... weil ich an die grenzenlose Dummheit der Bundesregierung glaube

Das aktuelle politische Geschehen in Deutschland und der ganzen Welt sowie wichtige Ereignisse der Weltgeschichte.
janw
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Sa 5. Mai 2012, 13:41 - Beitrag #41

Zitat von Ipsissmus:Alle mir bekannten sich demokratisch gebenden Staaten und überstaatlichen Organisationen wie die EU dulden im Herzen ihrer Staatsform einen vollständig und ganz und gar demokratiefeindlichen Mechanismus, nämlich Lobbyismus. Lobbyismus bewirkt, dass die Entscheidungen von Politikern zugunsten der Privilegien von Interessengruppen ausfallen und nicht mehr an das Wohl der Gesamtbevölkerung gebunden sind, oder allgemeiner, dass gruppenspezifische (=gruppenegoistische) Partialinteressen als Gemeinwohl deklariert werden.

Das sehe ich genau so, ich fürchte aber, daß ein gewisses Maß an Interessenvertretung gesellschaftlicher Gruppen unvermeidbar ist: In jeder größeren Gesellschaft bilden sich Untergemeinschaften heraus, die nur noch begrenzte Wahrnehmung der Probleme anderer Untergemeinschaften haben. Die Politikergemeinschaft ist verpflichtet, Politik für alle Teile der Gesellschaft zu machen, für die Einzelnen wie für bestimmte Gruppen. Dazu bedarf sie aber einer Kenntnis der jeweils relevanten Befindlichkeiten, Bedürfnisse und Problemlagen, um auf diese adäquat reagieren zu können.
Vielleicht ließe sich dies aber dahin gehend auflösen, daß die Kritik spezifisch auf kommerziell ausgerichtete Interessenvertretungen abstellt.

@Strkturelle Gewalt:
Das Konzept stammt von dem norwegischen Friedensforscher Johan Galtung, der ergänzend zu der klassischen, meist körperlichen Gewalt durch einen oder mehrere bestimmte Täter eine durch gesellschaftliche oder staatlich-administrative Machtstrukturen und Regelsysteme vermittelte Einschränkung individueller Freiheitsrechte und Entfaltungsmöglichkeiten als Strukturelle Gewalt bezeichnet. Er setzt dabei ideell auf entsprechenden Äußerungen von Me-Ti ("Buch der Wendungen") auf:
Zitat von Me-Ti:„Es gibt viele Arten zu töten. Man kann einem ein Messer in den Bauch stechen, einem das Brot entziehen, einen von einer Krankheit nicht heilen, einen in eine schlechte Wohnung stecken, einen durch Arbeit zu Tode schinden, einen zum Suizid treiben, einen in den Krieg führen usw. Nur weniges davon ist in unserem Staat verboten.“

Galtung selbst definiert Strukturelle Gewalt wie folgt:
Zitat von Johan Galtung:„Strukturelle Gewalt ist die vermeidbare Beeinträchtigung grundlegender menschlicher Bedürfnisse oder, allgemeiner ausgedrückt, des Lebens, die den realen Grad der Bedürfnisbefriedigung unter das herabsetzt, was potentiell möglich ist“.


Letztlich kann ich nicht anders, als Ipsi recht geben, was die, sagen wir, geringe intellektuelle Problemdurchdringung der Politik betrifft:
Sicher haben viele Länder über ihre Verhältnisse gewirtschaftet, Griechenland und einige andere besonders. Sicher muss hier anders gewirtschaftet werden, insbesondere müssen die Einnahmen verbessert werden, überhaupt den entsprechenden geltenden Gesetzen folgend gemacht werden, das ist allein schon eine Frage der Gerechtigkeit. Auch Ausgaben müssen gekürzt werden, wo sie wenig sinnlos und verschwenderisch sind. Schuldenschnitte kann man machen, sie können die Konsolidierung erleichtern.
Aber bei alledem muss doch betrachtet werden, daß im Falle eines Staates konkret immer Menschen betroffen sind, und welche Menschen diese Maßnahmen besonders treffen.
Ich hörte vor ein paar Tagen - nicht in den Nachrichten, sondern in einer Hintergrunsendung im dlf - daß der Schuldenschnitt in Griechenland auch von der dortigen Rentenversicherung mitvereinbart wurde, die für die Kapitalerwirtschaftung griechische Staatsanleihen besaß. Folge: Die Hälfte der Rentenbeträge sind verloren, Rentner mit eh schon niedrigen Renten haben von der Hand in den Mund nur noch die Hälfte. Und das, ohne die maßgeblichen Verursacher des Problems zu sein und ohne etwas an ihrer Lage ändern zu können.
Man spricht von den Verwerfungen, die ein Austritt aus dem Euro bringen würde, man weist es ab, gemeinschaftlich zu haften, wo man gemeinschaftlich sehend das Problem mit verursacht hat, stattdessen lässt man die Bevölkerung ins Elend abrutschen, darauf vertrauend, daß die Menschen sich nicht kollektiv wehren werden.
Und wenn doch, hat man Frontex und andere Mittel zur Hand.

Ipsissimus
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So 6. Mai 2012, 17:46 - Beitrag #42

ich fürchte aber, daß ein gewisses Maß an Interessenvertretung gesellschaftlicher Gruppen unvermeidbar ist


wenn das notwendig sein sollte, dann muss es anders geregelt werden. Die Gespräche müssen aufgezeichnet, der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden und anschließend in öffentlicher Debatte diskutiert und entschieden werden. Ich halte es - wohlwollend formuliert - für undemokratisch, wenn teilweise massiv in das Gemeinwohl eingreifende Entscheidungen durch Mauscheleien in der Lounge entschieden werden. Anders gesagt, die Unternehmen und sonstigen Lobbyisten müssen offenlegen, was sie von den Politikern wollen und mit welchen Politikern sie darüber im Sinne von Lobbyarbeit zu sprechen gedenken.

janw
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Do 10. Mai 2012, 21:53 - Beitrag #43

Naja, Du weißt doch, Bekanntschaften sind der Klebstoff, der aus Individuen Gesellschaft macht^^ auch Institutsleiter müssen für gut Wetter sorgen, und andererseits, wie soll Politiker/in etwas initiieren oder entscheiden, wenn es nicht weiß, wo wen welcher Schuh in welcher Hinsicht drückt?
Will sagen, ich würde zwischen kommerziellen Interessen und gemeinwohlorientierten Interessen differenzieren.

Padreic
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Do 10. Mai 2012, 23:43 - Beitrag #44

@Ipsissimus:
Nun, Inflation, Lebensmittelimporte und Streiks waren wohl Realität, unabhängig von einer Deutung. Was die genauen Ursachen davon waren, ist natürlich eine andere Frage und Opposition zum Präsidenten aufgrund faschistoider Grundstimmung mag dazu gehören. Andererseits ist eine Weigerung, "auf unprivilegierter Basis ihren bisherigen Aufgaben nachzukommen", gewissermaßen einfach eine Form des Streiks, der bei einer Wegnahme von Privilegien zumindest nicht allzu überraschend kommen sollte. Ob das schon bösartig ist, nunja. Ich frag mich, was die Belegschaft von VW tun würde, wenn sie 20% des Gehalts statt an die Arbeiter als Entwicklungshilfe nach Afrika überweisen würden, um mal eine Analogie zu bemühen.

Ich würde meinen, das hängt vom Abstraktionsniveau ab. Auf der Implementierungsebene können die Dinge beliebig komplex sein. Ich bezweifele nur, ob mit dem Verständnis dieser Komplexität etwas gewonnen ist für das Verständnis auf der Erweis-Ebene. Wenn Windows mal wieder nicht macht, was es soll, nervt das auch dann, wenn ich weiß, dass da ein großartiger, komplexer Programmcode dafür zuständig ist. Wenn soziale Maßnahmen wie HartzIV auf Verteilungsgerechtigkeit zielen, aber faktisch das Leben von Familien immer stärker unter Druck bringen und in die Schieflage bringen, sind die - kolportierten - guten Absichten belanglos.
Zu diagnostizieren, dass etwas nicht toll läuft, ist einfach, auch wenn man die Komplexität der Lage nicht durchschaut. Es ist immer die Frage, ob man Alternativen findet, die besser sind. Um zur Windowsanalogie zurückzukommen: Daraus, dass es nicht funktioniert, kann man keinen bösen Willen der Programmierer ableiten und schon lange nicht einfach Alternativen aufzeigen, die funktionieren.
Ich will damit keineswegs sagen, dass die Entscheidungen von Politikern immer optimal nach ihren Möglichkeiten geschehen - beileibe nicht. Lobbyismus kann eine Rolle spielen oder auch sein Bruder, der Populismus. Man will Freunde nicht verlieren, wiedergewählt werden. Doch manchmal ist es so, dass man sagt: Ah, diese Entscheidung nützt doch nur X, daran ist der Lobbyismus von X schuld; aber eigentlich soll die Maßnahme doch dem Volk nützen und vielleicht tut sie es sogar. Die offensichtlicheren Alternativen hätten wieder unerwartete Nebenwirkungen gehabt. [Lobbyismus scheint in manchen Kreisen sowieso einem Totschlagargument zu gleichen, wenn man sich für "böse" Sachen wie (je nach Kreis) Atomkraft, Rauchen in Kneipen etc. einsetzt.]
Dass eine größere Transparenz und Ehrlichkeit in der Politik wünschenswert wäre, da stimme ich dir natürlich zu. Ein sachliches Auseinandersetzen mit einem Problem ist häufig von zu vielen Nebeneinflüssen gestört...

Bei Hartz4 steht neben Effizienz- und Effektivitätsproblemen natürlich noch eine Grundsatzdebatte dahinter: Welchen Lebensstandard soll man einem Menschen, der nicht arbeitet, ermöglichen? Darüber gibt es ganz unterschiedliche Meinungen und man kann es nicht durch Abwägen von Fakten klären. Ich selbst wäre wohl für eine Erhöhung der Sätze. Aber letztlich war die Bundesregierung und der Bundestag, der diese Gesetze beschloss dazu mindestens so demokratisch legitimiert wie Allende. [Interessanterweise ist das Bundesverfassungsgericht, dessen demokratische Legitimierung sicherlich schwächer ist als die des Bundestags, tendentiell für höhere Hartz4-Sätze...]

Ipsissimus
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Fr 11. Mai 2012, 21:46 - Beitrag #45

nur mal nebenbei, ich antworte noch inhaltlich, Padreic

http://www.youtube.com/watch?v=ykO4I0K_hOY&feature=related

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