Staatliche Musikförderung

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Lykurg
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Do 6. Okt 2011, 16:25 - Beitrag #1

Staatliche Musikförderung

Wie ich diesem Artikel entnahm, produziert die deutsche Kulturförderung einige lustige Dinge. Man könnte sich, das ist auch die ausgehende Verwunderung des Artikelschreibers, fragen, warum international erfolgreiche Bands wie "Tokio Hotel" und "Die Toten Hosen" massive staatliche Fördergelder für Auftritte im Ausland bekommen, insbesondere verglichen mit einer vergleichsweise lächerlich geringen Fördersumme für Laienmusikpraxis (bundesweit), bei der man sich dann gleich fragen kann, was damit überhaupt geschieht.

Ohnehin wirkt aber das ganze System der Musikförderung (mit dem Hauptprofiteur Berlin als Beispiel) reichlich unausgewogen und fragwürdig, für die Stellen, an denen recht profitable oder fremdgenutzte Veranstaltungen zusätzliche Mittel erhalten, scheint eine Anpassung unbedingt erforderlich.

(Natürlich sehe ich bei einer solchen Diskussion in einer breiteren Öffentlichkeit auch die Gefahr, daß den BWLern sofort die Währungszeichen in den Augen aufleuchten und dort gespart wird, wo es wehtut, aber die Unterscheidung etwa zwischen Nachwuchsförderung und Auslandsvermarktung etablierter 'Künstler' scheint mir doch eigentlich nicht allzu schwierig.)

Ipsissimus
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Do 6. Okt 2011, 17:44 - Beitrag #2

... warum international erfolgreiche Bands wie "Tokio Hotel" und "Die Toten Hosen" massive staatliche Fördergelder für Auftritte im Ausland bekommen, insbesondere verglichen mit einer vergleichsweise lächerlich geringen Fördersumme für Laienmusikpraxis (bundesweit)
wie schon der Evangelist seinen Helden sagen ließ, jene, die haben, sollen bekommen, jenen, die nicht haben, soll auch noch genommen werden, was sie haben

Traitor
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Do 6. Okt 2011, 19:47 - Beitrag #3

Das Problem gibt es analog in allen Bereichen der öffentlichen Kultur- und Unkulturförderung. Künstlerisch wertloseste Industriefilme von Uwe Boll bekommen mehr Geld als Stummfilmerhalter, kommerziell verunglückende Profifußballvereine mehr als Jugendsportverbände.

Andererseits könnte man dagegenhalten, dass Spitzenproduktionen und deren internationale Herausstellung Deutschlands Ruf stärken und diverse indirekte Bonuseffekte erzeugen. Oder dass die Laienförderung in ausgesuchten Sparten eigentlich fragwürdig ist, da es letztlich nur beliebige Hobbys unter anderen sind, die großenteils nicht gefördert werden.

Maglor
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Do 6. Okt 2011, 20:59 - Beitrag #4

Warum nun das auswärtige hermaphrodite Pop-Konzerte in zentralasiatischen Dandy-Diktaturen als Politik betrachtet, ist mir schleierhaft.
Der Staat hilft nunmal den reichen Leuten. :|

janw
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Do 6. Okt 2011, 22:08 - Beitrag #5

Der Grund wird wohl darin liegen, daß diese Auslandsauftritte als Außendarstellung der BRD angesehen werden, Begleitprogramm zur Förderung deutscher Exporte, während die inländische Kulturförderung eben nur als Förderung inländischer Kultur angesehen wird und zudem Angelegenheit der Länder ist.

Lykurg
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Do 6. Okt 2011, 23:09 - Beitrag #6

Schon, aber die betreffenden Konzerte zumindest von Tokio Hotel würden doch auch ohne die Förderung stattfinden, und ob deutsche Kulturpräsenz in Taschkent wirklich so wichtig ist (bzw. da mit ein paar tausend geschenkten Büchern an dortige Bibliotheken nicht weit mehr und dauerhafteres zu erreichen wäre)? Die Verallgemeinerung auf andere Kulturformen, insbesondere Film, ist jedenfalls wichtig und richtig, das sind ja ebenfalls große Summen (wenn auch immer noch nicht international konkurrenzfähig, was wir im klassischen Musikbereich zweifellos sind).

Möglicherweise fördert man lieber ein paar große Projekte mit viel Geld als viele kleine mit weniger, weil dabei Controlling und Erfolgsnachweis schwieriger zu verwalten sind? Oder natürlich, weil die Geförderten dann auch gern mal für eine Geburtstagsfeier oder Parteiveranstaltung zu haben sind...

janw
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Fr 7. Okt 2011, 13:04 - Beitrag #7

Ich weiß nicht, ob die Konzerte von Tokio Hotel ohne die Förderung alle stattfinden würden, sie sind in Deutschland Teenie-Schwärme, treffen auch in Europa in einigen Ländern den Nerv, aber der Musikgeschmack in Kasachstan ist schon anders, von der nicht unbedingten Zustimmung zu pink gekleideten androgynen Bandleadern nicht zu reden.
Nicht, daß ich diese Form der Kulturförderung verteidigen wollte, TH als kulturelles Aushängeschild der BRD, brrr...
Aber ob Bücher allein mehr bringen würden? Deutschland als Literaturnation ist denke ich in den Köpfen, schon von den Austauschbeziehungen mit der DDR her. Verkehrt wären sie sicher nicht, aber das Kulturschaffen ist eben auch musikalisch, und da wären Aushängeschilder zu suchen. Vielleicht hat man TH ausgewählt, weil sie in ihrer Art als Ausdruck von Vielfalt ermöglichender Freiheit gesehen werden, als "das, was in Deutschland auch geht".
In dieser Hinsicht ist klassische Musik schön und gut, erfordert aber keinen Mut. Und spiegelt nur die Vorlieben einiger kultureller Fundamentalisten^^ in der Matrix und in höheren Kreisen der Gesellschaft.

Die Bevorzugung großer Projekte ist ein bekanntes Problem, die angeblich leichtere Abrechnung eine oft angebrachte Ausrede.

Lykurg
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Fr 7. Okt 2011, 15:32 - Beitrag #8

Tokio Hotel ist auch im Ausland ziemlich erfolgreich, wenn auch weniger als in Deutschland; nach Japan wollten sie im Zweifel eh und können sich das auch selbst leisten. 22 Mio. verkaufte Alben... da kommt schon was zusammen.

Die Kulturnation ist nicht so in allen Köpfen, wie man meinen könnte, und die Versorgung mit Büchern ist schlecht. Habe eben mal im Katalog der Usbekischen Nationalbibliothek in Taschkent geschmökert - die haben genau einen Treffer zu "Faust", eine russischsprachige Ausgabe. Zum Vergleich: Im Nepal ist es schon ein bißchen besser, die haben immerhin zwei englische Ausgaben, außerdem Thomas Manns "Doktor Faustus" (ebenfalls auf englisch) und einen engl. Band mit Lesehilfen und Interpretationen zum Faust (übrigens das einzige Buch in der Rubrik "German Drama").^^

Ein Buch hält idealerweise mehrere hundert Jahre, wie lange wirkt so ein Konzert? Nicht, daß es dort viele Leute lesen könnten, aber wenn sie die Möglichkeit nicht haben, wird das sich auch nicht ändern. Und die Kosten entsprächen denen einer Eintrittskarte zu einem solchen Konzert...

Natürlich erfordert klassische Musik Mut, sehr viel mehr als Pop, der letztlich in aller Welt irgendwie bekannt ist und ankommt. Der Kulturtransfer bei Klassik ist weit größer und komplexer, aber eben auch schwieriger zu realisieren. Ich meine ja auch nicht, daß man da jetzt die Berliner Philharmoniker hinschicken muß, aber Tokio Hotel zu fördern, ist Unsinn - gefährlicher Unsinn. ;)

janw
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Sa 8. Okt 2011, 00:46 - Beitrag #9

Ich hab mir den Artikel mal durchgelesen jetzt, danach waren Tokio Hotel in Japan und die Toten Hosen in Usbekistan.
Sicher kann man fragen, ob diese Gruppen für diese Auftritte staatliche Förderung nötig haben, ich habe da auch Zweifel.
Andererseits geht es bei der Kulturförderung des Auswärtigen Amtes darum, die BRD in ihrer Schaffensbreite dem Ausland zu vermitteln und nahe zu bringen, und dort entsprechend den relevanten Zielgruppen. Und da kommt man ebenso nicht drumrum, daß die BRD auch im Bereich der Pop-Kultur einige in größeren Teilen der Gesellschaft anerkannte Leistungen vorzuweisen hat, also nicht nur von vergangenem Ruhme zehrt, und daß die Gruppe der Jugendlichen und jungen Erwachsenen in den Ländern eine wichtige Zielgruppe ist, die auf diesem "Kanal" deutlich besser zu erreichen ist als mit Literatur und Werken, die zwar deutsch sind, wichtige Grundlagen für deutsche Befindlichkeiten und die Gegenwartskultur darstellen, aber doch den gegenwärtigen Stand der BRD nicht direkt repräsentieren.
Das Problem für mich ist von daher eher, wie weit durch die Förderung - gesetzt, die Konzerte hätten auch ohne sie stattgefunden - etwas mehr vermittelt wird als nur das Konzert, das eh stattgefunden hätte.

Der Artikel bezieht sich auf eine Anfrage der SPD im Bundestag, in der zugleich Kriterien erfragt werden, nach denen Kultur im Einzelnen als förderungswürdig erachtet werde.
Gesamtstaatliche Relevanz wird dort genannt, weiteres lasse sich "aufgrund der Vielfalt der Sachverhalte" nicht verallgemeinern.
Das wirkt schwammig, kann zur Begründung von allem und jede dienen, und doch: Sind bei einer so vielfältigen Materie wie der Kultur klare Kriterien für Förderungswertes und -unwertes möglich, ohne daß diese selbst zu einer Kanonisierung der Kultur führen? Einer Kanonisierung, die letztlich das Ende der Freiheit der Kultur bedeuten würde?

Ich hätte mich auch mehr als schwer damit getan, einen Förderbescheid für Tokio Hotel in Japan zu unterschreiben, hierin ernsthaftes kulturelles Bemühen zu erkennen, ist schon eine Herausforderung für sich.
Bei den Toten Hosen, wenn ich es richtig sehe einer Gruppe mit durchaus tragbarem politischem Bewusstsein und Wegbereiter eines musikalischen Stils - ob er mir nun gefällt oder nicht -, in einem nicht gerade demokratischen zentralasiatischen Land, fiele es mir schon schwerer, Gründe für eine Ablehnung herzusuchen.
Wichtig wäre mir, wie oben angedeutet, daß mehr dabei 'rüberkommt, als nur ein kommerziell ausgerichtetes Konzert.

Die Berliner Philharmoniker, werden sie bei Auslandsauftritten nicht unterstützt? Oder könnte es sein, daß sie schon vom Land Berlin gefördert oder gar getragen werden, dazu von der Hauptstadtförderung profitieren? Ein wichtiger Fördergrundsatz ist vielfach, daß keine öffentliche Doppelförderung vorliegen darf, bzw. daß verschiedene öffentliche Förderer sich wenn an verschiedene Bereiche oder Aspekte des Förderungsnehmers richten müssen.

Natürlich gibt es vieles Gutes und Wichtiges, das nicht gefördert wird, darin stimme ich Dir zu. Allerdings liegt dies vielfach in der Zuständigkeit von Ländern und Gemeinden.

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Sa 8. Okt 2011, 10:07 - Beitrag #10

Veranstaltungen, die auch selbsttragend möglich wären, insbesondere die am Ende des Artikels genannte Jazz-Echo-Verleihung, sind meines Erachtens nicht förderungswürdig, es sei denn, durch die Förderung würde ein bestimmter Mehrwert geschaffen, eben ein Zuwachs im Sinne des Kulturaustauschs bzw. der Zugänglichkeit für das lokale Publikum - darin stimme ich dir also sehr direkt zu. Allerdings sind das so vage Kriterien und eventuell an der Grenze zur inhaltlichen Beeinflussung, daß ich mit dieser Setzung meine Schwierigkeiten habe. Das wäre noch nicht einmal eine qualitative Kanonisierung, sondern eine der Erwartungserfüllung, ein denkbar schlechtes Kriterium für Kunst. ;)

Die Berliner Philharmoniker werden massiv gefördert, sind ja auch weitgehend in staatlicher Trägerschaft. Konzertreisen großer Orchester wie jetzt der Münchner nach Japan wären sonst selbst bei dortigen Spitzeneintritten wohl unbezahlbar. Und gegen diese Summen machen sich die Zuschüsse für das Hotel eher bescheiden aus. - Nunja...^^

janw
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Sa 8. Okt 2011, 11:42 - Beitrag #11

Was sich selber trägt, insbesondere zur Selbstbeweihräucherung dient, wie diese Echo-Veranstaltung, braucht keine Zuwendungen, das sehe ich genau so. Werden diese Veranstaltungen nicht auch öffentlich-rechtlich übertragen? Das sollte eigentlich genügen.

Ich fände es mal spannend zu erfahren, was alles nicht gefördert wurde.

Lykurg
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Do 3. Nov 2011, 11:36 - Beitrag #12

Die Toten Hosen haben der Darstellung des Ausgangsartikels inzwischen deutlich widersprochen - in einem Leserbrief, der nicht abgedruckt wurde, nachzulesen hier. Ihrer Darstellung zufolge waren sie auf Einladung des Goethe-Instituts unterwegs, das Kosten für Technik usw. übernahm, haben aber selbst etwa €100.000 der Kosten übernommen und sind ohne Gage aufgetreten, damit die fünf Konzerte gegen freien Eintritt stattfinden konnten. Das verschiebt den Blickwinkel in dieser Frage natürlich schon ein bißchen...

Wäre aber immer noch die Frage, wie das mit den Hotelbewohnern ist.

janw
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Do 3. Nov 2011, 12:56 - Beitrag #13

Je nach Vorgeschmack wirft es aber auch einen Schatten auf die besagten Zeitungen - soll man sagen, die Springer-Presse?^^- oder vertieft diesen.
Richtigstellende Leserbriefe nicht drucken...dafür aber, wie gestern in zap zu sehen, Propaganda für wirtschaftliche Interessengruppen wie die Atomlobby zu drucken, ohne die Herkunft der Textgrundlagen zu nennen.
Aber das nur nebenbei...

Lykurg
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Do 3. Nov 2011, 15:12 - Beitrag #14

Ja, natürlich hat die Geschichte in dieser Hinsicht einen recht heftigen Beigeschmack, der große Empörungsgrund fällt weitgehend weg (ok, Echo und TH bleiben, aber wer glaubt das dann?). Verständlich also irgendwo, daß sich der Autor die Deutungshoheit nicht nehmen lassen will, aber zugleich ein journalistisches Armutszeugnis. In gewissem Maße mag das der Undurchschaubarkeit der Materie geschuldet sein, aber dann sollte man halt besser recherchieren und die Betroffenen kontaktieren.


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