Nigeranische "Terror-Sekte" Boko Haram

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Maglor
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Mo 23. Jan 2012, 22:30 - Beitrag #1

Nigeranische "Terror-Sekte" Boko Haram

Die Terror-Organisation Boko Haram ermordete in Nigeria im vergangenen Jahr über 500 Menschen. Bombenanschläge und Selbstmordattentäte auf Kirchen, staatliche Einrichtungen oder schlichte Zivilisten führen sie nach afghanischem Vorbild aus.
Erklärtes Ziel ist ihres sogenannten Jihads ist die Vertreibung aller Christen aus dem nördlichen Nigeria. (Christliche Minderheiten stehen der Scharia-Praxis im Norden im Wege.)
Boko Haram sucht Anschluss an den internationalen Terrorismus - die sogenannte Al Kaida und ihre Nebenstellen in Afghanistan, Nordafrika und Somalia.

Im Gegensatz zu vergleichbaren Organisation wird die Boko Haram in der Presse als "Terror-Sekte" bezeichnet. Der Begriff Terror-Sekte wurde bisher nicht im islamischen Kontext verwendet, sondern lediglich bzgl. japanischer U-Bahn-Giftgas-Attentäter.
Niemand bezeichnet die afghanischen Taliban als Terror-Sekte, geschweige denn die Hisbollah oder den jihadistischen Untergrund im Irak als Terror-Sekte.

Nun der Unterschied liegt natürlich auf der Hand. Es handelt sich um Nigerianer. 150 Millionen Menschen teilen sich das Land in unzähligen Konflikten auf. Irre Pfingstkirchler missionieren in alle Richtungen. Hunderte Männer, Frauen und Kinder werden als Hexen verfolgt und getötet. In besonderen Ritualen opfern okkulte Geheimbünde Zwillingskinder. Wasserhexen zwingen mit ihrer Magie Mädchen zur Prostitution.
Und im Norden Nigerias wird seit ein paar Jahren offiziell gesteinigt.

Die Boko Haram müssen tatsächlich als etwas besonderes, ja abrgrundtiefes in Nigeria betrachtet werden. Bei allen anderen Rebellengruppen ist die Grenze zwischen krimineller Gang, Juju-Hexer-Vereinigung und ethnisch verstandener Bürgerwehr fließend. Boko Haram ist anders. Es ist eine total verrückte Sekte, die sich ihre Ideen aus der nördlichen Hemisphäre bezieht, sie lesen der Koran und nicht in den Innereien ihrer Opfer.
Ein wirklich nettes Land ;)
Es fehlt ein nigerianischer Charles Taylor oder Joseph Kony.

janw
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Di 24. Jan 2012, 01:29 - Beitrag #2

Nu ja, Terror-Sekte, irgendwie muss dem Kind doch ein aufmerksamkeitsträchtiger Name gegeben werden^^

Ich denke, es lohnt sich, die Bezeichnungen der verschiedenen islamistischen Gruppierungen zu betrachten, sie erlauben interessante Schlüsse zur Strategie der Netzwerkorganisation.
Und zwar bedeutet Talib(an) nichts anderes als Schüler (Sg./Pl.) und verweist auf die Entstehung der Gruppierung aus den Koranschulen (madrasas) in den Flüchtlingslagern in Pakistan, natürlich nur für die Menschen in den entsprechenden Regionen mit Berührung zu diesem Thema.
Boko Haram bedeutet "(westliche) Bildung [von "book" abgeleitet] verboten", haram als Gegensatz zu halal.
Der Name nimmt Bezug auf die Aktivitäten der evangelikalen Gruppen in Westafrika, die unter dem Deckmantel der Vermittlung westlicher Bildung christliche Mission betreiben.
Ziel der Organisation ist, den hauptsächlich moslemisch geprägten Norden Nigerias unter islamistische Kontrolle zu bekommen - wobei naturgemäß die christlichen Missionare als Hindernis wahrgenommen werden, deren Bildungsarbeit möglicherweise auch - und den Staat Nigeria insgesamt zu destabilisieren.

Hier zeigt sich in meinen Augen ein mehrfaches Versagen der UN-Organisationen, zum einen grundlegend bei der Bildungsarbeit - die hätte IMHO integraler Bestandteil der Flüchtlingslager-Organisation wie auch der Entwicklungshilfe in Nigeria werden müssen, anstatt dieses Feld weltanschaulichen Gruppen mit anderen Zielen zu überlassen -, aber auch speziell auf Nigeria bezogen: Die Probleme dieses Landes mit großem Reichtum, der extrem ungleich verteilt ist und massiver Umweltbelastung im Nigerdelta und die Größe des Landes hätten in meinen Augen schon länger eine übergreifende Problemlösungsstrategie notwendig gemacht.

Ipsissimus
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Di 24. Jan 2012, 12:06 - Beitrag #3

ich bekomme zunehmend das Gefühl, dass wir, der "Westen", immer mehr dazu neigen, die inneren Angelegenheiten eines Landes zu Problemen der Weltgemeinschaft zu deklarieren, die dann alle möglichen Arten des Eingreifens rechtfertigen. Viele dieser "Dritte Welt"-Länder haben niemals auch nur andeutungsweise eine Aufklärung durchlaufen, was sollen diesen Ländern also unsere Problemlösungsstrategien, die alle darauf hinauslaufen, dass die so werden müssen, wie wir sind. Im Grunde sind in Nigeria die Wasserhexen die legitimen Herrscherinnen, alles andere ist Usurpation, egal ob seitens Christentum oder seitens Islam. Von beiden Seiten aus wurde die ursprüngliche Kultur aufgeweicht und zum Rückzug gezwungen.

Lykurg
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Di 24. Jan 2012, 14:49 - Beitrag #4

Ipsissimus, das steht mit deiner aktuellen Signatur "Wer bist du, dass du die Qual lindern kannst und es nicht tust ..." in offenem Widerspruch. Wenn die Regierung eines Landes - gleich ob gewählt oder ungewählt - beschließt, einen Teil der Bevölkerung von dort zu vertreiben oder zu töten, ist das für die heutige Weltgemeinschaft aufgrund ihrer Selbstverpflichtung zu bestimmten ethischen Werten, etwa der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, angemessen und geboten, dagegen einzuschreiten - grundsätzlich und individuell mit diplomatischen Mitteln, bei entsprechendem Konsens in der UN aber auch als Friedensmission.

janw, ganz unabhängig davon, wie gut man einen Namen mit gegenläufigen Inhalten füllen kann (etwa die vier Ministerien aus "1984"), wird Boko Haram sicherlich unabhängig von einem etwaigen Anlaß mit demselben Eifer christliche Missionare anderer Richtungen verfolgen, ganz einfach weil Bekehrung eines Moslems laut der Scharia ein todeswürdiges Verbrechen ist, da braucht es dann gar keine weiteren Bildungsversuche mehr.

janw
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Di 24. Jan 2012, 15:00 - Beitrag #5

Ipsi, das sehe ich im Grunde genau so.
Das Problem ist nur, daß es dann darauf hinaus liefe, daß "wir" uns weiterhin einmischen, was Gewinnung und Abtransport der Rohstoffe betrifft, aber die Leute dort mit den Folgen allein lassen.
Letztlich haben "wir" auch durch den Kolonialismus und die willkürlichen Grenzziehungen zu den Problemen beigetragen.
Nigeria besteht aus zwei ungleichen Teilräumen, tropischer Küstensaum mit Nigerdelta, Ölindustrie, Häfen, hier bleibt der Großteil des erzielten Reichtums "kleben", und dem Binnenland, agrarisch geprägt und mit allen Problemen der Sahelzone.
Ich denke schon, daß es nicht unangemessen ist, auf eine gerechte Verteilung der Ölerlöse hinzuwirken und den Menschen die Möglichkeit zu eröffnen, durch Bildung ihre Dinge in die eigenen Hände zu nehmen.
Boko Haram hat zumindest an letzterem kein Interesse.

Ipsissimus
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Di 24. Jan 2012, 15:40 - Beitrag #6

da eine "Friedensmission" nichts anderes als eine verkappte Bezeichnung für einen Krieg ist, Lykurg, sehe ich eine Anwendbarkeit meiner Signatur nicht für gegeben. Es wird durch diese "Friedensmissionen" nichts gegen Qual getan sondern zusätzliche Qual hinzugefügt.

Jan, das ist ja der Punkt. Hinter all diesen "Friedensmissionen" stehen unsere ökonomischen Interessen. Die müssten wir natürlich aufgeben.

janw
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Di 24. Jan 2012, 21:25 - Beitrag #7

Ipsi, wenn "wir" da rausgehen, kommen die Chinesen oder irgendwelche warlords à la Kongo. Warum nicht die Ölgewinnung im Nigerdelta so gestalten, wie wir sie in der Nordsee gestalten würden, ein Aufräumprogramm starten und auf die Regierung einwirken, die Einnahmen auch dem Norden zukommen zu lassen?

Ipsissimus
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Di 24. Jan 2012, 21:32 - Beitrag #8

siehst du irgendetwas davon Wirklichkeit werden?

Maglor
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Di 24. Jan 2012, 21:58 - Beitrag #9

Die "Westen" erkennt nicht alle Probleme Nigerias als Probleme der Weltgemeinschaft an.
Lediglich der Scharia-Konflikt wird für wichtig erachtet. Dass die Einführung der Scharia in Norden direkte Folge der Einführung einer föderalen und entfernt demokratischen Ordnung in Nigeria wird all zu gern übersehen. Die Opfer christlicher Hexenverfolgung und heidnischer Ritualmorde dürften ebenfalls einige 1000 betragen.
Der Niger-Delta-Konflikt kann übrigens auch religiös gedeutet werden. Der dortige Widerstand hat sich inzischen dem Islam zugewandt.

Das Problem des Landes ist die fehlende Aufklärung. Die Menschen treten nicht als Individuen auf sondern als mafiaartige Gefolgschaften, die durch Rituale zusammengehalten werden. Mit dem Vordringen des Christentum und des Islam gelten auch diese als solche gemeinschaftsbildende Einrichtungen, jeweilige Vorstöße gelten als Ausdehnung des Machtbereichs einer Gruppierung. Dies erklärt auch, warum Missionierung als feindlicher Akt betrachtet werden und warum die nigerianische Christenheit in zahllose lokale synkretistische Mikro-Kirchen aufgeteilt ist. Die Gewaltbereitschaft scheint hoch, dies gilt nicht nur auf politischer und religiöser Ebene, sondern auch im privaten Sektor. Eine Trennung besteht ohnehin als Fassade.

Die Terror-Organisation Boko Haram besteht vor allem aus Angehörigen der Kanuri aus dem äußersten Nordosten Nigeria. Dieses Gebiet wurde bereits im 11. Jahrhundert islamisiert. In vorkolonialer Zeit bestand dort bereits ein Sultanat. Das Gebiet wird noch wie vor von Emiren kontrolliert.
Die Kampfzone von Boko Haram liegt jedoch in Zentral-Nigeria.

"Friedensmissionen" in Afrika werden übrigens üblicherweise von nigerianischen Blauhelmen durchgeführt, da in der Regel keine anderen Staaten zu solchen waghalsigen Missionen bereit sind. ;)

Traitor
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Do 26. Jan 2012, 21:39 - Beitrag #10

Zitat von janw:Nigeria besteht aus zwei ungleichen Teilräumen, tropischer Küstensaum mit Nigerdelta, Ölindustrie, Häfen, hier bleibt der Großteil des erzielten Reichtums "kleben", und dem Binnenland, agrarisch geprägt und mit allen Problemen der Sahelzone.
Die Situation ist deutlich weniger polar. Das Nigerdelta war in den letzten Jahren gerade die größte Konfliktzone, da der Reichtum eben nicht dort hängen bleibt, sondern die Bevölkerung lediglich unter den Umweltschäden der Ölindustrie leidet. Der Reichtum dürfte hauptsächlich im (trotz bzw. parallel zu gigantischen Slums) relativ aufstrebenden Lagos landen. Der Norden hat natürlich wiederum seine ganz eigenen Probleme, aus denen sich dann der Islamismus speist, aber das Nigerdelta ist sicher nicht der beneidenswerte Gegensatz.

Das größte Problem Nigerias dürfte aber weder Umwelt noch Religion sein, sondern das groteske Bevölkerungswachstum.

Der Begriff der "Sekte" dürfte vor allem aufgekommen sein, weil der Islam im Land nicht eindeutige Mehrheitsreligion ist, wie in der Heimat von Hamas oder Taliban.

Maglor
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So 26. Feb 2012, 22:14 - Beitrag #11

Hohe islamische Würdenträger Nigerias haben wiederholt so getan, als gehöre Boko Haram nicht zu ihnen. Der Sultan von Sokoto bezeichnete etwa Boko Haram als unislamisch. Boko Haram wird von den islamischen Monarchen Nigeria abgelehnt und ist daher ganz logisch eine Sekte.


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