andere (teilweise auch dieselben Leute!) schwere Vorwürfe gegen Sicherheitsorgane, die es nicht haben verhindern können.

Wo muß man ermitteln, wo darf man es nicht? Dürfen die Daten Unschuldiger gesammelt werden, um Schuldige darunter finden und benennen zu können? Im konkreten Fall hätte es wohl wenig genützt - aber kann man es verantworten, Schritte, die Leben retten können, nicht zu tun? Ich finde die Abwägung überaus schwierig, auch wenn ich die Bedenken, die dagegen stehen, sehr gut verstehe.

Ipsissimus
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Di 26. Jul 2011, 11:28 - Beitrag #6

aus meiner Sicht wird die europäische Gesellschaft, auch in der Summe ihrer Einzelgesellschaften, von politischen Klüften durchzogen, die mehr oder weniger stark im Fokus stehen. Und eine der wichtigsten Klüfte, die uns noch viel Freude machen wird, ist das Erblühen ultrarechten Gedankengutes und entsprechender Organisationen.

Über Maßnahmen kann man streiten, da stimme ich Lykurg zu. Für mich steht allerdings auch fest, dass polizeiliche oder geheimdienstliche Maßnahmen nicht geeignet sind, das Problem zu lösen. Dieses Gedankengut muss bekämpft werden, indem es an die Öffentlichkeit gezogen und öffentlich diskutiert wird, und zwar mit aller Deutlichkeit. Der Öffentlichkeit muss endlich der Anblick der Fratze in letzter Deutlichkeit zugemutet werden, nur dann kann essentiell diskutiert werden. Was danach noch an Auswüchsen verbleibt, dafür ist Polizei zuständig. Die Verlagerung von politischen Klärungen in polizeilich/geheimdienstliche Maßnahmen wird andernfalls ein zunehmendes Problem.

Maglor
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Di 26. Jul 2011, 13:27 - Beitrag #7

Dann bist auch du erwacht und hast die Natur des feuilletonistischen Zeitalters erkannt.
Der Stumpfsinn wiederholt sich Jahr um Jahr. Und was ich jetzt für ein schillerndes Juwel hielt, zerplatzt wie eine Seifenblase. Und in mir ist noch diese finstere Vision, dass es eines Tages alles zerbrechen wird. Alles geht unter.
Die alten Ägypten, die Griechen und Römer ... am Ende bleibt nichts mehr übrig als Ruinen, Scherbenhaufen und Legenden.


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