Henning Mankell
Kennedys Hirn
deutsche Übersetzung von Wolfgang Butt
Paul Zsolnay Verlag, 5. Auflage Januar 2006
ich bin nicht so der Mankell-Fan, aber dieses Buch hat mich, trotz des etwas reißerischen Titels, für sich eingenommen, eingenommen durch etwas, das ich als das "Herüberreichen der Fiktion in die Realität" charakterisieren möchte. Das Buch ist keine Dokumentation, es ist echte Fiktion, aber die Thematik brennt unter den Nägeln und die geschilderten Sachverhalte existieren, auch wenn die im Buch drum herum gewobenen Ereignisse fiktional bleiben.
Louise Cantor ist eine etwa 50jährige schwedische Archäologin, die für einen Vortrag in Stockholm für ein paar Tage von ihrer aktuellen Ausgrabung in Griechenland beurlaubt wird und nach Schweden zurückkehrt. Sie will dies dafür nutzen, um nach dem Vortrag ihren 25jährigen Sohn Hendrik zu besuchen, zu dem sie ein gutes Verhältnis zu haben glaubt. Sie findet ihren Sohn, zu dessen Wohnung sie einen Schlüssel hat, tot im Bette liegend vor. Es gibt keinerlei Hinweise auf irgendwelche Gewalttaten, und als die Polizei als Todesursache eine Überdosis Schlaftabletten ermittelt und die Akte mit dem Vermerk "Selbstmord" schließt, beginnt Louise Cantor, auf eigene Faust, Nachforschungen über die letzten Monate im Leben Hendriks anzustellen.
Diese Nachforschungen gestalten sich zunächst als sehr schwierig, aber im Laufe der Zeit findet sie heraus, dass sich Hendrik mit der Aids-Epidemie auf dem afrikanischen Kontinent, vor allem in Mozambique, Tansania und Kongo beschäftigt hatte. Es kristallisiert sich zunehmend heraus, dass einige Unternehmer diese Epidemie zu verbrecherische Machenschaften in größtem Ausmaß nutzen und in als Krankenhäuser getarnten Anstalten gesunde, in der Regel schwarzhäutige Patienten mit Aids infizieren, um an diesen Menschen illegale und grausame Forschungen zur Entwicklung von Medikamenten gegen Aids zu betreiben. Mankell lässt in seinem Schlusswort keinen Zweifel daran, dass es diese Anstalten in der im Buch geschilderten Weise tatsächlich gibt und die Fiktion an dieser Stelle exakt die Realität abbildet.
Es gelingt Louise Cantor, die Umstände von Hendriks Tod einzukreisen und schließlich einen Mann zu treffen, der mutmaßlich für Hendriks Tod direkt verantwortlich und erwiesenermaßen Betreiber einer dieser Anstalten ist, ohne dass sie irgendeinen Beleg in die Hände bekäme, womit sie eines von beiden beweisen könnte. Das Gespräch endet damit, dass der Mann sie ob ihrer Machtlosigkeit mehr oder weniger auslacht und sie wegen ihrer Belanglosigkeit gehen lässt.
Zurückgekehrt nach Schweden erkennt sie dann, was sie machen muss, um mit ihrer eigenen Hilf- und Kraftlosigkeit fertig zu werden, sie wird die Geschichte der afrikanischen Aidsopfer, die Hendrik nicht mehr erzählen konnte, an seiner Stelle erzählen. Damit endet das Buch.
Der Titel, Kennedys Hirn, verweist auf den historisch belegten Umstand, dass nach der Ermordung Kennedys ein Teil seines Gehirns verloren ging. Es fehlten irgendwann einfach mehr als ein Viertel der nach der Tat eingefrorenen restlichen Hirnmasse, ohne dass je geklärt wurde, was damit passiert ist. Dieser Umstand wurde von der Regierung Lincoln geheimgehalten und erst gut 30 Jahre später öffentlich gemacht. Hendrik interessierte sich nun nicht für das Schicksal von Kennedys Hirn, er studierte vielmehr anhand der spärlichen Spuren, die er dazu zusammentragen konnte, wie die Mechanismen funktionieren, die derartige Geheimhaltung möglich machen, in der Hoffnung, dadurch Werkzeuge zu finden, die es ihm ermöglichen würden, die Geheimhaltungsschilde der Aids-Anstalten auszuhebeln. Das Buch deutet an, dass er letztlich deswegen getötet wurde.
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Der Roman ist nicht eigentlich spannend, im Kern der Geschichte steht auch nicht wirklich der Kriminalfall sondern die Annäherung einer Mutter an das Leben ihres Sohnes, das sie zu kennen glaubte, nur um herauszufinden, dass sie praktisch gar nichts davon wusste. Diese Annäherung ist in bedrückende psychologische Situationen und einen völlig desolaten politischen Kontext eingewoben, in dem es außer den Opfern und den wenigen Widerständlern im Grund nur noch Täter gibt, Neutralität scheint anhand der geschilderten Schicksale der Patienten unmöglich, weswegen der Roman folgerichtig auch nicht damit endet, einen spezifischen Täter durch Überführung und Bestrafung hervorzuheben. Louise Cantor weiß am Ende zwar, aber ihr Wissen bleibt belanglos - möglicherweise ein Mankellscher Seitenhieb auf die Wohlstandsgesellschaften, die auch wissen, ohne dass sich dadurch für die Armen und Ohnmächtigen der Welt auch nur das Geringste ändern würde.
Mankell hat durch diesen Roman meine Hochachtung errungen.