Neuwahlen 2005 im Rückblick

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Traitor
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Sa 17. Sep 2011, 16:31 - Beitrag #1

Neuwahlen 2005 im Rückblick

Da derzeit ja allerorten über mögliche Neuwahlen spekuliert wird (jemand Lust zur Threaderstellung?), erinnert man sich auch immer mal wieder an den Präzedenzfall 2005. Dabei stellt sich mir insbesondere die Frage: wie ist Schröders Entscheidung (bzw. die der SPD) dazu rückblickend zu beurteilen?

Damals herrschte ja große Ratlosigkeit, was mit diesem politischen Selbstmord bezweckt werden sollte. Hatte die Regierungsmannschaft einfach keine Lust mehr? Oder waren sie tatsächlich so naiv, zu glauben, den aussichtlosen Umfragenrückstandes nicht nur, wie geschehen, fast, sondern komplett aufzuholen, und somit einen Wahlsieg einzufahren? Eher, als ein Jahr später nach weiterem Abwärtstrend? Oder steckte gar ein doppelbödiger Plan dahinter, Niederlage einkalkuliert, um langfristige Effekte zu erzielen?

Nach der Wahl ging das Fazit der meisten Richtung Amtsmüdigkeit und/oder Naivität. Schröders entweder als genial oder abstrus einzustufender Wahlabend-Auftritt rettete ja immerhin noch die Regierungsbeteiligung, aber die Große Koalition führte dann auch nur zu einem weiteren Abwärts der Sozialdemokraten und dann 2009 doch zum Schwarz-Gelben Wahlsieg.

Aber inzwischen würde ich fast sagen, dass die Entwicklung das Manöver belohnt hat. In der Großen Koalition verlor die SPD zwar weiter Bevölkerungsrückhalt, die CDU verlor dafür viel mehr inhaltliches Profil. Sie wurde sozusagen gezähmt, fast schon sozialdemokratisiert. Die schwarz-gelbe Koalition von 2009 ist eine völlig andere, weit harmlosere geworden als die, die 2005/2006 drohte. Von kirchhoffschen Radikalsteuerumbauten wird heutzutage ja kaum noch geträumt, auch sonst hat wenig von den vielen sozialen Kahschlagsgedankenspielen überlebt. Mag sein, dass auch ein 2005/2006er-Schwarz-Gelb in der Realität gemäßigter gehandelt hätte, als angekündigt. Schließlich wurde aktuell ja auch noch wenier umgesetzt, als 2009 noch angekündigt. Aber der Programmvergleich spricht doch eine deutliche Sprache.
Zudem haben CDU und FDP nun in der Regierung auch noch massig Sympathien eingebüßt. Das hätten sie eine Legislaturperiode früher wohl auch schon, aber um den Preis, erst einmal viel von ihren Reformen umgesetzt zu haben.
Nun steht die SPD quasi vor dem Optimum: 6 Jahre lang wurde politisch kaum etwas umgesetzt, das sie wirklich schmerzen würde, und gleichzeitig bietet sich ihr wieder eine klare Machtoption.

Die zweite Frage ist nun natürlich, ob das alles, oder auch nur Teile davon, gewollt waren. Vermutlich höchstens in diffuser Form als Teilmotiv, parallel zu den anderen beiden. Aber es wirft im Rückblick doch ein sehr interessantes Licht auf die damaligen Ereignisse.

Lykurg
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Sa 17. Sep 2011, 17:06 - Beitrag #2

"Allerorten ... spekuliert" heißt wohl im wesentlichen: Seitens der SPD gewünscht oder eingefordert, mit dem zu erwartenden Niederschlag von Spiegel bis FAZ. Daß sie deshalb gerade jetzt kämen, halte ich für eher unwahrscheinlich, aber das wäre wirklich eher seperat verthreadbar.

Die Motive von damals sind mir genauso dunkel wie heute, Schröder hat etwas von einem völlig irren Bauchmenschen, der einige richtige Sachen umgesetzt hat, weil sie ihm gerade in den Kram paßten, und ansonsten gnadenlos seine Show abzog, was ins Groteske und Unwürdige abdriften konnte, siehe Elefantenrunde oder Rußlandbeziehungen.

Insofern widerstrebt es mir auch, ein Handeln, das ich nicht verstehe und von dem ich auch schlecht beurteilen kann, ob die Beteiligten selbst es zu der Zeit verstanden haben, geschweige denn mit seinen Folgen gerechnet, als geschickt, geschweige denn vernünftig zu bezeichnen; aber vielleicht steckte ja ein großer Plan dahinter.

Wie auch immer, in den Ergebnissen teile ich deine Einschätzung, was die Wirkung betrifft, wenn ich auch darin Teil einer längerfristigen Entwicklung sehe, zu der die große Koalition nur einen Teilbeitrag geleistet hat. Die Union verlor schon vorher Stück für Stück ihre politischen Talente und gab ihr Profil auf - das setzte schon in den späten Kohljahren ein. Die Liberalen haben sich in derselben Zeit zur veritablen Spaßpartei gemausert und ihre Glaubwürdigkeit ruiniert; während ihnen 2005 vielleicht noch Wirtschaftspolitik und Reformwille zugetraut worden wäre, wird das nach dem chaotischen Fehlhandeln seit 2009 wohl kaum noch jemand behaupten.

Das ist aber relativ unabhängig von der großen Koalition geschehen, gerade um sich davon abzusetzen, hätte man ein deutlich von der SPD abweichendes politisches Programm verfolgen und damit zeitweise durchaus öffentliches Verständnis gefunden (z.B. Schuldensenkung; warum anscheinend kaum jemand die große Steuerreform will, ist mir nach wie vor absolut unverständlich).

Das große Stillhalten lag aber auch an der unglückseligen NRW-Wahl - vorher traute man sich nicht, irgendetwas umzusetzen, nachher konnte man es nicht mehr. Unabhängig davon, inwieweit also das 2005er Handeln die Entwicklung prägend oder nur marginal beeinflußt hat, sehe auch ich die Chancen für die SPD als ziemlich gut (wenn auch immer noch erstaunlich schlecht angesichts der schlechten Lage ihres Gegners, sie können ihren Vorteil offensichtlich nicht ausspielen). Was dieser sechsjährige Stillstand allerdings für das Land bedeutet... nun gut, über den Nutzen von Veränderungen werden wir uns wohl in vielem nicht einigen können. ;)

janw
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Sa 17. Sep 2011, 22:19 - Beitrag #3

Zitat von Lykurg:Schröder hat etwas von einem völlig irren Bauchmenschen, der einige richtige Sachen umgesetzt hat, weil sie ihm gerade in den Kram paßten, und ansonsten gnadenlos seine Show abzog, was ins Groteske und Unwürdige abdriften konnte, siehe Elefantenrunde oder Rußlandbeziehungen.

Wenn mit den "richtigen Sachen" nicht Hartz IV gemeint ist, kann ich dieser Charakterisierung nur zustimmen.

Ich bin allerdings sehr skeptisch bezüglich besonders guter Chancen für die SPD zum jetzigen Zeitpunkt: Die SPD hat unter Schröder einen erheblichen Teil ihres sozialen Profils verloren, und seitdem nicht wiedergewonnen. Schlimmer, sie hat nicht einmal Anstalten gemacht, sich entsprechend zu verändern, kein Ansatz zur Korrektur der schlimmsten Ungerechtigkeiten im Hartz IV-System z.B.
Zudem hat die SPD Konkurrenz bekommen in Gestalt der Linkspartei und vermainstreamten Grünen, zu denen die wirklich sozial oder ökosozial orientierten Wähler sich verlagern, während die SPD ihren konservativen Anteil nicht sicher mobilisieren kann bzw. dieser sich mittlerweile auch in der CDU gut aufgehoben fühlt.

Lykurg
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So 18. Sep 2011, 11:52 - Beitrag #4

Du kennst mich^^ - ich bezog mich tatsächlich wesentlich auf die Beschränkung des Sozialstaates, ich weiß nicht, wo wir ohne die jetzt wären. Leider war er hinsichtlich Rente nicht so konsequent, hier wäre ein stärkeres Umsteuern hin zu kapitalgedeckter Rente und späterem Eintrittsalter notwendig (gewesen), anstatt zunächst einmal zurückzudrehen - aber das gehört alles nur sehr bedingt hier in den Thread, der sich ja nicht allgemein mit Schröder und der Vorgeschichte, sondern mit den Folgen der Entscheidung '05 befaßt.

Die massive Stärkung der Grünen könnte damit zusammenhängen, in diesem Sinn hätte die SPD mit dem Handtuchwurf ihren Führungsanspruch aufgegeben. (Ich sehe jetzt erst, daß es auch damals eine NRW-Wahl war, die den Anstoß zur Neuwahl gab. -.-)

Allerdings sehe ich das soziale Profil bei den Grünen so überhaupt nicht - Integrations- und Bildungspolitik natürlich, aber darüber hinaus ist ihre Klientel viel zu heterogen und in erheblichen Teilen auch schon bürgerlich, um die von dir angesprochenen Interessen wirklich glaubwürdig zu vertreten.

janw
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So 18. Sep 2011, 22:08 - Beitrag #5

Wenn ich mich darauf einlasse, daß etwas in Sinne von Hartz IV zu der Zeit nötig gewesen wäre, dann ist aber die Art und Weise, wie das gemacht wurde und wie das System gestaltet wurde, in meinen Augen immer noch sehr fehlerhaft.
Was für sich genommen auch nicht so dramatisch wäre, hätte Schröder oder später andere in der SPD diese Ungerechtigkeiten und Unmäßigkeiten erkannt und engagiert behoben.
Damit - und mit der Einführung entsprechender Belastungen auch bei den höheren Einkommen - hätte Schröder soziales Profil zurück gewinnen und eine Differenz zu CDU und FDP demonstrieren können.
Hat er nicht und kein anderer in der SPD, und deshalb stellen sich viele die Frage, ob diese Partei noch Heimat für sie ist.

Es stimmt, die Grünen sind auch in "den besseren Kreisen" der Gesellschaft angekommen, dort bei Menschen, die ihr gutes Ergehen als kontingent begreifen, als nicht allein selbst "verschuldet", andere mit weniger gutem Ergehen dementsprechend auch nicht als dies nur selbst verschuldet habend. Dazu zugleich eine Weltsicht, die Wohlstand hierzulande in Beziehung setzt zu Unwohlstand anderswo.
Im erweiterten Sinne eine Weltsicht, nach der nicht allein eigene Belange zum eigenen Vorteil zu vertreten sind, sondern nach der Status und Bildung auch die Verantwortung mit sich bringen, Belange anderer zu vertreten, die weniger in der Lage zur Wahrung ihrer Rechte sind - auch, wenn deren Belange vielleicht ein paar Prozente vom eigenen Reichtumspotential kosten.

Ipsissimus
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Mo 19. Sep 2011, 11:00 - Beitrag #6

kleine Trickbetrügereien am Rande des Hochverrats, wie die Gasprom-Geschichte, ja, das traue ich Schröder zu, wobei andere vergleichbare Sachen wesentlich eleganter (aka ohne öffentliche Aufmerksamkeit zu erregen) hinbekommen haben, aber eine derartige strategische Planung? Nöö, glaub ich nicht, zumal Schröder selbst ja nichts davon hatte; dass er noch mal Kanzlerkandidat würde, davon träumt noch nicht mal mehr er selbst. Und aus reinem Altruismus im Dienste und zum Vorteil seiner Partei? Leute, wir sprechen von Politikern im Allgemeinen und von Schröder im besonderen^^


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