Griechenland einmal anders gesehen

Das aktuelle politische Geschehen in Deutschland und der ganzen Welt sowie wichtige Ereignisse der Weltgeschichte.
janw
Moderator
Moderator

Benutzeravatar
 
Beiträge: 8488
Registriert: 11.10.2003
Mi 10. Aug 2011, 00:50 - Beitrag #1

Griechenland einmal anders gesehen

Entgegen den zur Zeit gerne verbreiteten Klischees von steuerhinterziehenden Griechen mit aufgeblähtem Beamtenapparat und Korruption als sozialem Prinzip zeichnet ein Interview im Deutschlandfunk ein deutlich differenzierteres Bild mit überraschenden Details.

link:
Bürger: Worin rührt aber die Angst der Griechen vor einer ich nenne das jetzt mal feindlichen Übernahme? An welche alten Erinnerungen knüpft das an, dass die Griechen sich jetzt von den Deutschen bevormundet fühlen?

Rondholz: Na ja, die Erinnerung an die Besatzungszeit ist da und auch an die wirtschaftliche Ausplünderung des Landes in dieser Zeit. Es ist ja nicht nur so, dass da Tausende von Zivilisten umgebracht worden sind bei sogenannten Vergeltungsaktionen, sondern das Land ist wirtschaftlich ausgeplündert worden. Es wurden den Griechen Zwangskredite verordnet, Geldsummen, die bis heute nicht zurückgezahlt worden sind, daran muss man auch mal gelegentlich erinnern, es geht da also doch immerhin um ganz erhebliche Summen, nach heutiger Kaufkraft etwa fünf Milliarden Euro, die das deutsche Reich den Griechen als Kredit abverlangt hat, und wenn man Zins und Zinseszins dazurechnet, wären das heute ungefähr 20 Milliarden, und die sind nie bezahlt worden, diese Gelder, und daran erinnert man heute auch, nicht wahr. Also die Ausplünderung und Ausbeutung Griechenlands in der Zeit der Besatzung ist noch in Erinnerung, das ist nicht vergessen.

Traitor
Administrator
Administrator

Benutzeravatar
 
Beiträge: 17500
Registriert: 26.05.2001
Do 11. Aug 2011, 20:15 - Beitrag #2

Das ist doch nichts neues, sondern wird schon seit Wochen oder Monaten diskutiert.

Für mich sind solche verbliebenen Kriegsschulden einerseits schon begleichenswert. Andererseits sind die Vorwürfe gegen das aktuelle Deutschland in ihrer moralischen Intensität übertrieben, denn immerhin hat es ja überhaupt schon einiges an Entschädigungen geleistet, etwas, das kaum andere Kriegsschuldige je getan haben.

Ganz davon abgesehen wiegt das reine Aufbringen solcher Aspekte in keinster Weise aktuelle griechische Fehlentwicklungen auf. Das dortige System ist nicht weniger korrupt und ineffizient, nur weil Deutschland Kriegsschulden hat. So kann man Fehler nicht gegeneinander aufwiegen. Weniger korrupt und ineffizient, als es manche Stammtische und Boulevardmedien darstellen, ist Griechenland dabei natürlich schon. Allerdings auch wiederum offenbar korrupter und ineffizienter, als es sich leisten kann.

janw
Moderator
Moderator

Benutzeravatar
 
Beiträge: 8488
Registriert: 11.10.2003
Do 11. Aug 2011, 21:50 - Beitrag #3

Naja, es scheint ja um durchaus relevante Beträge zu gehen, die eben auch mit der Misere in Zusammenhang stehen könnten.

Man sollte natürlich auch nicht die Diktatur bis ?1975 vergessen.
Will sagen, Nichtsteuer und Korruption sind sicher sehr bedeutsame Faktoren, aber nicht die einzigen.

Traitor
Administrator
Administrator

Benutzeravatar
 
Beiträge: 17500
Registriert: 26.05.2001
Fr 12. Aug 2011, 19:21 - Beitrag #4

Die Diktatur könnte auch ein Grund dafür sein, dass sich früher nie ernsthaft um Rückzahlungen bemüht wurde.

Eine Einmalrückzahlung von 20 Milliarden wäre übrigens zwar sicher ein netter Bonus für Griechenland, bringt aber keine strukturelle Verbesserung, und ihr bisheriges Ausbleiben ist sicher kein wesentlicher Faktor für das Aufkommen der Misere.

Lykurg
[ohne Titel]
Lebende Legende

Benutzeravatar
 
Beiträge: 6865
Registriert: 02.09.2005
Fr 12. Aug 2011, 21:28 - Beitrag #5

Das sehe ich ähnlich; es wäre nur eine Teilzahlung und würde an den desaströsen Strukturen nichts ändern, im Gegenteil den Änderungsdruck reduzieren, zugleich aber hier (marginal) Kapital abziehen, das ggf. zur Rettung weiterer Staaten gebraucht wird. Die Nichtzahlung von Reparationen an Drittstaaten nach dem 2. Weltkrieg entspricht übrigens dem Londoner Abkommen, quasi einem Schuldenschnitt für die junge Bundesrepublik; wenn man das rückgängig machte, wären auch noch Zahlungen an diverse weitere europäische Länder fällig, die uns massiv belasten würden. Das könnte für den Euroraum schwerwiegende Folgen haben.

Interessant ist aber auch, daß Griechenland in den letzten Monaten seine Goldreserven aufgestockt hat. Vernünftig, aber nicht gerade fair.

janw
Moderator
Moderator

Benutzeravatar
 
Beiträge: 8488
Registriert: 11.10.2003
So 14. Aug 2011, 14:24 - Beitrag #6

Traitor, ich bin mir nicht so sicher, ob nicht einige Probleme durch die unbehobenen Schäden der deutschen Besatzung erheblich mit verursacht wurden oder es ohne sie heute in bestimmten Bereichen deutlich besser aussähe. Man darf nicht vergessen, da wurden ganze Dörfer ausradiert, eine ganze Generation damit, und die Zwangskredite haben viele über Jahrzehnte geschröpft.
Die Art, wie Deutschland damit umgegangen ist, ist wirklich daneben und psychologisch desaströs.

Zitat von Lykurg:Das sehe ich ähnlich]
Es könnte aber die eine oder andere Wirkung der desaströsen Strukturen dahin gehend verändern, daß wirtschaftliche Spielräume entstehen, die Veränderungen ermöglichen - man sehe nur mal die Arbeitslosigkeit unter jungen, bestausgebildeten Menschen von ca. 40%.
Zahlung müsste ja nicht in Geld bestehen, sondern könnte in know-how und Ausbildungsstrukturen für z.B. ein Katasterwesen und eine Steuerverwaltung bestehen oder anderem.
Das Argument mit dem Veränderungsdruck halte ich für unangemessen autoritär, letztlich degradierend, als handle es sich nicht um einen Staat und eine Bevölkerung aus erwachsenen Menschen, sondern um Kinder.
Mir persönlich kommt es so vor, wie wenn man jemanden zur "Strafe" für irgendetwas mit dem Kopf in Schlamm duckt und ihm dabei erklärt, er solle sich ändern, und die Forderung eines anderen, ihn aus dem Schlamm zu ziehen, damit beantwortet, dann würde es ihm ja so viel besser gehen, daß er keine Notwendigkeit mehr hätte, sich zu ändern.
Natürlich meine persönliche Assoziation, Du meinst es nicht so.

Das Argument greift IMHO auch deshalb zu kurz, weil es sich nicht um einen einzelnen Schuldner handelt, der bis auf den Grundbehalt haftet, sondern um einen Staat mit Bürgern, der funktionieren muss und die Anspruch auf die staatlichen Grundleistungen haben - Infrastruktur, Bildung, Sicherheit, Ver- und Entsorgung,... - und dementsprechende Spielräume braucht. Man kann eine Gesellschaft nicht "einfrieren". Gerade das passiert aber mit den derzeitigen Einsparungen, sie treffen gerade die Ärmeren. Und ohne diese Spielräume können auch die notwendigen Reformen nicht durchgeführt werden.

Aber letztlich kommt man eben auch nicht daran vorbei, daß die griechischen Probleme schon länger bekannt gewesen sind, ohne daß es zu diesen Kapitalmarktbewegungen gekommen ist. Das Problem ist IMHO zum guten Teil zur Krise geworden, weil es zur Krise werden sollte, weil man an der Krise verdienen wollte. Leerverkäufe und CDS haben dazu maßgeblich beigetragen, und daran haben einige bestens verdient.
Die gezielte Darstellung NUR der einen Seite in den Medien, auch in talkshows in ARD und ZDF und hier völlig unreflektiert, hat dazu das nötige Meinungsfeld geschaffen.

Bei den anderen Staaten ist es im Wesentlichen das gleiche, auch da werden Probleme durch gezielte propagandistisch befeuerte Spekulation zur Krise, für die dann die Allgemeinheit gerade stehen soll.

Die Nichtzahlung von Reparationen an Drittstaaten nach dem 2. Weltkrieg entspricht übrigens dem Londoner Abkommen, quasi einem Schuldenschnitt für die junge Bundesrepublik; wenn man das rückgängig machte, wären auch noch Zahlungen an diverse weitere europäische Länder fällig, die uns massiv belasten würden. Das könnte für den Euroraum schwerwiegende Folgen haben.

Das Londoner Abkommen hat im Wesentlichen die Vorkriegsschulden gegenüber den Siegermächten des 1. Weltkrieges behandelt, die Ansprüche anderer Staaten bis zu einem Friedensvertrag zurückgestellt. Anstelle dieses Friedensvertrag wurde 1991 der 2+4-Vertrag abgeschlossen, durch dessen explizite "Anstelle eines F."-Bezeichnung Deutschland diesen Forderungen nicht nachkommen muss.
Ein wahrhaft teuflischer Schachzug gegen all die Angehörigen von Opfern des deutschen Terrors in den von Deutschland besetzten Ländern des Balkans.

Interessant ist aber auch, daß Griechenland in den letzten Monaten seine Goldreserven aufgestockt hat. Vernünftig, aber nicht gerade fair.

Der Kapitalmarkt hat Griechenland an den Rand des Ruins gebracht, warum soll Griechenland nicht von den nutzbaren Begleiteffekten profitieren. Hoffentlich schaffen sie es, rechtzeitig aus dem Gold auszusteigen, bevor der Preis wieder fällt.

Lykurg
[ohne Titel]
Lebende Legende

Benutzeravatar
 
Beiträge: 6865
Registriert: 02.09.2005
So 14. Aug 2011, 20:24 - Beitrag #7

"viele über Jahrzehnte geschröpft"? Nein, eher handelte es sich um eine Form von Raub, aber logischerweise ist das nicht irgendwie immer weiter gegangen, sondern 'nur' nie zurückgezahlt worden.

Das Entstehen einer selbsttragenden Wirtschaft ist nicht eine Frage von genügend Anfangskapital, sonst müßte es etwa für die arabischen Länder ein Leichtes sein, bleibende Perspektiven für die Zeit nach dem Öl zu schaffen^^ - man braucht gut ausgebildete Kräfte, Ideen und diverse weitere Rahmenbedingungen, die nicht erfüllt zu sein scheinen, sonst würden sich auch Investoren finden, unabhängig von der Staatsverschuldung, die ja im Prinzip nicht direkt mit der Wirtschaft des Landes wechselwirken müßte. ;)

Dir mag es autoritär vorkommen, aber tatsächlich ist das ein leicht zu beobachtender Mechanismus, man vergleiche etwa die Nachwende-Entwicklung in den neuen Bundesländern mit der entsprechenden Entwicklung in einigen anderen Ex-Ostblockstaaten, die mit weit weniger Mitteln teilweise gesündere Strukturen aufgebaut haben, sicher auf anderem Niveau, dafür aber auch im Ergebnis selbsttragend und nicht bis über beide Ohren quersubventioniert.

Der Effekt ist völlig selbstverständlich - wenn du bedingungslos etwas verschenkst, wird dein Gegenüber es annehmen und fragen, wann er wieder so etwas bekommt. Wenn du es nicht verschenkst, sondern eine Gegenleistung verlangst und Verträge schließt, wird der Effekt so nicht eintreten.

Ich finde es interessant, in welchem Maße Krisen wie diese mit Interessen einzelner Beteiligter erklärt werden - das klingt für mich sehr nach Verschwörungstheorien. Die gesamtwirtschaftlichen Verluste eines solchen Zusammenbruchs sind so immens, daß auch die größten Profiteure (etwa einige Banken) unmöglich absehen können, wie gut sie wirklich davonkommen, und in einigermaßen stabilen Zeiten höchstwahrscheinlich deutlich besser abgeschnitten hätten. Ein wirkliches Interesse an einem Zusammenbruch der griechischen Schulden hatte niemand (außer vielleicht der griechischen Bevölkerung, der sich längerfristig so ein Weg aus dem Sumpf ergeben könnte, aber im Zweifel wirst du auch das als eine degradierende und tendenziell zynische Betrachtungsweise ansehen).

Daß Marktlagen von den Akteuren nach Kräften genutzt werden, ist ihre Aufgabe und die des Marktes. Wer da solide wirtschaftet, hat weniger zu befürchten; irgendwann erwischt es uns auch.

Das Londoner Abkommen regulierte auch die Nachkriegsschulden einschließlich der Marshallplanhilfe; die Forderungen der Ostblockländer wurden nicht thematisiert, wie du sagst, bis zu einem Friedensvertrag zurückgestellt, zu dem es nie kam.
Der Kapitalmarkt hat Griechenland an den Rand des Ruins gebracht, warum soll Griechenland nicht von den nutzbaren Begleiteffekten profitieren. Hoffentlich schaffen sie es, rechtzeitig aus dem Gold auszusteigen, bevor der Preis wieder fällt.
Griechenland hat sich selbst an den Rand des Ruins gebracht, warum soll es die Hilfen, die ihm die EU-Staaten gewähren, um seine Zahlungsfähigkeit zu sichern, dazu nutzen, Goldreserven anzulegen? Angesichts des weiterhin steigenden Goldpreises erfolgreich, aber damit wetten sie gegen sich selbst, was ein heftiges Geschmäckle hat. Man stelle sich vor, der Goldpreis fiele stark, etwa weil Italien in großem Maße Gold abstieße, um seine Verbindlichkeiten zu reduzieren. Dann wären die griechischen Investitionen plötzlich nicht mehr so leicht zu erklären (auch den Ärmsten der Armen nicht, auf deren Bedürfnisse du hinweist, das aber nur am Rande bemerkt).


Zurück zu Politik & Geschichte

Wer ist online?

Mitglieder in diesem Forum: 0 Mitglieder und 5 Gäste