Tiere sehen und fühlen mehr als der Mensch
Rote Mohnblumen sind nicht rot, frisch gebackene Brötchen stinken, und wenn wir glauben, dass es ganz still um uns herum ist, ist die Luft doch voller schriller Geräusche. Nur wir Menschen bekommen davon nichts mit. Tiere riechen, hören und fühlen Dinge, von denen wir nicht einmal träumen können. Von Maria Gerber
Die Welt ist nicht so, wie wir denken, dass sie ist. Rote Mohnblumen sind nicht rot, frisch gebackene Brötchen stinken, und wenn wir glauben, dass es ganz still um uns herum ist, schwirrt die Luft voller schriller Geräusche. All das ist Wirklichkeit, nur wir Menschen bekommen davon nichts mit, weil unsere Augen zu schlecht, unsere Nase zu stumpf und unsere Ohren beinah taub sind. Im Vergleich mit Tieren schneidet der Mensch bei der Sinneswahrnehmung ziemlich schlecht ab.
Für den Fangschreckenkrebs ist das menschliche Dasein bemitleidenswert. Im Vergleich zu seiner Welt müsste ihm ein Blick durch unsere Augen grau, eintönig, eindimensional erscheinen. Denn der Krebs sieht zehnmal so viele Farben wie wir. Einen exotischen Blumenmarkt in Bangkok mit gelben, pinkfarbenen, roten und getupften Orchideen und Lotusblüten würden wir wohl als bunt bezeichnen. Doch bei Lila hört bei uns der Regenbogen auf, beim Krebs geht es danach erst richtig los. Jenseits von Lila beginnt die ultraviolette Strahlung, die für das menschliche Auge unsichtbar ist, insofern ist es unmöglich, die Farben zu beschreiben, da kein Mensch sie je gesehen hat. Das bedeutet, dass ein Regenbogen in Wahrheit viel breiter und bunter ist - der Krebs könnte von schillerndsten Farben berichten.
Auch einzelne Farben sind nicht, was sie zu sein scheinen. Rot ist rot, was gibt es da zu diskutieren. Eine Ampel ist rot, eine Clownsnase und Mohnblüten im Kornfeld. Eben nicht. Für viele Insekten sehen die Blüten schwarz aus. Die Farbe Rot ist eine langwellige Strahlung, die Insekten nicht wahrnehmen können. Fliegt die Biene über eine Mohnblüte, sieht sie nichts, also schwarz. Im Sonnenlicht erscheint die Blüte allerdings fast weiß, weil die Mohnblüte sehr effizient UV-Licht reflektiert und die Biene das als helle Farbe wahrnimmt.
"Jedes Lebewesen lebt in seiner eigenen Welt. Wäre ich eine Zecke, dann könnte ich nur warm und kalt fühlen und Milchsäure riechen", sagt Jürgen Tautz, Professor für Biologie an der Universität Würzburg. Immerhin - im Vergleich zu einer Zecke, die nichts sieht, hört, kaum fühlt und nur einen einzigen Geruch wahrnimmt, ist die Welt des Menschen farbenprächtig und überladen mit Düften.
Es ist schwer vorstellbar, dass die Welt, wie wir sie sehen, nicht unbedingt die Welt ist, wie sie tatsächlich ist. Nur weil wir nachts keine Farben sehen können, heißt es noch lange nicht, dass Häuser, Bäume und Straßen grau sind. "Dieses Thema kann schnell philosophisch werden", sagt Biologe Tautz. "Wir können uns noch nicht einmal in die Sinneswelt eines anderen Menschen hineinversetzen, wie sollen wir da verstehen, was Tiere sehen, schmecken und riechen? Wichtig ist, dass sich die Sinneswelt an die Bedürfnisse jedes einzelnen Lebewesens anpasst", sagt Tautz.
In der Welt der Zecke reicht es völlig aus, nur Milchsäure riechen zu können und zwischen warm und kalt zu unterscheiden, denn für die Nahrungssuche braucht sie nicht mehr. Schwitzen Mensch oder Tier, setzen sie Milchsäure frei. Die Zecke riecht sofort: Beute ist im Anmarsch. Nähert sie sich, nimmt die Zecke eine minimale Erhöhung der Umgebungstemperatur wahr. Sie dockt an und saugt Blut aus ihrer Beute. In einer dunklen, vollkommen stillen Welt findet die Zecke alles, was sie zum Überleben braucht.
Auch das Thema Stille ist Ansichtssache. Wer schon einmal eine Höhlentour in das Innere eines Berges gemacht hat und für einige Minuten auf dem kalten Steinboden in einer Grotte saß, der weiß, was wirkliche Stille bedeutet. Kein Vogel zwitschert, kein Auto fährt vorbei, noch nicht einmal der Wind rauscht durch die Blätter. Absolute Stille. Glauben wir. Für eine Fledermaus surrt und quietscht es, die Luft ist erfüllt mit Zurufen und dem Echo des Schalls winziger Bewegungen.
Mit ihren Superohren hört die Fledermaus Töne, die der Mensch nicht wahrnehmen kann. Der Bereich zwischen der höchsten und der niedrigsten hörbaren Frequenz heißt Hörfläche und liegt beim Menschen zwischen 16 und 1800 Hertz. Töne, die darüber liegen, heißen Ultraschall, und diese Frequenz kann die Fledermaus nicht nur hören, sondern auch erzeugen. Um sich in der Nacht zu orientieren und auf die Jagd zu gehen, benutzt die Fledermaus die Echoortung. Sie sendet über ihre Nase oder ihr Maul Laute im Wellenbereich zwischen 9000 und 200 000 Hertz aus. Die Wellen treffen auf Insekten, die umherfliegen, und werden reflektiert. Die mit knorpeligen Erhebungen ausgestatteten Ohren fangen das Echo auf; Echos von oben treffen diese Falten an anderen Stellen als Echos von unten. Anhand der zurückgeworfenen Schallwellen erkennt die Fledermaus Größe, Form, Ort und Bewegungsrichtung des Insekts, und es ist ein Leichtes für sie, ihre Beute im Flug zu schnappen.
Der Ruf der Fledermaus ist für das menschliche Ohr zu hoch, und trotzdem existieren diese Geräusche. Aber nicht nur die Welt der Fledermäuse bleibt uns verschlossen, auch die Gespräche der Elefanten liegen außerhalb unserer Hörfläche. Sie kommunizieren im Infraschallbereich mit Frequenzen unterhalb von 16 Hertz. Die Laute sind für das menschliche Gehör zu tief. Wenn sich Elefanten verständigen, hört der Mensch entweder gar nichts, oder er spürt ein Pochen und Vibrieren der Luft. Nur wenn ein Elefant Angst hat oder sich aufregt, trompetet er. Deshalb dachten Forscher lange Zeit, das wäre ihre einzige Form der Kommunikation. Die Infraschallwellen blieben den Wissenschaftlern so lange verborgen, bis sie spezielle Messgeräte einsetzten.
Die Welt des Riechens bleibt der Wissenschaft bisher zum größten Teil verschlossen. Auch wenn Zellbiologen mit vielen Versuchen die olfaktorische Wahrnehmung verstehen wollen, konnten sie von rund 350 Riechrezeptoren in der menschlichen Nase erst eine Handvoll entschlüsseln. 30 Millionen Riechzellen transportieren Vanilleduft und Verwesungsgestank von der Außenwelt in unser Gehirn, und doch gibt es Tiere, die einen feineren Geruchssinn haben: die Polyphemus-Motte. Mit ihren Antennen können die Männchen sogar wahrnehmen, ob eine Artgenossin zur Eiablage bereit ist.
Es gibt sogar Tiere, die Dinge wahrnehmen können, für die Menschen noch nicht einmal ein Organ haben: Grubenottern haben beispielsweise einen Infrarotsensor, und Zitteraale spüren das elektrische Feld, das alle Lebewesen umgibt.
aus Axel Springer Verlag
demnächst erfolgt mein persönlicher kommentar dazu.....