Joe Bageant
Auf Rehwildjagd mit Jesus Meldungen aus dem amerikanischen Klassenkampf
Original
Deer Hunting with Jesus: Dispatches from America's Class War
Broadway-Verlag, Reprint (2008)
gelesene Ausgabe
VAT Verlag André Thiele, 1. Auflage (2012)
ins Deutsche übersetzt von Klaus H. Schmidt und Ulrike E. Köstler
der Autor, Joe Begeant, Jahrgang 1946, war ein Malocher aus dem Malocher-Viertel von Winchester, einer kleinen Stadt in Virginia, am "nödlichsten Punkt der Südstaaten". Er schlug sich, wie alle seiner Klasse, den Arbeitern des White Trash vom unteren Rand der Gesellschaft, mit Gelegenheitsarbeiten und auf der Grundlage horrender Schulden Rimbaud-artig durchs Leben, ehe eine glückliche Fügung es ihm ermöglichte, sich Bildung anzueignen, auf deren Grundlage er es als freier Journalist zu einem bescheidenen Wohlstand brachte. Anders als andere hat er allerdings niemals die Klasse vergessen, aus der er stammt, und gegen Ende seines Lebens (er verstarb 2011 an Krebs) kehrte er wieder in seine Heimatstadt zurück und ließ sich im Arbeiterviertel seiner Kindheit und Jugend nieder.
In der "Rehwildjagd" schildert er das Leben der weißen Unterschicht, das Lohnsklaventum, die Verbohrtheit in ihren Köpfen, die Mittel der Realitätsflucht, und verknüpft das mit schonungsloser Aufdeckung der Verlogenheit praktisch aller Topoi und Slogans amerikanischer Gesellschaftspolitik. Dabei kommt die Demokratische Partei beinahe noch schlechter weg als die Repubikanische, er weist bis in feine Details hinein und anhand zahlloser Beispiele nach, dass der Unterschied zwischen beiden aus Sicht der Arbeiterschaft völlig gegenstandslos ist. Diese Beispiele und Analysen machen auch den nur scheinbaren Widerspruch verständlich, weswegen die weiße Unterschicht, gut 45 Millionen Menschen, mit den Republikanern fast zu 100 Prozent diejenige Partei wählt, die am offensichtlichsten gegen die Interessen der Unterschicht arbeitet.
Im folgenden ein längeres, zwei Seiten umfassendes Zitat, das repräsentativ für den inhaltlichen und stilistischen Gehalt des Buches gelten kann.
Malcom X brachte es auf den Punkt, als er sagte, dass der erste Schritt einer erfolgreichen Revolution eine massive Informations- und Bildungsoffensive zugunsten des Volkes beinhalten müsse. Ohne Bildung kann sich nichts verändern. Was meine Leute wirklich brauchen, ist jemand, der einmal ordentlich auf den Tisch schlägt, und laut und verständlich sagt: »Hört mal zu, ihr verdammten Büffelhörner! Wir sind blöder als ein beschissener Hackklotz und hätten dafür sorgen sollen, dass man uns was beibringt, damit wir wenigstens ein bisschen kapieren, wa in dieser beschissenen Welt abläuft.« [...] In Amerika wird aber so etwas niemand laut sagen, weil es zu elitär klingt - zu unamerikanisch und undemokratisch. Je nach Umgebung könnte es auch passieren, dass man Ihnen mal eben die Nase dafür bricht. In einer Pseudodemokratie, die an der beliebten Fiktion festhält, eine Nation der Gleichen zu sein, kann man es sich abschminken davon zu reden, dass wir trotz gleicher verfassungsmäßiger Rechte alles andere als gleich sind. Um von so etwas wie sozioökonomischer Gleichberechtigung auch nur zu träumen, bedarf es echter Bildung und zumindest einer grundsätzlichen Bereitschaft, an sich selbst zu arbeiten.
Warum entpuppen sich die Leute als so informationsresistent? Auch wenn es so aussehen mag, sind wir als Babies nicht auf unsere Köpfe gefallen. Dank unserer Kinder haben die meisten von uns sogar Zugang zum vielgepriesenen Internet. Trotzdem begann meine Begeisterung für die durch das Internet angeblich entstandene Informationsdemokratie zu schwinden, als ich sah, wie ein vor der Zwangsräumung stehender Freund, dem ich empfohlen hatte, den Begriff »Mieterrechte« zu googeln, um mehr über seine Optionen zu erfahren, »rausgeschmissene Miter« eintippte. [...]
Das Leben und der Intellekt der am härtesten arbeitenden Amerikaner verkümmern nicht nur durch die Enge der sozialen Welt, in die sie hineingeboren werden. Ein lokales Netzwerk aus vermögenden Familien, Bankern, Bauunternehmern, Rechtsanwälten und Geschäftsleuten hält sie absichtlich in der Sklaverei, weil es in ihrem Interesse liegt, eine billige, anspruchslose und gefügige Belegschaft zu haben, die hohe Mieten und noch höhere Arztrechnungen bezahlt. Die Mitglieder dieses Netzwerkes investieren in die Entstehung einer solchen Belegschaft - und effektiver kann man Geld nicht aus dem Hut zaubern - indem sie sicherstellen, dass von Investitionen zur Verbesserung der Bildung und Lebensqualität niemand anders profitiert als sie selbst. Städte wie Winchester sind in ihren Worten ein »Investitionsparadies«. Damit meinen sie niedrige Steuern, wenige oder keine örtlichen Verwaltungsvorgaben, keine Gewerkschaften und eine Industrie- und Handelskammer, deren Honoratioren wie eine Herde aufgetakelter Nutten herbeieilen, um die neue gewerkschaftlich nicht organisierte, die Luft verschmutzende Fabrik gebührend willkommen zu heißen. »Scheiß auf die Umweltverschmutzung! Heut wird ordentlich Kohle gemacht und grundstückmäßig geklotzt, Kinder!« Große Firmen, Immobilienmakler, Rechtsanwälte - alle bekommen ein Stück vom Kuchen ab, mit Ausnahme der schlecht ausgebildeten, von Gewerkschaften und Tarifverträgen unbeleckten Deppen, die man als Billiglohnsklaven in der fraglichen Fabrik beschäftigen wird.
Gleichzeitig, und das ist noch entscheidender, kontrolliert dieses Kartell die meisten städtischen Amtsinhaber und Ausschüsse. Auch die Planung der Infrastruktur wird von derselben Clique dominiert. Daraus erwachsen im Gemeinschaftsleben zwangsläufig irrwitzige Szenarios: Als die Bildungsbeauftragten der Stadt zum Beispiel beschlossen, eine Konferenz zu den zukünftigen Stellen- und Beschäftigungsbedürnissen unserer Jugend zu veranstalten, wurde als Hauptredner der Geschäftsführer eines hiesigen Fettverarbeiters, Valley Proteins, Inc., eingeladen, einer riesigen, stinkenden Anlage, die aus den Kadavern überfahrener Tiere und gewerblichen Friteusenfetten unter anderem die klebrige Masse produziert, die man unserem Viehfutter beimischt. Er erhielt stehende Ovationen sowohl von den Abgesandten der Schulbehörde als auch von den Vertretern des örtlichen Gurkenhändler-Mittelstand-Spießbürgertums, und niemand im Event-Raum des als Konferenzort auserkorenen Best Western-Hotels schien das Ironische an der ganzen Konstellation zu bemerken.
Die konservativen Republikaner wiederum machen viel Tamtam um Konzepte wie »persönliche Verantwortung« und ködern damit die Jungs und Mädels hier im Royal Lunch [eine lokale Kneipe]. Die meisten Arbeiterinnen und Arbeiter von Winchester glauben an das Schlagwort »persönliche Verantwortung«. Ihre Mütter und Väter haben sie gelehrt, Verantwortung für ihr Handeln zu übernehmen. Weil sie sich dieser Verantwortung auch stellen, wollen sie keine Almosen von der Regierung. Sie interpretieren die Annahme von Hilfen der öffentlichen Hand als ein Zeichen persönlichen Versagens und moralischer Schwäche. Deswegen sind sie gegen Sozialausgaben, die dafür gedacht sind, Bedürftigen unter die Arme zu greifen. Aber so sehr sie auch auf ihre Selbstständigkeit und Eigenverantwortung pochen, welche realistischen Chancen haben sie denn, wenn sie ihren Lebensunterhalt mit einem Lohn bestreiten, der es ihnen nicht erlaubt, etwas anzusparen? Welche Chancen haben sie denn, wenn sie von Lohncheck zu Lohncheck leben und stets dafür beten müssen, dass es keine Entlassungen bei J.C. Penney, Toll Brothers Homes oder Home Depot gibt?
Ein Buch wie ein Faustschlag, falls mensch sich für die Thematik überhaupt interessiert. Die USA sind mir dadurch nicht sympathischer geworden. Aber ich verstehe jetzt, warum dort niemals die Todesstrafe abgeschafft oder schärfere Waffengesetze verabschiedet werden können. Und was ich schon vorher wusste, wurde mir noch mal in aller Deutlichkeit vor Augen geführt: dass die meisten Amerikaner arme Schweine sind. Und dass ihr Opferdasein sie nicht davor bewahrt, Täter zu sein.