Bösartig oder ganz normal?

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Ipsissimus
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Sa 15. Okt 2011, 11:10 - Beitrag #1

Bösartig oder ganz normal?

http://www.heise.de/tp/blogs/6/150619

Das Bundespatentgericht hat einem Spirituosenhersteller Recht gegeben, dem das Deutsche Patent- und Markenamt die Eintragung der beantragten Wortmarke „Reichstagsbrand“ verwehrt hatte. Die Eintragung einer Marke kann nach § 8 Abs. 2 Nr. 5 MarkenG abgelehnt werden, wenn diese gegen „die guten Sitten verstößt“.

Die Behörde hatte es als unerträglich und sarkastisch angesehen, dass man sich künftig mit einer markenrechtlich geschützten Spirituose „Berliner Reichstagsbrand“ zuprosten könne. Der verletzende, unerträglich sarkastische Hintergrund der Marke ergebe sich für den angesprochenen Durchschnittsverbraucher aus der Kombination der beanspruchten Waren, deren Genuss im Allgemeinen zu einer ausgelassenen, enthemmenden Wirkung führe, und dem Namen des geschichtlichen Ereignisses, welches die Nationalsozialisten zum Anlass genommen hätten, den demokratischen Rechtsstaat zu beseitigen.

Das Bundespatentgericht jedoch ließ sich davon überzeugen, dass es sich bei der Marke „Reichstagsbrand“ für einen Branntwein um ein provokatives Wortspiel handelt, das von den Verbrauchern erkannt werde. Über den Reichstagsbrand als solchen hinausgehende Kenntnisse der Deutschen Geschichte, die den kausalen oder temporären Bezug des Brandes zum Erlass der Notverordnung, deren Inhalt oder die Urheberschaft der Brandstiftung betreffen, ließen sich dem Gericht zufolge beim angesprochenen Verkehr zumindest nicht als im Moment der Wahrnehmung eines Kennzeichens für „Spirituosen“ abrufbares, präsentes Wissen voraussetzen. Eine Verhöhnung der Opfer des Nationalsozialismus sah das Gericht auch deshalb als nicht gegeben an, weil sich das NS-Regime nie die Urheberschaft des Reichstagsbrands selbst zugeschrieben hätte.



Also dann prost. Am besten mit einem Reichstagsbrand, dem besten unter den Bränden.

janw
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Sa 15. Okt 2011, 11:32 - Beitrag #2

Saufen wir die Demokratie weg, bis zur Notverordnung einer Alkoholentgiftung. :rolleyes:

Insbesondere die Unterstellung, welches Wissen dem "Normalverbraucher" zu unterstellen sei, halte ich für gefährlich - dem mag ja so sein, aber eben das wäre als Mangel zu beklagen gewesen und nicht als Begründung für einen derartigen Produktnamen.

Edit: Ob wohl ein "Kaufhausbrand" auch den Segen des Gerichts bekommen würde?

Lykurg
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Sa 15. Okt 2011, 17:24 - Beitrag #3

Die Argumentation mit dem Verbraucherwissen finde ich auch extrem fragwürdig und dünn, weil in interessierten Kreisen entsprechendes Wissen nicht erforderlich ist, dann reichen Frakturlettern als Signal (unabhängig von ihrer historischen Fragwürdigkeit zu gerade diesem Zweck, klar), und man hat eine neue rechte Kultmarke.

Noch extremer fand ich aber den letzten Satz, den Ipsissimus zitiert, weil der doch sehr stark infragestellt, ob die Richter überhaupt eine Ahnung vom historischen Zusammenhang haben (und also auch, ob sie in der Lage sind, in der Sache zu urteilen). Die Nazis wären schön blöd gewesen, ihre Urheberschaft des Reichstagsbrandes zuzugeben.

e-noon
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Sa 15. Okt 2011, 18:58 - Beitrag #4

Ekelhaft finde ich den Gedanken, dass Neonazis sich nun damit zuprosten können (aber ob sie es wollen?). Ansonsten... geschmacklos, ich würde jede Bürgerbewegung dagegen und jedes Boykott unterstützen, finde aber, dass anderen Ländern ein weniger auf Verbote gestützter Umgang mit ihrer Geschichte nicht unbedingt schadet; dass gewisse Kreuze verboten sind, begrüße ich, ebenso wie die einschlägigsten Parolen und natürlich auch volksverhetzende Äußerungen; aber alles, was irgendwie damit in Zusammenhang steht, zu verbieten, kann auch irgendwann ins Gegenteil umschlagen.

Ich finde somit, dass die Beteiligten sehr schlechten Geschmack bewiesen haben, aber nicht gesetzeswidrig handeln und ihr Getränk somit benennen können, wie sie wollen, da es wohl niemandem direkt schadet.

Ipsissimus
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Sa 15. Okt 2011, 20:16 - Beitrag #5

Jan, "Frankfurter Kaufhausbrand" würde noch besser kommen, da kann sich die ganze Gegend mit identifizieren^^ und Identität stiften durch gemeinsame Werte ist doch was Schönes^^ Auschwitzer Ofenbrand käme vielleicht noch besser^^

e-noon
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Sa 15. Okt 2011, 21:49 - Beitrag #6

@Ipsi: Siehst du einen Unterschied zwischen "Reichstagsbrand" und beispielsweise "Auschwitzer Ofenbrand"?

janw
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So 16. Okt 2011, 01:17 - Beitrag #7

Ipsi, an jenen in Frankfurt hatte ich gedacht^^ ich fürchte aber, daß da das historische Empfinden der Richter zu einer anderen Beurteilung führen würde.
Juristen und Komplexität, Du weißt schon^^

Ipsissimus
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So 16. Okt 2011, 11:50 - Beitrag #8

gewiss, Jan^^

e-noon, einerseits ist alles, was mit dem Nationalsozialismus zu tun hat, wie ein einziger monolithischer Block, an dem mit großen Lettern "bösartig" geschrieben steht; andererseits unterscheiden wir eben doch - da ist die Reichskristallnacht, da sind die Nürnberger Gesetze, da ist der Reichstagsbrand, da ist die SA und die SS, da ist die Kennzeichnungspflicht, da ist der Krieg, da sind die Konzentrationslager usw. - der Geist, der hinter all dem steht, ist derselbe, die Erscheinungsweisen sind unterschiedlich. Und im Rahmen dieser Unterschiedlichkeit der Erscheinungen gibt es schon eine Steigerung der Furchtbarkeit.

Selbst wenn alles mit allem verbunden war, und der Reichstagsbrand eine von vielen Vorbereitungsaktionen zur Vernichtung der Juden in Europa war, hätte es nach diesem Brand immer noch andere Wege, andere Ausgänge geben können. Als Ergebnis einer Entwicklung aber, die in den KZ kulminierte, finde ich Auschwitz deutlich schlimmer als den Reichstagsbrand, ja - wobei das falsch formuliert ist. Auschwitz ist nicht deutlich schlimmer, Auschwitz ist von bis dahin einzigartiger Dimension der Bösartigkeit, ein Quantensprung der Bösartigkeit. Der Reichstagsbrand ist noch irgendwie von menschlicher Dimension. Auschwitz ist die losgelöste, freigewordene Bösartigkeit selbst, die, in ihrer eigenen Dimension angesiedelt, nur noch ihren eigenen Impulsen unterworfen ist.

Von daher disqualifiziert der "Reichstagsbrand" jene Richter davon, noch in irgendeiner Weise ernst genommen werden zu können - einen "Auschwitzer Ofenbrand" hingegen würde ich unmittelbar mit 20 Jahren Haft für den Produkt- oder Vermarktungs-Designer kontern.

Padreic
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So 16. Okt 2011, 17:02 - Beitrag #9

@Lykurg: unabhängig davon, ob die Nazis die Urheberschaft am Reichtagsbrand zugegeben haben, scheint es mir, nach einer wikipedia-Recherche, bis heute noch nicht sicher geklärt zu sein, wer den Brand genau gelegt hat und ob die Nazis daran beteiligt waren.

Insgesamt denke ich, dass ich zwar die Einschätzung des Gerichts nicht vollständig teile, sie aber für vertretbar halte. Demonstrationen/Aufmärsche von Rechtsradikalen sind auch legal und müssen als Wahrung des Demonstrationsrechts legal bleiben. Wenn man die Marke 'Berliner Reichtagsbrand' verbietet, kann das nicht aus dem Grund geschehen, dass sie nationalsozialistisches Gedankengut verherrlicht. Wie das Gericht in seiner Begründung schon schreibt, sind Schocknamen und -werbungen heute recht verbreitet. Ist der Name 'Reichtagsbrand' wirklich schlimmer als eine Band 'Rammstein' zu nennen?

Anaeyon
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So 16. Okt 2011, 18:12 - Beitrag #10

Ja.

Rammstein verherrlicht nichts. Eine Band so zu nennen, die generell Texteschreibt, deren Inhalt nicht als positiv dargestellt wird, halte ich für deutlich vertretbarer, als ein Lebensmittel, welchem wohl primär genüssliche Eigenschaften zugeschrieben werden, mit dem Aufstieg des dritten Reiches zu assoziieren.. Nicht nur, weil die Größenordnung des verursachten Leids ein klein wenig unterschiedlich sind..

Ipsissimus
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So 16. Okt 2011, 18:34 - Beitrag #11

ist es wirklich wichtig, ob der Reichstagsbrand tatsächlich von den Nazis initiiert wurde? Er wurde in jedem Fall von ihnen für ihre Zwecke funktionalisiert und vereinnahmt. Das Schlimme an diesem Brand war nicht der Brand selbst sondern der damit losgetretene Prozess gegen Thälmann und Co.

"Rammstein" war als Name wohl eher Folge eines Missverständnisses, das die Band nicht mehr los wurde.

Lykurg
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So 16. Okt 2011, 19:07 - Beitrag #12

Ja, Padreic, ich weiß - schlecht formuliert von mir. Allerdings scheint die Alleintäterschaft van der Lubbes sehr unglaubwürdig, und er kam den Nationalsozialisten extrem gelegen; dafür war es aber notwendig, ihn dem Gegner anzulasten. In diesem Sinne klingt aber eben die Urteilsbegründung in diesem Punkt absurd, auch wenn ich ebenfalls verstehe, warum es so lautet und formuliert wurde: der Brand sei eben nicht eine ihrer für sich als positiv reklamierten Handlungen gewesen. Nunja, ich sehe das Problem, aber ich finde es schwierig, ein nationales Symbol und historisches Ereignis großer Tragweite zum Markennamen zu machen. Und diese historisch-nationale Dimension hatte das Unglück von Ramstein nicht. Es bleibt auch dort eine große Geschmacklosigkeit.

Maglor
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So 16. Okt 2011, 19:52 - Beitrag #13

Zumindest sollte der Spirituosen-Brenner die Person des Marinus van der Lubbe als Widerstandskämpfer entsprechend würdigen.

Padreic
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So 16. Okt 2011, 20:14 - Beitrag #14

Nun, wenn der Reichstagsbrand bekanntermaßen nicht von den Nazis, sondern von Widerständlern gelegt wäre, wäre damit die Begründung der Hersteller verständlicher, dass sie damit einem Widerstandsakt gedenken, der nicht durch den nachträglichen Missbrauch durch die Nazis diskreditiert wird. So oder so erreicht die Sache zumindest, dass der Reichstagsbrand mehr in die Diskussion und das Bewusstsein gerät.

Der Name 'Rammstein' war, soweit ich das lese, kein Missverständnis, nur das Beibehalten des Namens war ungewollt. Das Ausmaß des Leides war sicherlich ein anderes als beim Wirken der Nazis, aber erstens kann man sich fragen, ob das so entscheidend ist, zweitens hat der Reichstagsbrand wenigstens noch etwas mehrdeutiges, während das Rammstein-Unglück etwas (relativ) aktuelles und eindeutiges war.

Man fragt sich immer, mit welcher Begründung man etwas verbieten will (da wir ja in einem Rechtsstaat leben). Letztlich wohl wegen Verstoß gegen die 'guten Sitten', was schon so etwas ähnlich wie 'Geschmackslosigkeit' ist, die Lykurg auch Rammstein attestiert....

Anaeyon
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So 16. Okt 2011, 20:19 - Beitrag #15

Letztlich wohl wegen Verstoß gegen die 'guten Sitten', was schon so etwas ähnlich wie 'Geschmackslosigkeit' ist, die Lykurg auch Rammstein attestiert....


Ein Verstoß gegen die Sitte, unangenehme Themen nicht anzusprechen, ist von Zeit zu Zeit genau das richtige (in dem Fall Rammstein).

Ein Verstoß gegen die Sitte, (in dem Fall extrem warscheinliche) Naziverbrechen nicht zu verherrlichen (eine Spirituose benutzen, um ein Thema zur Diskussion zu stellen!?) ist nicht ganz so wertvoll, nützlich, verständlich oder symphatisch.

Lykurg
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So 16. Okt 2011, 20:43 - Beitrag #16

Ich finde es (genau wie Anaeyon) recht buchstäblich eine Schnapsidee, ein historisches Ereignis von epochaler Wirkung und sehr umstrittenem Hintergrund dadurch 'in die Diskussion bringen' zu wollen, daß man Spirituosen danach benennt. Wenn es dem Hersteller dabei wirklich um den Widerstand gegen das 3. Reich ginge (dem der Brand und die Folgen sicher eher geschadet haben), hätte man sich einen harmloseren Titel und geeigneteren Gegenstand suchen können, allerdings dann zweifellos ohne wesentliche Resonanz (wobei mir scheint, daß auch dieser Fall kaum weiter medial vermeldet wurde, was für mich auch eher nach rechtem Nischenprodukt als nach öffentlichem Diskurs klingt).

Den Sinn der Bandnamens-Provokation bei Rammstein sehe ich nicht, kenne aber auch den Ursprung und ihre Texte nicht genügend, um das beurteilen zu können. Mir scheint nach Wikipedia-Lektüre, daß ihre Texte durchaus Diskussions- bzw. Denkanstoß geben können, aber der Name - wie dargestellt wohl am ehesten ein halbes Versehen...


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