Welches Buch lest ihr gerade? (II)

Die Faszination des geschriebenen Wortes - Romane, Stories, Gedichte und Dramatisches. Auch mit Platz für Selbstverfasstes.
Amy
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Sa 27. Okt 2012, 22:07 - Beitrag #541

"Cloud Atlas" von David Mitchell. Bin aber erst auf Seite 160.
Ich muss zugeben, dass der erste Teil mit seinen absichtlichen Rechtschreibfehlern und Abkürzungen echt hart zum Lesen war. Teilweise wusste ich gar nicht mehr, was ich ein paar Zeilen vorher gelesen habe. Spaßig ist was anderes. Der nächste Part war sehr unterhaltsam und hat einen ungemein liebenswerten Charakter (was freu ich mich schon darauf, Ben Whishaw im Kino mit dieser Rolle zu sehen!). Und der dritte Part, in dem ich nun stecke wird langsam richtig spannend. Finde es fast schade, dass die Freude durch den Einstieg gedämpft wurde. Aber was soll man machen.
Das Buch schaffe ich hoffentlich auf meiner baldigen Reise nach Dresden, damit ich dann ins Kino kannen. Freu mich schon!

Lykurg
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So 28. Okt 2012, 10:29 - Beitrag #542

In kurzer Folge, unterbrochen von Inkompetenz der DHL, die den zweiten Band nicht ausliefern wollte:
Suzanne Collins: Die Tribute von Panem (2008-2010)
Siehe Thread.

Traitor
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So 28. Okt 2012, 12:10 - Beitrag #543

Amy, manchmal wünschte ich mir, ich hätte auch deine Konsequenz, vor wichtigen Verfilmungen immer noch die Vorlage nachzuholen.

Die Hugo-Winner-Stories waren von überraschend schwankender Qualität, aber naja, kann auch Geschmackssache sein. Besonders Jack Vance speichere ich mal für zukünftige Beschäftigung ab, er hat (in seinen 2 enthaltenen Geschichten) definitiv geniale Ideen, aber auch einen etwas nervigen Stil und zumindest in der Short-Story-bis-Novelette-Region nicht so richtig die Balance zwischen prägnanter Erzählung und Weltbeschreibung gefunden. Also will ich mal irgendwann sehen, ob bei Romanen die Balance besser ist, und/oder der Stil zu nervig.

Jetzt Terry Pratchett - Dodger, angeblich "for young readers", aber durchaus mit erwachsenen Einschlägen. Es geht um einen jugendlichen "Tosher" (Kanalisation-nach-Wertvollem-Durchsucher) im London des 19. Jahrhunderts, dem bisher schon einige bekannte Figuren über den Weg gelaufen sind.

Ipsissimus
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Mo 29. Okt 2012, 12:28 - Beitrag #544

Lee Smolin
Die Zukunft der Physik
Probleme der Stringtheorie und wie es weitergeht

Deutsche Verlagsanstalt, 2009

Der Smolin ist die Folgelektüre zu Brian Greens Das elegante Universum, das ich weiter oben besprochen habe. Um es vorweg zu nehmen, Smolin ist in diesem direkten Vergleich klarer Punktsieger.

Dies beginnt schon bei der Sprache. Smolin schreibt so, dass ihm ein williges, gebildetes, aber nicht spezialisiertes Publikum problemlos folgen kann. Wo Green als gemutmaßter Nerd nach knapp 100 Seiten völlig die Bodenhaftung verliert und 100% minus ein paar Dutzend aller Menschen komplett hinter sich lässt, schreibt Smolin klar, logisch strukturiert und verständlich, so dass alle seine Argumente nachvollzogen werden können.

Zu Beginn stellt er ausführlich das Vereinheitlichungsprogramm der Physik vor, das er als wesentliche Grundlage aller Fortschritte der Forschung der letzten gut 200 Jahre bewertet. Danach kommt eine ebenso breit wie tief angelegte Darstellung des Stands der Stringtheorien, gefolgt von einer kritischen Hinterfragung.

Seine Kritik umfasst im Wesentlichen vier sachliche und einen soziologischen Aspekt. Die sachlichen Aspekte lauten:

1) niemand weiß, ob die Stringtheorien bzw. die vielkolportierte "Landschaft der Theorien" Ausdruck einer fundamentalen Theorie sind, oder ob sie überhaupt etwas mit dem realen Universum zu tun haben
2) die Stringtheorien sind bisher nicht in der Lage, Voraussagen zu treffen, die durch Experimente verifiziert oder falsifiziert werden könnten
3) keine Version der Stringtheorie konnte bisher Hintergrund-unabhängig formuliert werden, die Stringtheorien inklusive M-Theorie ignorieren also die allgemeine Relativitätstheorie
4) es konnte nicht bewiesen werden, dass die Stringtheorie eine endliche Theorie ist

die soziologische Kritik lautet: die Community der Stringtheoretiker hat ein extremes Gruppendenken entwickelt, in dem alternativen Ideen Ablehnung bis hin zur offenen Verachtung entgegen gebracht wird. Eine Auseinandersetzung mit solchen Ideen oder eine Hinterfragung der Stringtheorie selbst findet im Allgemeinen nicht statt.

Neben der Besprechung des damaligen Standes der Forschung an der Springtheorie - er stellt bei weitem nicht nur die kritischen Aspekte dar, auch die Erfolge werden gewürdigt - stellt Smolin alternative Ansätze vor, die er einer kritischen Hinterfragung unterzieht. Es ist keinesfalls so, dass er "seine" Schleifenquantengravitation in den Himmel lobt, er stellt ihre Verdienste genau so dar wie ihre Schwächen und Grenzen.

Als Quintessenz lässt sich sagen, dass Smolin derzeit keinen überzeugenden Kandidaten für eine fundamentale Theorie sieht: weder die Vereinheitlichung von Gravitation und Teilchenmodell, noch von Kräften und Teilchen, noch die Supersymmetrie als Vereinheitlichung von Bosonen und Fermionen sind in Reichweite.

Für mich ist dieses Buch eine Erlösung, weil darin das latente Unbehagen offen thematisiert wurde, das ich schon seit langem bei der Beschäftigung mit physikalischen Themen empfinde. Viele Freunde hat sich Smolin damit nicht gemacht.

Noch ein kleiner Treppenwitz am Rande: laut Smolin beschäftigt sich Edward Witten seit geraumer Zeit nicht mehr mit der Stringtheorie und hat auch nicht vor, es wieder zu tun. Das ist ungefähr so, als würde der Papst zum Protestantismus konvertieren.

Traitor
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Mo 29. Okt 2012, 13:32 - Beitrag #545


Amy
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Mo 12. Nov 2012, 23:29 - Beitrag #546

Zitat von Traitor:Amy, manchmal wünschte ich mir, ich hätte auch deine Konsequenz, vor wichtigen Verfilmungen immer noch die Vorlage nachzuholen.

Tja :D Habe das Buch auch noch nicht geschafft, aber hoffentlich bis nächste Woche, wenn es dann ins Kino geht. Muss sagen, dass mir von allen bisherigen Geschichten in "Cloud Atlas" vor allem die des Klons Sonmi in einer sehr dystopischen Zukunft sehr sehr gut gefallen hat. Hoffe, dass man ihr im Film viel Platz einräumt. Finde es auf jeden Fall sehr faszinierend, wie Mitchell nicht nur spielerisch in Charakteren, sondern auch Schreibstilen wechselt und wirklich jede Geschichte ihre ganz eigene Geschichte ist.

Traitor
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Mi 14. Nov 2012, 23:08 - Beitrag #547

Erich Kästner - Fabian
Teilweise etwas zu penetrant albern konstruiert, was viele richtig geniale Szenen und Formulierungen aber locker ausgleichen.

Milena
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Mi 14. Nov 2012, 23:33 - Beitrag #548

Wir müssen über Kevin reden

dreiviertel habe ich geschafft, den rest werde ich auch noch schaffen, was es nicht verdaulicher macht, soll heissen, es ist sehr schwere kost.
knallhart wird von der mutter beschrieben, wie sie von anfang an keine liebe ihrem baby/kind schenken konnte und andersherum genauso.
danach spielt sich alles, aber auch alles im rückblick auf ihren sohn Kevin ab, der im alter von 16jahren 10 menschen in seiner schule erschoss.
sehr ehrlich erscheint jegliche aussage der mutter, wie sie es empfunden hat, dieses bündel ausgetragen zu haben, ohne auch nur etwas von zuneigung zu empfinden....
bis zur mitte des buches konnte ich sie gut verstehen, bzw konnte es ansatzweise nachvollziehen, obwohl so etwas mir suspekt blieb.
später dann bekomme ich doch zu spüren, dass eine mutterliebe vorhanden ist, ebenso eine gewisse zuneigung des kindes zur mutter.
das kind zeigt sich von klein auf als ein wesen mit erheblichen störungen, zu wenig wird einer hilfe, einer hinterfragung, eines therapieangebotes nachgegangen...jedes seiner aggressionen wird hingenommen und im rückblick auf sein massaker abgefärbt und erklärt.
wenn sich alle amokläufer so einfach erklären lassen, wie mit kindheitsstörungen bzw -auffälligkeiten, wie beim Kevin, dann könnten alle potentielle täter vorab in obhut genommen werden.
das ist wohl ein kritikpunkt an diesem buch, dass sich sein schulmassaker zu sehr auf seine andersartigkeit von geburt an, am laufenden band erklären lässt.
gesagt bekam ich, dass sich dieses buch auf eine art befragung von inhaftierten frauen in den USA beruft, die eben unfähig waren, ihr kind zu lieben...
nicht ganz verstehe ich dann, warum diese Lionel Shriver eine auszeichnung dessen bekam, wenn es eigentlich eine zusammenstellung von anderen erlebten schicksalen ist.
die dvd gibt es zwischenzeitlich, aber nur auf englisch.

Padreic
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Do 15. Nov 2012, 00:49 - Beitrag #549

@Traitor: Eines meiner Lieblingsbücher. Kann deiner Einschätzung aber durchaus zustimmen.

Ipsissimus
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Do 15. Nov 2012, 13:56 - Beitrag #550

"Wir müssen über Kevin reden" ist schon ein extrem heftiges Buch. Diesen etwas simplen Erklärungsansatz, der darin verfolgt wird, erkläre ich mir mit seiner angelsächsischen Herkunft, die glauben fast alle, wenn sie äußere Vollzüge verstanden haben, hätten sie auch den inneren Gehalt erfasst. Schön, dass du dich auf die Lektüre eingelassen hast, Schatz^^

Lani
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Fr 16. Nov 2012, 14:52 - Beitrag #551

Zuletzt "Er ist wieder da" von Timur Vermes. Naja. Teils war es ganz lustig, meistens aber langweilig und dann auf einmal vorbei und man sitzt da und starrt auf das Buch und wartet auf eine Auflösung. Da hatte ich mehr erwartet.

Seit gestern auch "Der Wolkenatlas" von David Mitchell. Habe jetzt etwas mehr als die Hälfte, müsste also heute Abend fertig sein und dann kann ich theoretisch ins Kino laufen. :) Amy und ich scheinen die Lieblingsparts (bis jetzt) zu teilen. ^^

Ipsissimus
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Mo 19. Nov 2012, 15:02 - Beitrag #552

Joe Bageant
Auf Rehwildjagd mit Jesus
Meldungen aus dem amerikanischen Klassenkampf

Original
Deer Hunting with Jesus: Dispatches from America's Class War
Broadway-Verlag, Reprint (2008)

gelesene Ausgabe
VAT Verlag André Thiele, 1. Auflage (2012)
ins Deutsche übersetzt von Klaus H. Schmidt und Ulrike E. Köstler


der Autor, Joe Begeant, Jahrgang 1946, war ein Malocher aus dem Malocher-Viertel von Winchester, einer kleinen Stadt in Virginia, am "nödlichsten Punkt der Südstaaten". Er schlug sich, wie alle seiner Klasse, den Arbeitern des White Trash vom unteren Rand der Gesellschaft, mit Gelegenheitsarbeiten und auf der Grundlage horrender Schulden Rimbaud-artig durchs Leben, ehe eine glückliche Fügung es ihm ermöglichte, sich Bildung anzueignen, auf deren Grundlage er es als freier Journalist zu einem bescheidenen Wohlstand brachte. Anders als andere hat er allerdings niemals die Klasse vergessen, aus der er stammt, und gegen Ende seines Lebens (er verstarb 2011 an Krebs) kehrte er wieder in seine Heimatstadt zurück und ließ sich im Arbeiterviertel seiner Kindheit und Jugend nieder.

In der "Rehwildjagd" schildert er das Leben der weißen Unterschicht, das Lohnsklaventum, die Verbohrtheit in ihren Köpfen, die Mittel der Realitätsflucht, und verknüpft das mit schonungsloser Aufdeckung der Verlogenheit praktisch aller Topoi und Slogans amerikanischer Gesellschaftspolitik. Dabei kommt die Demokratische Partei beinahe noch schlechter weg als die Repubikanische, er weist bis in feine Details hinein und anhand zahlloser Beispiele nach, dass der Unterschied zwischen beiden aus Sicht der Arbeiterschaft völlig gegenstandslos ist. Diese Beispiele und Analysen machen auch den nur scheinbaren Widerspruch verständlich, weswegen die weiße Unterschicht, gut 45 Millionen Menschen, mit den Republikanern fast zu 100 Prozent diejenige Partei wählt, die am offensichtlichsten gegen die Interessen der Unterschicht arbeitet.

Im folgenden ein längeres, zwei Seiten umfassendes Zitat, das repräsentativ für den inhaltlichen und stilistischen Gehalt des Buches gelten kann.

Malcom X brachte es auf den Punkt, als er sagte, dass der erste Schritt einer erfolgreichen Revolution eine massive Informations- und Bildungsoffensive zugunsten des Volkes beinhalten müsse. Ohne Bildung kann sich nichts verändern. Was meine Leute wirklich brauchen, ist jemand, der einmal ordentlich auf den Tisch schlägt, und laut und verständlich sagt: »Hört mal zu, ihr verdammten Büffelhörner! Wir sind blöder als ein beschissener Hackklotz und hätten dafür sorgen sollen, dass man uns was beibringt, damit wir wenigstens ein bisschen kapieren, wa in dieser beschissenen Welt abläuft.« [...] In Amerika wird aber so etwas niemand laut sagen, weil es zu elitär klingt - zu unamerikanisch und undemokratisch. Je nach Umgebung könnte es auch passieren, dass man Ihnen mal eben die Nase dafür bricht. In einer Pseudodemokratie, die an der beliebten Fiktion festhält, eine Nation der Gleichen zu sein, kann man es sich abschminken davon zu reden, dass wir trotz gleicher verfassungsmäßiger Rechte alles andere als gleich sind. Um von so etwas wie sozioökonomischer Gleichberechtigung auch nur zu träumen, bedarf es echter Bildung und zumindest einer grundsätzlichen Bereitschaft, an sich selbst zu arbeiten.

Warum entpuppen sich die Leute als so informationsresistent? Auch wenn es so aussehen mag, sind wir als Babies nicht auf unsere Köpfe gefallen. Dank unserer Kinder haben die meisten von uns sogar Zugang zum vielgepriesenen Internet. Trotzdem begann meine Begeisterung für die durch das Internet angeblich entstandene Informationsdemokratie zu schwinden, als ich sah, wie ein vor der Zwangsräumung stehender Freund, dem ich empfohlen hatte, den Begriff »Mieterrechte« zu googeln, um mehr über seine Optionen zu erfahren, »rausgeschmissene Miter« eintippte. [...]

Das Leben und der Intellekt der am härtesten arbeitenden Amerikaner verkümmern nicht nur durch die Enge der sozialen Welt, in die sie hineingeboren werden. Ein lokales Netzwerk aus vermögenden Familien, Bankern, Bauunternehmern, Rechtsanwälten und Geschäftsleuten hält sie absichtlich in der Sklaverei, weil es in ihrem Interesse liegt, eine billige, anspruchslose und gefügige Belegschaft zu haben, die hohe Mieten und noch höhere Arztrechnungen bezahlt. Die Mitglieder dieses Netzwerkes investieren in die Entstehung einer solchen Belegschaft - und effektiver kann man Geld nicht aus dem Hut zaubern - indem sie sicherstellen, dass von Investitionen zur Verbesserung der Bildung und Lebensqualität niemand anders profitiert als sie selbst. Städte wie Winchester sind in ihren Worten ein »Investitionsparadies«. Damit meinen sie niedrige Steuern, wenige oder keine örtlichen Verwaltungsvorgaben, keine Gewerkschaften und eine Industrie- und Handelskammer, deren Honoratioren wie eine Herde aufgetakelter Nutten herbeieilen, um die neue gewerkschaftlich nicht organisierte, die Luft verschmutzende Fabrik gebührend willkommen zu heißen. »Scheiß auf die Umweltverschmutzung! Heut wird ordentlich Kohle gemacht und grundstückmäßig geklotzt, Kinder!« Große Firmen, Immobilienmakler, Rechtsanwälte - alle bekommen ein Stück vom Kuchen ab, mit Ausnahme der schlecht ausgebildeten, von Gewerkschaften und Tarifverträgen unbeleckten Deppen, die man als Billiglohnsklaven in der fraglichen Fabrik beschäftigen wird.

Gleichzeitig, und das ist noch entscheidender, kontrolliert dieses Kartell die meisten städtischen Amtsinhaber und Ausschüsse. Auch die Planung der Infrastruktur wird von derselben Clique dominiert. Daraus erwachsen im Gemeinschaftsleben zwangsläufig irrwitzige Szenarios: Als die Bildungsbeauftragten der Stadt zum Beispiel beschlossen, eine Konferenz zu den zukünftigen Stellen- und Beschäftigungsbedürnissen unserer Jugend zu veranstalten, wurde als Hauptredner der Geschäftsführer eines hiesigen Fettverarbeiters, Valley Proteins, Inc., eingeladen, einer riesigen, stinkenden Anlage, die aus den Kadavern überfahrener Tiere und gewerblichen Friteusenfetten unter anderem die klebrige Masse produziert, die man unserem Viehfutter beimischt. Er erhielt stehende Ovationen sowohl von den Abgesandten der Schulbehörde als auch von den Vertretern des örtlichen Gurkenhändler-Mittelstand-Spießbürgertums, und niemand im Event-Raum des als Konferenzort auserkorenen Best Western-Hotels schien das Ironische an der ganzen Konstellation zu bemerken.

Die konservativen Republikaner wiederum machen viel Tamtam um Konzepte wie »persönliche Verantwortung« und ködern damit die Jungs und Mädels hier im Royal Lunch [eine lokale Kneipe]. Die meisten Arbeiterinnen und Arbeiter von Winchester glauben an das Schlagwort »persönliche Verantwortung«. Ihre Mütter und Väter haben sie gelehrt, Verantwortung für ihr Handeln zu übernehmen. Weil sie sich dieser Verantwortung auch stellen, wollen sie keine Almosen von der Regierung. Sie interpretieren die Annahme von Hilfen der öffentlichen Hand als ein Zeichen persönlichen Versagens und moralischer Schwäche. Deswegen sind sie gegen Sozialausgaben, die dafür gedacht sind, Bedürftigen unter die Arme zu greifen. Aber so sehr sie auch auf ihre Selbstständigkeit und Eigenverantwortung pochen, welche realistischen Chancen haben sie denn, wenn sie ihren Lebensunterhalt mit einem Lohn bestreiten, der es ihnen nicht erlaubt, etwas anzusparen? Welche Chancen haben sie denn, wenn sie von Lohncheck zu Lohncheck leben und stets dafür beten müssen, dass es keine Entlassungen bei J.C. Penney, Toll Brothers Homes oder Home Depot gibt?


Ein Buch wie ein Faustschlag, falls mensch sich für die Thematik überhaupt interessiert. Die USA sind mir dadurch nicht sympathischer geworden. Aber ich verstehe jetzt, warum dort niemals die Todesstrafe abgeschafft oder schärfere Waffengesetze verabschiedet werden können. Und was ich schon vorher wusste, wurde mir noch mal in aller Deutlichkeit vor Augen geführt: dass die meisten Amerikaner arme Schweine sind. Und dass ihr Opferdasein sie nicht davor bewahrt, Täter zu sein.

Milena
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Sa 1. Dez 2012, 12:09 - Beitrag #553

Veit
von Thomas Harlan

ein Vater-Sohn konflikt, wenn überhaupt. kurze lektüre, indem hier Thomas seinen vater anklagt, sich freispricht, sich von der seele redet von allem was seine seele bedarf rauszulassen, versucht zu verstehen, warum sein vater so gehandelt hat, wie er gehandelt hat etc.
Sein vater, Veit Harlan, ein berühmter regisseur hat den Jud Süß film (hab ich anscheinend nie gesehen) gedreht und sich darüber hinaus als verbrecher mit verbrechen gegen die menschlichkeit ausgezeichnet.
In dem sinne harte kost dieses buch, wobei manches neu und interessant erscheint und doch wiederum längst gewusst und geahnt, nur weniger so deutlich ausgesprochen....
ich tue mir schwer, mit der geschichte, der deutschen vergangenheit, der nazizeit...irgendwie kann ich nicht mehr, davon zu hören, denn eigentlich hat doch inzwischen jeder begriffen und verstanden, oder?

Ipsissimus
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Mo 3. Dez 2012, 11:01 - Beitrag #554

der "Veit" hatte mich auch sehr beeindruckt, auch wenn ich das Ende als extrem beklemmend empfand

Den Film haben nicht viele unserer Generation gesehen, Schatzel, Aufführung und Besitz sind in Deutschland verboten. Ziemlich problematisch, meines Erachtens, und natürlich hindert das in Zeiten des Internet niemanden mehr, sich eine Kopie zu besorgen.

Lykurg
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Mo 3. Dez 2012, 11:14 - Beitrag #555

@Jud Süß: Der Film ist nicht verboten. Die Murnau-Stiftung, der die Rechte daran gehören, läßt allerdings nur kommentierte Vorführungen zu, und dementsprechend keine Fernsehübertragung. Ein hiesiges Programmkino hatte letztes Jahr eine Vorführung, ich konnte allerdings an dem Tag nicht. - In Österreich und der Schweiz gelten übrigens keine Beschränkungen.

WBlig? Zuletzt

Jostein Gaarder: Der Geschichtenverkäufer (2002)
Ein von Kindheit an unerschöpflicher Erfinder genialer Plots verdient sich seinen guten Lebensunterhalt damit, diese an weniger kreative Autoren zu verkaufen, zunächst gegen Honorar, später gegen Erfolgsbeteiligung. (Zum Verfassen eigener Romane fehlen ihm Ausdauer und Konzentrationsfähigkeit, er hat viel zu viele Einfälle). Dabei spielt Diskretion eine entscheidende Rolle, sowohl für die belieferten Autoren als auch für ihn, der die Ausmaße seines Wirkens gern im Dunkeln lassen will. Nebenher ist er ein sehr promisker Liebhaber, auch dies streng diskret.
Beide Handlungsteile verknüpfen sich leider auf die abgedroschendst-denkbare Weise, da die einzige Frau, die ihm ebenbürtig ist und die er liebt, ihn gewollt schwanger verläßt, ohne daß er ihren Nachnamen erfährt (!?) und er folgerichtig in der Plotlogik gar nicht anders kann, als Jahre später in Italien seiner Tochter über den Weg zu laufen und mit ihr ins Bett zu gehen (die zudem inzwischen mit seinen Geschichten, die sie von ihrer Mutter kennt, erfolgreiche Autorin ist, woran bzw. an einer erzählten Geschichte sie den Umstand erkennen).
Das Ärgerliche an dem Buch ist die absolute Vorhersehbarkeit dieser wesentlich auf Zufällen basierenden Konstruktion, die Überraschung besteht quasi darin, daß es genau so eintritt, wie man es erwartet hat - und der Autor tut noch so, als wäre es eine Plotwende.

José Saramago: Die Stadt der Blinden (1995)
Eine Epidemie völliger Blindheit, das "Weiße Übel" genannt, erfaßt spontan die erzählte Welt und löst die bestehende Gesellschaft auf. Im Zuge der erfolglosen Versuche, die Erblindeten in Quarantäne zu stecken und den Vorgang einzudämmen, kommt es zu Greueln, aber auch unabhängig davon setzt eine allgemeine Vertierung und brutaler Kampf um Lebensgrundlagen ein. Nur eine Frau (namenlos wie alle Figuren des Buches) behält ihre Sehfähigkeit und kann damit, dies verbergend, die Lebensbedingungen ihrer Gruppe wesentlich verbessern. Heftiger Text, sehr lohnend.

noch nicht beendet:
E.T.A. Hoffmann: Lebens-Ansichten des Katers Murr, nebst fragmentarischer Biographie des Kapellmeisters Johannes Kreisler in zufälligen Makulaturblättern (1819/21)
Wie schon der Titel angibt, zwei Romane in einem, bunt durcheinandergemischt, da der Kater seine Memoiren auf den zerfetzten Blättern des anderen Lebenslaufs notiert und der Drucker beides zusammen wiedergegeben hat. Die Katergeschichte ist offenbar eine sehr nette Parodie eines Entwicklungsromans, voller Pathos und Eitelkeit; die Musikergeschichte durch die Fragmentarizität und chaotische Reihenfolge eher verwirrend, es gibt Verbindungen zwischen beiden Texten, aber noch steige ich nicht ganz durch.

e-noon
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Di 4. Dez 2012, 10:16 - Beitrag #556

Gerade bei Jostein Gaarder (für mich = Sofies Welt) hätte ich DEN Plottwist wirklich nicht erwartet, Lykurg :D

Zuletzt gelesen:

Charlotte Brontё: Shirley (erste Hälfte gut, zweite Hälfte grottig).

D.H. Lawrence: Lady Chatterly (sehr phallisch, aus Versehen hatte ich auch die nicht so tolle deutsche Version gekauft, ich sage nur "Sie fuhren nach der Hochzeit in ihren Honigmond").

Andreas Eschbach: Herr aller Dinge (sehr packendes Buch, es geht um Allmacht :D und interessant verarbeitet, allerdings enttäuschend pessimistisches Ende, ich hätte das anders gelöst. Auch merkwürdiger Genremix: Es wird alles auf technisch plausible, teils heute schon machbare Technologien zurückgeführt - bis auf die eine Frau, die in die Vergangenheit blicken kann o_O Science-Fantasy?).

Gerade am Lesen:

Martin Mosebach: Eine lange Nacht. Gerade angefangen, die ersten vierzig Seiten gestern fand ich solide, aber etwas langweilig, ertappte mich aber heute Morgen dabei, wie ich gleich beim Aufwachen daran dachte. Bin mal gespannt.

Ipsissimus
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Di 4. Dez 2012, 10:50 - Beitrag #557

hat Gaarder da den Homo Faber neu erfunden?

Traitor
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Di 4. Dez 2012, 11:04 - Beitrag #558

Klingt sehr danach, nur mit akademischer Neuausrichtung. ;)

Nach dem Fabian (gegen Ende dann auch weniger albern):

Terry Pratchett & Stephen Baxter - The Long Earth
An sich recht konventionelle Parallele-Welten-Geschichte, anscheinend auch als Serienauftakt ausgelegt. Aber gut umgesetzt, insbesondere stärker in die Tiefe gehend hinsichtlich ökologischer, ökonomischer und soziologischer Effekte der Parallelweltkolonisation als beispielswie "Interworld" von Gaiman und Reaves, das ich noch als Vergleichsobjekt in rezenter Erinnerung hatte. Negativ auffällig aber die Betonung aktueller Trends wie Tablets und Wikipedia, auch auf einige Jahrzehnte in die Zukunft hinaus.

Dann:
P.G. Wodehouse - Carry on, Jeeves
Zur Abwechslung anscheinend mal eine Kurzgeschichtensammlung inklusive Prequel.

Lykurg
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Di 4. Dez 2012, 13:05 - Beitrag #559

Ja, ich fühlte mich auch stark an Homo Faber erinnert, den ich aber viel gelungener finde, da sowohl die Ausgangssituation als auch das Ende mir bei Frisch glaubwürdiger vorkamen, wie gesagt hatte ich hier den Eindruck, daß die Konstruktion es von Anfang an nur darauf anlegte (und auch wenn das so ist, sollte der Leser es besser nicht merken^^). Darüber hinaus finde ich den Homo Faber als Typen weitaus interessanter als Gaarders Helden. Ich fühlte mich schon mehrfach versucht, den schwachen Plot als Rekurs auf die Handlung (und das Erstellen von Plots) zu sehen bzw. die am Ende entscheidende Wiederholung von Geschichten auf Homo Faber zu beziehen, aber das würde das Buch auch nicht retten.
"Das Kartengeheimnis" fand ich deutlich besser, e-noon, und "Durch einen Spiegel in einem dunklen Wort" steht schon bereit, mal sehen, wann ich dazu komme.

Milena
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So 9. Dez 2012, 21:11 - Beitrag #560

TAQWACORE
von Michael Muhammad Knight

Ein junger, amerikanischer Kerl, der zum Islam überwechselt.
Das Buch ist dementsprechend freizügig, gut beobachtend und ohne Tabus von ihm selbst be-und geschrieben.
Am Anfang tat ich mir bischen schwer mit dieser lockeren Sprache und dem eigentlichen Erzählten. Aber je mehr ich reinkomme in diese Materie, (Geschichte will ich nicht sagen, da nicht wirklich eine Geschichte zum Tragen kommt, oder doch), aber die Beschreibung einer Punk WG inmitten der USA mit Muslimen war für mich doch sehr interessant und sehr gut
beobachtend beschrieben. Michael, der sich inmitten dieser WG beschreibt, zeichnet sich in einer Suche aus, die Suche nach seinem Lebensweg, seiner Religion.
Ich habe aber erst 50Seiten hinter mir....

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