Finden wir tatsächlich Frieden, wenn wir lernen zu verzeihen?

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Amely67
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Fr 17. Feb 2012, 00:46 - Beitrag #1

Finden wir tatsächlich Frieden, wenn wir lernen zu verzeihen?

Mehrmals habe ich es als Empfehlung gelesen. Verzeihe, denn eher findest du dein Glück/ deinen Frieden nicht.
Meine Frage: Reicht es dabei innerlich zu verzeihen oder ist es dazu notwendig, diesen Schritt offenkundig und hörbar für denjenigen zu tun.
Vielleicht reicht es, im Verhalten zu zeigen, dass man verziehen hat?
Was meint ihr?

Ipsissimus
Dämmerung
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Fr 17. Feb 2012, 21:48 - Beitrag #2

wie so oft lautet der wichtigste Teil der Antwort auch diesmal: es kommt drauf an

Es kommt auf die genaueren Umstände an. Deinem Kind, das dich belügt, wirst du verzeihen, aber trotzdem darunter leiden, sofern es dich ernsthaft belügt und nicht nur einen eindeutigen Scherz macht. Dem Mann, der dich betrügt, wie oft willst du ihm verzeihen, ehe das Verzeihen reine Dummheit wird? Dem Mann, der dein Kind vergewaltigt und anschließend wegwirft, wann willst du ihm verzeihen? In diesem Leben noch? Ich glaube es nicht wirklich. Und die überlebenden Kinder, wann sollen sie ihren Peinigern verzeihen?

Und geht es überhaupt und wirklich um Verzeihen? Das, was Menschen, die verzeihen, wollen, ist doch etwas anderes, nicht? Sie wollen sehen, dass ihr Vertrauen auf´s Neue gerechtfertigt sein möge, wollen sehen, dass das, was sie verzeihen mussten, nicht noch mal oder gar immer und immer wieder geschieht. Sie wollen die Unfähigkeit des Täters oder der Täterin sehen, ihnen nochmals weh zu tun.

Das erreicht man nicht mit Verzeihen.

Verzeihen ist etwas für das mittlere Maß, wenn die Dinge weder trivial noch schon wirklich schmerzhaft sind. Sobald die wirklichen Schmerzen beginnen, enden alle Empfehlungen, weil dann plötzlich nur noch du da stehst, mit einem Schmerz, der dich durch und durch schneidet. Dann verzeihe, wenn du noch einen Sinn darin siehst.

Ich täte es nicht.

janw
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Sa 18. Feb 2012, 03:06 - Beitrag #3

Und was wollen eigentlich Menschen, die wünschen, daß ihnen verziehen werden möge? Sie wollen, daß ihnen wieder bzw. weiter jenes Vertrauen entgegen gebracht werden möge, das ihnen vor jenem Tun entgegen gebracht wurde, für das sie nun verantwortlich gemacht werden. Sie wollen, daß gesehen werde, daß das, für das ihnen verziehen werden soll, nichts insofern mit ihnen zu tun habe, daß es Ausdruck ihrer selbst sei und damit in Gefahr, wieder von ihnen begangen zu werden.
Sie wollen, daß das zu Verzeihende einerseits so sehr mit ihnen verbunden werde, daß Verzeihen möglich wird, es andererseits aber so hinreichend als "einfach geschehen" wahrgenommen werde, daß nicht daraus auf sie selbst geschlossen werde - was neuem Vertrauen entgegen stehen würde - sondern es durch offenbare Zufallsbedingtheit als nicht wiederholbar erscheine.

Pelze gehören eingefettet^^

Amely67
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Sa 18. Feb 2012, 11:41 - Beitrag #4

Doch was bringt all der Groll, Hass oder vielleicht sogar Gewalt aus blinder Wut? Was würde dieses rückgängig machen? Nichts, denn die Zeit läßt sich nicht zurückdrehen. Ursachen ergründen und darauf hinarbeiten, dass es sich nicht wiederholt - ist das nicht viel brauchbarer?

Ipsissimus
Dämmerung
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Sa 18. Feb 2012, 12:11 - Beitrag #5

worauf ich hinaus will, ist Folgendes: "Verzeihen" mitsamt seinen erhofften oder gemutmaßten Auswirkungen ist ein Konzept. Die Gefühle, die ein Mensch hegt, dessen oder deren sechsjährige Tochter gerade von einem Schlächter vergewaltigt und zerfetzt wurde, sind kein Konzept, sondern Wirklichkeit.

Es mag irgendeiner moralischen Theorie zufolge so sein, dass das Konzept der Wirklichkeit überlegen sei. Sollte eine Mutter oder ein Vater mit derartigen Gefühlen jemals tatsächlich so verrückt sein, diese Gefühle mit dem Konzept bekämpfen zu wollen, ist das ein Weg in die Hölle, aufgrund Überforderung und aufgrund Unehrlichkeit zu sich selbst.

Es mag sein, dass das nicht das letzte Wort ist. Zeit heilt alle Wunden, wie es so schön heißt; zumindest bewirkt sie, dass der Schmerz sich nach 20, 30 Jahren nicht mehr wie eine glühende Nadel in einer offenen Wunde anfühlt, sondern eher wie ein Stück nekrotisches, abgestorbenes Gewebe. Mag sein, dass das optisch mit Verzeihen verwechselt werden kann. Obwohl die Farben für immer fehlen werden.


jan, die Perspektive jener, die verzeihen müssten, und jener, denen verziehen werden müsste, haben nicht viel miteinander zu tun. Ich sage ja auch nicht, dass Verzeihen unmöglich sei. Aber es ist etwas für das mittlere Maß. Nicht für den wirklichen Schmerz. Du weißt, was mir in meiner Kindheit widerfahren ist. Und obwohl ich im Allgemeinen längst darüber hinaus bin, ertappe ich mich gelegentlich trotzdem bei Gefühlen kalten Hasses. Keine Sorge, ich habe sie im Griff^^ Angesichts dieser Gefühle jedenfalls ist "Verzeihen" schlicht Unfug. Das Problem und die vorgeschlagene Lösung liegen lichtjahreweit auseinander.

janw
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Sa 18. Feb 2012, 12:41 - Beitrag #6

Ipsi, nur "für das mittlere Maß, nicht für den wirklichen Schmerz", oder für jene Fälle, in denen die verschiedenen Perspektiven überein gebracht werden können, oder in denen es möglich erscheint, die zugrunde liegende Handlung ein Stück weit nicht als Ausdruck des Täters zu sehen?

Ipsissimus
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Sa 18. Feb 2012, 13:00 - Beitrag #7

wenn etwas verziehen werden muss, ging etwas voraus, das eine Wunde geschlagen hat. Wunden können verheilen. Viele Wunden können verheilen. In dem Fall ist das Verzeihen ein möglicher Ausdruck des "wieder heil sein". Manche Wunden heilen nie.

Aus meiner Sicht ist das die einzige relevante Frage. Kann der/diejenige wieder heil werden, dem/der etwas angetan wurde, oder kann er/sie nicht. In letzterem Fall ist das Nicht-Verzeihen kein Ausdruck bösen Willens, sondern Verzeihen ist schlicht unmöglich. Es gibt Dinge, die sich jeder Relativierung verweigern, jedenfalls in der Psyche von Menschen, und nur davon spreche ich gerade. Dass im strafrechtlichen Raum die Sache ganz anders liegt, bin ich gern bereit einzugestehen. Dem wird ja allein dadurch schon Rechnung getragen, dass die Opfer nicht die Bestrafenden sein dürfen.


Also ja, verzeihen ist ein gutes Zeichen; es ist Zeichen dafür, dass der innere Friede wieder hergestellt werden konnte. Es ist aber aus meiner Sicht kein Mittel, diesen inneren Frieden wieder herzustellen, sondern eine Folge davon.

Maglor
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Sa 18. Feb 2012, 13:20 - Beitrag #8

Verzeihen an anders als die Versöhnung ist nur einseitig und nicht an Bedingungen verknüpft.
Und wenn etwas unentschuldbar ist, ist es noch lange nicht unverzeihlich.
Die Verzeihung ist anders als z. B. die Entschuldigung auch nicht an die Annahme durch das Gegenüber genüpft. Sie muss noch nicht einmal ausgesprochen werden und ist daher eine Art Zauberei und liegt allein in der Macht des einzelnen. Genau wie beim Selbstbetrug, muss man nur auf sich selbst hereinfallen, eine Täuschung der Umwelt ist nicht vonnöten.

Wenn man jemand verzeiht, bedeutet das nicht, dass man eine Generalabsolution vergeben hat, die muss man nämlich vergeben und nicht verzeihen.

Amely67
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Sa 18. Feb 2012, 13:23 - Beitrag #9

Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass Hass eine ganze Menge Energie verbraucht, die man sonst für bessere Zwecke einsetzen könnte. Ich habe gelernt zu verzeihen, weil mein Leben so freier wurde.
Vielleicht aber muss man es trennen.
So schlimme Ereignisse, in denen Gewalt vorkam und /oder jemand getötet oder Missbraucht wurde - das kann ich wirklich nicht beurteilen - wie und ob da ein Verzeihen möglich ist, da mir so etwas zum Glück nie passierte( bis auf Schläge, deren Schmerz ich vergessen habe).

Alles was meine Eltern in der Erziehung und in ihrem Verhalten als Eltern falsch gemacht haben, worunter ich gelitten habe und evtl. noch ein klein wenig leide - all das und die Lieblosigkeit mit der ich zu kämpfen hatte - all das kann ich verzeihen, denn ich weiß - sie wussten es nicht besser / sie hatten es nicht besser gelernt weil auch ihre Eltern Fehler machten, die wiederum das Resultat der Eltern dieser waren und das Resultat einer wirklich schlimmen Kriegszeit vielleicht...

Es wäre eine Endloskette, wenn ich den Groll und den Hass weitervermitteln würde, wenn ich auch meine Kinder bis aufs Blut geschlagen hätte...

(Wie kommen Mneschen eigendlich dazu zu sagen, sie hätten das erfahren und müssten es nun weitergeben deshalb - obwohl sie doch am eigenen Leib gespürt haben, wie man sich als Kind dabei fühlt - wie machtlos und klein...)

Mit jedem Schlag den ein Kind bekommt lernt es - Gewalt sei eine Lösung. wer möchte sowas denn seinem Kind beibringen?

Ipsissimus
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Di 21. Feb 2012, 12:05 - Beitrag #10

das ist ein Teil dessen, was ich damit meine, dass Verzeihen etwas für das mittlere Maß ist. Was Eltern ihren Kindern im Rahmen "normaler" Erziehung antun, kann seitens der Kinder oft verziehen werden, teilweise, weil spätere Einsicht der Kinder die Eltern nachträglich rechtfertigt, teilweise, weil es eben meist doch nicht so schwerwiegende Dinge sind wie Vergewaltigung oder Brechen des Willens.

Wie kommen Mneschen eigendlich dazu zu sagen, sie hätten das erfahren und müssten es nun weitergeben deshalb
Menschen "kommen" nicht "dazu", dies zu "sagen". Diese Dinge erfolgen unbewusst bis teilbewusst. Kinder empfinden ihre Eltern erst mal als Standard, und dies nicht nur in den angenehmen sondern auch in den unangenehmen Dingen. Die Eltern sind Vorbild, und was die Vorbilder machen, sickert so in die Kinder hinein, dass es erst mal "sitzt". Es ist eine schwierige Aufgabe für die Kinder, diesen Kuddelmuddel an Empfindungen und Erfahrungen so zu verarbeiten, dass es nicht mehr oder weniger automatisch, am Bewusstsein vorbei, als Musterwiederholung dazu kommt, der nächsten Generation, den eigenen Kindern, weiter zu geben, was sie selbst empfangen haben.

Mit jedem Schlag den ein Kind bekommt lernt es - Gewalt sei eine Lösung.
Wenn du deinen Erziehungsauftrag ernst nimmst, kommst du nicht daran vorbei, auf das Kind einzuwirken, also Macht auszuüben. Das kann verschleiert oder sehr direkt passieren, aber es gibt grundsätzlich keine Garantie dafür, dass ein Kind das nicht irgendwann als Gewalt empfindet, gleichgültig, ob mit oder ohne Schläge. Alle Kinder lernen aufgrund jeder Erziehungsweise, dass Macht bis hin zur Gewalt eine, nein, die Lösung ist; es ist nur die Frage, wie diese dosiert und angewandt wird. Machtloser Diskurs, gleichgültig ob auf Erziehungs- oder sonstiger Ebene, ist eine fromme Farce; was als äußerstes erreicht werden kann, ist Verantwortungsbewusstsein.


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