Glücklicherweise lief "Melancholia" in einem der hiesigen Programmkinos dann plötzlich doch wieder, und ich konnte ihn mir heute nachmittag noch ansehen. Mit ganzen vier Leuten im Saal.
Zuerst muss ich feststellen, dass die (mir namentlich/URLig entfallenen) Rezensenten, auf die ich mich vorab mit dem Zitat, es sei kein Weltuntergangsfilm, sondern "nur" ein psychologischer Film mit Weltuntergangssetting, offensichtlich nach Teil 1 das Kino verlassen hatten. Teil 1 ist ein abseits der Bildersprache recht konventionelles Psycho-Familien-Drama, Teil 2 dagegen exerziert den Weltuntergang oder zumindest seine psychologische Wirkung dann aber explizit durch, das lässt sich nicht leugnen.
Mit der qualitativen Einordnung von "Melancholia" bin ich mir noch nicht ganz sicher. Zuerst das große Bild: Optisch, inszenatorisch und von der Gesamtkonstruktion her ist der Film einerseits genial, andererseits auch kitischig und selbstverliebt. Darin ähnelt er dem auch ansonsten so einige Parallelen zeigenden anderen ambitionierten Großprojekt des Kinojahres 2011, "Tree of Life". Aber von Triers Selbstverliebtheit ist eine andere als die Malicks. Bei Malick machte es (obwohl der Mensch schon 68 ist) oft den Eindruck, als müsse da ein Emporkömmling unbedingt beweisen, was er alles draufhat; von Trier ("erst" 55) wirkt eher wie ein Altmeister, der sich sicher ist, allen als Genie zu gelten, und dabei etwas Gefahr läuft, aus großen Gesten leere Rituale zu machen. Beide kann man für diese Selbstverliebtheit verurteilen; mir stieß sie zwar in beiden Fällen etwas sauer auf, aber nicht so sehr, dass sie die Gesamtgenialität wirklich trüben würde.
Inhaltlich gefiel mir sowohl die Darstellung von Justines Depressionen als auch, wie dann im zweiten Teil die bisher stets mit der Rolle der Einzigen Normalen Hier belastete Claire unter der absurden Situation zerbricht. Justines Wandlung am Ende erschien mir nicht ganz schlüssig, sowohl das Ausfallendwerden gegenüber Claire als auch die Stabilisierung und Lykurgs "magische Wende", aber vielleicht klärt sich das bei einer Zweitsichtung, wenn ich auf frühere Signale einer nicht rein passiv-degenerativen Störung achte...?
Als großes Manko erscheint mir aber die familiäre Konstruktion. Der Weltuntergangsaspekt ist davon weitgehend unbelastet, aber meines Erachtens wäre "Melancholia" als Film über Depressionen deutlich stärker, hätte er Justine nicht eine so üble Familie angedichtet. Kann Depression nicht einfach eine Krankheit sein, muss sie unbedingt (wenn auch nie explizit, aber doch deutlich genug intendiert) auf kaputte Eltern zurückgeführt werden? Der senile Schürzenjäger als Vater, die absolute Monster-Mutter, das ist für diese Art Film zu überzeichnet. Da gefiel mir die Konfrontation einer psychisch gestörten Tochter mit einer eigentlich völlig normalen Familie in "Rachels Hochzeit" deutlich besser.
Schließlich muss ich noch sagen, dass ich Claire / Charlotte Gainsbourg höher einschätze als Justine / Kirsten Dunst. Die Rolle, weil sie im auf sie zugeschnittenen zweiten Teil nicht mehr mit der Restfamilie belastet ist, und weil die Dekonstruktion ihrer Lebens- und Geisteswelt für mich spannender war als die stark aufbereitete, aber letztlich triviale Depression. Die Schauspielerin, weil sie schon im ersten Teil mit ihren typisch dauerleidenden Blicken Dunst manchmal die Show stahl (obwohl deren Lächelversuche auch nicht zu verachten sind) und den zweiten Teil dann mühelos trägt. Letztlich ist Dunst eine ordentliche Schauspielerin, die hier ein einmaliges Karrierehoch zeigt, und Gainsbourg halt eine außergewöhnliche.
Und noch ein Kritikpunkt: so stark die Optik, so schwach die Musik. Viel zu aufdringlich, bombastisch und kitschig. Ich plante schon, mich über Pseudo-Wagner aufzuregen, bevor ich im Abspann sah, dass es echter war.
Ach ja, natürlich musste ich in diesem Film auch auf die Physik achten, ein sehr zwiespältiges Bild. Einerseits haben sie sich mit einigen Details sichtlich Mühe gegeben (Perspektivwechsel bei den Weltraum"aufnahmen", Wetteranomalien, EM-Störung trifft erst moderne Autos, dann erst simplere Golfkarts), andererseits manches inkonsequent durchdacht (selbige Wetteranomalien, zu früh und unmotiviert Stromausfall und Luftdruckabfall) oder ganz übersehen (Gezeitenkräfte und eine halbwegs glaubwürdige Steigerung aller Effekte vor dem finalen Zusammenprall). Aber das hier nur als technische Anmerkung, für die Wertung oder Interpretation des Filmes ist das völlig irrelevant. (Außer für die Leute, die physikalische Mängel als Beweis für Imaginiertheit der ganzen Untergeherei durch die Charaktere interpretieren, sowas findet man im Internet selbstverständlich auch...)
Falls die Kritikpunkte wie üblich unverhältnismäßig viel Raum eingenommen haben sollten, nochmal die Rückbesinnung auf "Genialität" - davon hat "Melancholia" genug. Zum uneingeschränkten Lob reicht es nicht, für ein "das hat sich gelohnt" und ein lange-im-Gedächtnis-Bleiben aber definitiv.
Um den Beitrag weiter zu verlängern
, noch ein paar Gedanken zu bisherigen Kommentaren:
Zitat von e-noon:Meiner Meinung nach zeichnet der Film in erster Linie ein Porträt einer Depression, was der Titel ja auch stark nahelegt, in zweiter Linie ein Porträt einer zutiefst unglücklichen Familie. Erst in dritter Linie ist es ein Weltuntergangsfilm
Entsprechend meinen obigen Ausführungen sehe ich Depression und Weltuntergang als in etwa gleichberechtigte Themen an, somit auch Teil 1 und 2, und die Familie definitiv nicht als wichtigen Teil, eher sogar als Störfaktor.
Zitat von e-noon:Insofern ist zwar die Hochzeit die Vernichtung von Hoffnungen, aber sie teilte diese Hoffnungen ja nicht einmal - nach meinem Verständnis wollte sie nur eines: unglücklich sein dürfen.
Diesen Wunsch sehe ich bei ihr auch von Anfang an, sie hat den Kampf schon lange vor Filmbeginn aufgegeben. Die Hochzeit ist eine letzte Chance, die sie ihrer Umwelt gibt, sie dazu zu überreden, noch etwas anderes zu wollen. Für einen kurzen Moment glaubt sie, das könnte klappen (und wirkt deshalb im Auto authentisch, wenn auch fragil, glücklich, wie Padreic beobachtete), aber das entpuppt sich schnell nichtmal als trügerische Hoffnung, sondern als eine, die sie wohl auch für diese Kürze nichtmal ernsthaft hatte, sondern nur (auch für sich selbst?) spielte.
Zitat von e-noon:Dass du beim ersten Mal "Justin" statt "Justine" geschrieben hast, erinnert mich an einen Disput, den wir hier nach dem Film hatten: Waren Claire und Justine Französinnen oder anglophon? Die Namen sind ja zweifellos französischen Ursprungs, aber ich hatte den Eindruck, dass sie auch im Film französisch ausgesprochen wurden und nicht englisch, wie das ansonsten englische Umfeld nahelegte. Wie war dein Eindruck?
In der deutschen Version wird "Justine" eindeutig "Dschastine", also englisch, ausgesprochen, nicht französisch "Dschüstihn". "Claire" ist als französisch "Klehr" oder englisch "Klähr" nicht gut genug unterscheidbar, um es klar (pardon
) zuzuordnen.
Zitat von Lykurg:dem Schloß gezeigt wird (das übrigens in Schweden liegt, wie auch die Darsteller vom Typus her klar eher skandinavisch als englisch sind)
Das Taxi wird mit Dollarscheinen bezahlt, also soll das Schloss im Film wohl in den USA stehen. Dazu passen auch Namen und Verhaltensweisen der Figuren, wenn auch die (Neben-)Schauspieler aus produktionstechnischen Gründen skandinavischen Einschlag haben.
Warum auch in einer europäischen Produktion die Welt in Amerika untergehen muss, sei dahingestellt...
Zitat von Lykurg:...er [Michael] ordnet sich völlig den Wünschen seiner Frau unter und verläßt sie direkt nach der Hochzeit, als sie offensichtlich Hilfe braucht. Entsprechend betrügt sie ihn auch mit dem dahergelaufenen Jüngelchen Timmy.
Definitiv betrügt sie ihn zuerst, danach verlässt er sie. Und spekulativ würde ich sogar sagen, dass angedeutet wird, dass er sie dabei beobachtet hat - er steht auf dem Balkon, und die Ausleuchtung war gut genug. Dann könnte man ihm, allen vorhergehenden Schwächen zum Trotz, die Abreise nun wirklich nicht übel nehmen.
Zum Reiten-Dialog siehe Padreic, dessen Version kann ich bestätigen. Das wäre dann also wenn schon eine angedeutete Beziehung der beiden Männer.
Zitat von Lykurg:...fand ich aber die magischen Komponenten sehr stark.
Um Magie als Wirkprinzip in den Film hineinzuinterpretieren, fehlen mir die Anhaltspunkte. Die von dir genannten optischen Effekte sehe ich rein als solche, der eher an Gemälde- als an Filmästhetik angelehnte Vorspann sorgt für eine gewisse Distanzierung der (auch später) gezeigten Bilder und der erzählten Realität. Nicht alles, was der Zuschauer sieht, würde ein unbeteiligter Beobachter in der Filmwelt (z.B. ein Hausbediensteter) auch so sehen, manches symbolisiert nur Inneres der Hauptfiguren.
Was war der tiefere Sinn von "Tante Stahlbrecher"? Ein Übersetzungsfehler, eine Märchenanspielung, die ich nicht verstehe, oder einfach ein Fall von "dem Zuschauer nicht jeden Charakterhintergrund erklären wollen"?
Zitat von Lykurg:Das Donnern war meines Erachtens für den Film völlig verzichtbar, ähnlich auch der gezeigte Aufprall am Schluß.
Zustimmung, die Schlusszene fand ich eher schwach, ein Ausblenden kurz vorher, mit den "Eingehöhlten" vor dem nahen Planeten, hätte der Endgültigkeit kaum geschadet, aber den Einbruch banaler Tricktechnik verhindert.
Zitat von Padreic:Dass der Aufprall gezeigt wurde, fand ich übrigens schon wichtig
Dann hätte er aber irgendwie besser inszeniert werden müssen, mit dieser Standard-CGI-Feuerwalze passte die Endszene überhaupt nicht zum restlichen Film und warf die Totalität meines Erachtens sogar eher auf eine gewisse Banalität zurück.
Zitat von Lykurg:Die Nähe der wackligen Aufnahmen zum Hochzeitsvideo ist ein sehr einleuchtender Hinweis, ich erinnere mich schon nicht mehr sicher, ob das vielleicht sogar explizit thematisiert wurde, ob z.B. das Filmen gezeigt wurde, jemand mit dem Kameramann kommunizierte oder typische "Fehler" passierten.
Explizit thematisiert wurde da nichts (im Gegensatz zum oben genannten "Rachels Hochzeit"), das Gewackel dürfte ein reines Überbleibsel alten von-Trier-Stils sein. Schlimm fand ich es nicht, da hat man vor 1-2 Jahren regelmäßig schlimmeres gesehen.
Zitat von Lykurg:Du hast zwar recht, daß Michael viel auf sich genommen hat, aber wenn er sie schon länger kennt, müßten ihm (weniger schwere) Depressionsschübe vertraut sein.
Irgendwann recht früh verspricht Justine Claire, Michael "nichts davon zu sagen". Das klang für mich nicht nur auf den aktuellen Schub bezogen, sondern auf ihre generelle Erkrankung. Dazu passt auch, dass er selbst später nur davon redet, dass sie unter seinen tollen Apfelbäumen sitzen könne, "wenn du wieder traurig bist". Er dürfte also gar nicht wissen, dass sie medizinisch depressiv ist, sondern sie nur als etwas übersensibel einschätzen. Ob sich das mit gezielter Geheimhaltung und großer Naivität seinerseits glaubwürdig erklären lässt? Naja. Aber wir wissen ja eh nichts über ihre Vorgeschichte, vielleicht lebten sie nichtmal zusammen. Dann vielleicht ja.